Zu diesem Buch

London, im Jahr 1901: Edward Moon hat seine besten Zeiten als B�hnenzauberer hinter sich. Seine wahre Vorliebe gilt jedoch dem L�sen von Kriminalf�llen. Gemeinsam mit seinem Assistenten, einem zwei Meter gro�en, schlafwandelnden Giganten, wird er von Scotland Yard berufen, eine bizarre Mordserie aufzukl�ren. Die Ermittlungen f�hren Moon und den Giganten in die Unterwelt des viktorianischen London: ein Reich der Fliegenmenschen, Hellseher und Geheimb�nde … F�r alle Fans von Susanna Clarkes Bestseller �Jonathan Strange und Mr. Norrell� – ein schillerndes Meisterwerk voll schauriger Poesie, Verschw�rungen und wandelnder Toter.

Jonathan Barnes, geboren in der englischen Grafschaft Norfolk, studierte in Oxford Englische Literatur. Er ist freier Kolumnist f�r mehrere britische Tageszeitungen und Magazine. Sein d�ster‐skurriles Deb�t �Das Albtraumreich des Edward Moon� wurde als literarische Sensation gefeiert. Auf Deutsch erschienen von ihm �Das Albtraumreich des Edward Moon� und �Das K�nigshaus der Monster�.

Jonathan Barnes

DAS ALBTRAUMREICH DES EDWARD MOON

ROMAN

Aus dem Englischen von
Biggy Winter

Piper M�nchen Z�rich



F�r meine Eltern

Ich m�chte folgenden Personen danken:
Simon Spanton daf�r, dass er dieses Buch erm�glicht hat; Lisa Rogers und Adam Roberts f�r ihre Anmerkungen und Korrekturen; Bede Rogerson und Ben Mardsen f�r unsch�tzbar wertvolles Probelesen; Tony Fullwood f�r die Pantisokratie; Amelia Wallace daf�r, dass sie alles ver�ndert hat; meinen Eltern f�r ihre Unterst�tzung und Geduld.


EINS

Seien Sie gewarnt. Dieses Buch besitzt keinen wie auch immer gearteten literarischen Wert. Es ist ein gr�ssliches, gewundenes, zweifelhaftes Konvolut von Unsinnigkeiten, bev�lkert von wenig �berzeugenden Charakteren, geschrieben in trockener, �der Prosa, des �fteren l�cherlich und gewollt bizarr. Es ist wohl �berfl�ssig, hier anzumerken, dass Sie keiner Zeile Glauben schenken werden.

Dennoch darf nicht ich allein f�r die M�ngel dieses Werks verantwortlich gemacht werden. Und ich habe gute Gr�nde, Ihnen einen so sensationellen und unwahrscheinlichen Bericht vorzulegen.

Er ist die pure Wahrheit. Jede Einzelheit dessen, was folgt, ist tats�chlich vorgefallen, und ich bin nur der Chronist, der unma�gebliche Boswell, der es aufgezeichnet hat. Sie werden zu diesem Zeitpunkt bereits erkannt haben, dass ich in diesem Metier des Geschichtenerz�hlens unerfahren bin, dass mir die Gewandtheit des Meisters fehlt – dass ich also nicht die F�higkeit besitze, den Leser zu fesseln, mit gestalterischen Kunstgriffen zu bet�ren oder mit sprachlicher Eleganz zu entz�cken.

Doch kann ich Ihnen drei Dinge versprechen: die Ereignisse in tunlichst �bersichtlicher und zweckdienlicher Reihung zu schildern; nichts auszulassen, dem ich Bedeutung zumesse; und Ihnen so offen und ehrlich gegen�berzutreten, wie es mir nur m�glich ist.

Im Gegenzug muss ich Sie ersuchen, ein wenig Verst�ndnis f�r einen Mann zu zeigen, der erst sp�t im Leben zum Erz�hler wurde – f�r einen st�mperhaften Dilettanten, der nur in der Hoffnung, sich nicht unn�tig zu blamieren, seine Zehen in die seichten Wasser der Berichterstattung taucht.

Eine letzte Sache, eine letzte Warnung: im Geiste der Fairness sollte ich noch einr�umen, dass ich Beweggr�nde haben werde, Ihnen mehr als nur eine glatte L�ge aufzutischen.

Was also sollten Sie glauben? Wie sollen Sie Dichtung und Wahrheit auseinanderhalten?

Das �berlasse ich selbstverst�ndlich Ihnen.


ZWEI

Wir beginnen mit Cyril Honeyman.

Honeyman war ein feister, schwerf�lliger Mensch, der andauernd schwitzte und dessen H�ngebacken beim Gehen bebten und flatterten. Nur wenige Seiten trennen uns von seinem Tod.

Also h�ngen Sie Ihr Herz bitte nicht an seine Person; ich habe nicht die Absicht, mich in den Einzelheiten seines Charakters zu verlieren – er ist bedeutungslos, ein Statist, ein wandelnder Leichnam.

Folgendes jedoch sollten Sie erfahren: Cyril Honeyman war Schauspieler – und zwar ein miserabler. Und unter �miserabel� verstehe ich nicht blo� �unf�hig�. Er war hoffnungslos und unverbesserlich schlecht, eine Schande f�r seinen Berufsstand, ein Schmierenkom�diant, der sich den Weg auf die B�hne mit Geld teuer erkauft hatte und die �ppigen Zuwendungen seiner allzu nachsichtigen Eltern vergeudete, indem er sich f�r erkleckliche Summen die Rosinen aus dem jeweiligen Rollenangebot pickte. Zum Zeitpunkt seines Todes bereitete er sich darauf vor, in irgendeiner gl�cklosen Flohquetsche, die auf verzweifelter Geldsuche war, in einer Auff�hrung von Romeo und Julia den Paris zu geben. An jenem gewissen Abend zechte er zusammen mit dem Rest des Ensembles, das zu einem gro�en Teil nahezu ebenso erb�rmlich talentlos war wie er. Er verlie� die Runde gegen Mitternacht mit der Ank�ndigung, nach Hause zu gehen, um an seiner Rolle zu feilen, hatte jedoch in Wahrheit ein ganz anderes Ziel und einen ganz anderen Zeitvertreib im Auge. Er lie� den Theaterdistrikt hinter sich und machte sich mit Entschlossenheit und feuchtklebrigen H�nden zu Fu� auf den fast einst�ndigen Weg in eines der verrufensten Viertel der Stadt. Schon der Gang dorthin erregte ihn; er genoss das unbestimmte Gef�hl des S�ndigens, das er ihm schenkte, den Hauch des Verbotenen.

Eine Ewigkeit lang, so schien ihm, durchschritt er die Stra�en, sog die ungesunde Luft ein und erg�tzte sich am sch�ndlichen Zustand der hier Ans�ssigen. Der Bahnhof war seit Stunden geschlossen, die ehrbaren B�rger hatten sich l�ngst in ihre Betten zur�ckgezogen, und in den Stra�en machten sich Liederlichkeit und Laster breit. Honeyman erschauerte vor s�ndhafter Lust, w�hrend er sich durch dunkle Gassen und G�sschen, die nur vom schwachen, matten Licht der Gaslampen erhellt wurden, weiter in dieses moderne Gomorrha hineinwagte.

Nebel war aufgekommen und verlieh den Stra�en einen unheimlichen, geisterhaften Schein; die Menschen, an denen Honeyman vorbeikam, muteten ihn verschwommen und unwirklich an, nicht leibhaftig – wie Figuren aus einem M�rchenbuch. Sie sprachen ihn an, bettelten um Brot oder Almosen, versprachen schl�pfrige Vergn�gungen oder boten sich selbst feil. Doch Honeyman schritt an ihnen allen vorbei. Zu oft war er schon hier gewesen und mittlerweile abgestumpft und an den Anblick des Menschengeschlechts in seinem elendsten und verderbtesten Zustand gew�hnt. Heute war er auf der Suche nach neueren und ruchloseren Gen�ssen. Er wollte tiefer in die Verworfenheit sinken.

Unter einer Gaslaterne erblickte Honeyman eine Frauengestalt. F�r diese Gegend war sie gut gekleidet – eine schmucke Haube schicklich auf dem Kopf und die geschmeidige Figur betont durch ein Kleid, das ein Erkleckliches mehr enth�llte, als in feineren Kreisen durchgegangen w�re. Ihre Haut mochte einst glatt und porzellanwei� gewesen sein, doch nun war sie vernarbt und von einer leichten Schmutzschicht �berzogen. Die Stadt zeigte kein Erbarmen mit Frauen ihres Schlages.

Honeyman trat n�her an sie heran und l�ftete den Hut zum Gru�e. Selbst im fettigen Ockergelb des Laternenscheins waren ihre Jugend und Sch�nheit un�bersehbar. Ein Freudenm�dchen, gewiss, aber noch nicht lange im Gesch�ft. Eine Dirne, jedoch eine, die noch frisch und unverbraucht war.

�Suchst du was Bestimmtes?�, fragte sie.

Honeyman starrte sie an; sein Blick leckte schamlos an ihrer Gestalt. Gewiss konnte sie nicht �lter als achtzehn sein. Beinah ein Kind noch …

Mit einem listigen Grinsen sagte er: �Mag sein.�

�Willst du wissen, wie viel?�

�Nur weiter�, murmelte er.

�Grade so viel, dass es mir ein Bett f�r heut Nacht verschafft. Mehr verlange ich nicht.�

�Aber meine Liebe! Du bist doch ein zu edles Gesch�pf, um die Zeit hier drau�en zu vertr�deln! Eine Perle unter S�uen!�

Wenn sie sein plumpes Kompliment �berhaupt wahrgenommen hatte, so lie� sie es sich nicht anmerken. �Willst du mitkommen?�

�Denkst du an einen bestimmten Ort?�

�An einen sicheren Platz. Ungest�rt, mehr oder weniger. Damit wir n�here Bekanntschaft schlie�en k�nnen.� Sie tat ihr Bestes, die Kokette zu spielen, und bedachte ihn mit einem schiefen L�cheln. Sie war sichtlich m�de, vermutlich etwas betrunken, und der besch�nigende Vorwand war allzu durchsichtig; aber Honeyman, seine Glut nunmehr entfacht, sah nur das woll�stige Weibchen, die Buhlerin – ein feenhaftes Gesch�pf, das nur darauf wartete, erobert zu werden. Das M�dchen setzte sich in Bewegung, und er folgte ihm, ohne zu denken. Es dauerte nicht lange, und seine Schenkel waren schwei�feucht und klebrig und rieben beim Gehen unerquicklich aneinander. Er verzog das Gesicht – halb Vorfreude, halb Unbehagen.

�Wie weit noch?�

�Nicht weit.�

Eine Zeit lang hasteten sie schweigend dahin, dann blieb das M�dchen stehen und zeigte nach oben. �Dort.�

Honeyman hielt abrupt inne, als das gewaltige Geb�ude aus dem Dunkel vor ihm aufragte – ein in diesem modernen Zeitalter v�llig deplaziert anmutendes Bauwerk, haarstr�ubend in seinem Anachronismus. Umkr�nzt von der Nacht, erhellt nur vom bleichen Licht des Mondes, wirkte es wie ein urzeitliches Monument, ein Steinblock von Stonehenge, herausgerissen aus der Ebene von Salisbury und unver�ndert in die Tiefen der Stadt gerammt.

�Was ist das?�, fl�sterte er.

Sie spuckte auf den B�rgersteig, und Honeyman musste hart an sich halten, um seinen Abscheu �ber ihr vulg�res Benehmen zu verbergen.

�Mach dir dar�ber blo� keine Gedanken. Kommst du mit rauf?�

�Da hinauf? Warum?�

�Der beste Platz daf�r.� Ihr Kunde schien nicht sonderlich �berzeugt, und sie f�gte hinzu: �Es wird dir gefallen. Es ist aufregender so�, schmeichelte sie. �Spannender. Irgendwie gef�hrlicher!�

Er gab sich geschlagen. �Nun, so gehen wir denn�, sagte er.

Als sie ganz nahe herangekommen waren, bemerkte Honeyman, dass der Turm vollst�ndig aus einem glatten, nackten Metall zu bestehen schien, das unheilvoll im Mondlicht gl�nzte. Die Dirne holte einen Schl�ssel hervor, sperrte auf, und sie traten beide ein; Honeyman folgte ihr argw�hnisch, nachdem er das Tor sorgf�ltig hinter sich verriegelt hatte.

In dem schwachen Lichtschein, der von der Stra�e irgendwo in den Turm drang, konnte er eine Wendeltreppe ausmachen, die sich in pechschwarze Finsternis emporwand. Die junge Frau hatte bereits die ersten Stufen in Angriff genommen, und Honeyman konnte ihre Bewegungen �ber sich h�ren. Nerv�s, jedoch angetrieben von der Verhei�ung naher Freuden, begann er emporzusteigen; die Gel�nderstange f�hlte sich kalt unter seiner Hand an, w�hrend er sich unsicher durch die D�sternis die Treppe hochtastete.

Seine F�hrerin dachte nicht daran, ihren Aufstieg zu verlangsamen, und �ber kurz oder lang kam Honeyman au�er Atem und keuchte. Doch es ging weiter – stundenlang, wie es ihm erschien. Und w�hrend er tiefer und immer tiefer in die Dunkelheit gezogen wurde, fing er zur Beruhigung an, ein St�ck Text aus seiner Rolle aufzusagen.

�Unm��ig weint sie �ber Tybalts Tod,
Und darum sprach ich wenig noch von Liebe:
Im Haus der Tr�nen l�chelt Venus nicht.
Nun h�lt’s ihr Vater, w�rd’ger Herr, gef�hrlich,
Dass sie dem Grame soviel Herrschaft gibt,
Und treibt in weiser Vorsicht auf die Heirat,
Um ihrer Tr�nen Str�me zu vertrocknen.�

Die Worte hallten durch den Turm, und pl�tzlich f�hlte Honeyman sich �u�erst unbehaglich und verstummte. Er hatte das Gef�hl, am Rande seines Gesichtsfelds Bewegungen wahrzunehmen und versp�rte die unsinnige Gewissheit, dass die Dirne und er selbst nicht die einzigen Anwesenden hier waren. Er unterdr�ckte ein Schaudern und stapfte weiter.

Das Ende der Treppe war erreicht, und Honeyman betrat einen riesigen Raum, der geradezu strotzte von etwas, das man wohl zu allerletzt hier erwartet h�tte: von verschwenderischem, �berbordendem Luxus. Ein Himmelbett stand ausladend darin, der Tisch daneben bog sich unter einem phantastischen Festmahl, eine Champagnerflasche wartete darauf, ge�ffnet zu werden, und die Luft im Raum duftete s��, wie durchzogen von R�ucherwerk und Parfum. Das einzige Fenster bestand aus zarten klaren Glasscheiben, zusammengehalten von schmalen Streifen aus Blei und zu geometrischen Mustern angeordnet: ein Fenster, das wohl eher einer Kirche oder Kapelle – ja selbst irgendeiner vergessenen Kathedrale – angestanden h�tte, als diesem bedrohlich wirkenden Turm, diesem riesigen Finger des Schicksals, erhoben, wie um Ungl�ck auf die Stadt herabzubeschw�ren.

Honeyman eilte ans Fenster, um die Aussicht zu genie�en. Vor seinen Augen erstreckten sich die Stra�en in alle Richtungen, der Bahnhof kauerte sich dazwischen, und der Glockenturm einer nahen Kirche, der daraus hervorragte, schimmerte im Mondlicht.

Die Frau stand hinter ihm. �Nicht das, was du dir vorgestellt hast?�

�Wie viele M�nner hast du schon hierher gebracht?�

Sie seufzte; ein heiseres, kehliges Ger�usch. �Du bist der erste�, sagte sie und fing an, langsam ihr Kleid aufzukn�pfen, wodurch eine aufreizende Lage Unterr�cke zum Vorschein kam. Vor Erregung biss sich Honeyman heftig auf die Unterlippe.

�Zieh dich aus�, forderte sie.

Er wischte sich �ber die Stirn. �Du bist ungeduldig.�

�Du nicht?� Sie war mit dem Kleid fertig und machte sich an ihrer Unterw�sche zu schaffen.

Honeyman zauderte ein wenig. �Wollen wir zuvor etwas trinken? W�re doch eine Schande, solch famosen Champagner zu vergeuden!�

�Sp�ter.� Sie l�chelte. �Ich hab das Gef�hl, es wird nicht lange dauern.�

Honeyman zuckte die Achseln und gehorchte. Er schn�rte sich die Schuhe auf und schleuderte sie weg, nahm die Krawatte ab und kn�pfte Hemd und Hosen auf. Aber Speckw�lste und unvorhergesehene Hautfalten stellten sich ihm in den Weg, und so brauchte er mit alldem l�nger als sonst; doch schlie�lich stand er nackt vor ihr – ekstatisch und prall geschwollen. Zu seiner Entt�uschung war sie immer noch im Unterrock.

�Ich will, dass du alles ausziehst�, schnauzte er sie an. Dann lenkte er nach einem weiteren unwillk�rlichen Biss auf die Unterlippe ein: �Darf ich helfen?�

Die Frau sch�ttelte den Kopf, als von der Stra�e unten ein tiefes, hallendes, metallisches Dr�hnen heraufdrang; es klang, als h�tte etwas gewaltig Gro�es gegen die Fassade des Turmes geschlagen.

Honeyman versp�rte einen Anflug von Angst. �Was war das?�

Bestrebt, ihn zu beruhigen, sagte sie: �Nichts. Gar nichts. Alles ist, wie’s sein soll.�

Doch da war das Ger�usch wieder, lauter diesmal. Und jetzt �berfiel ihn regelrechte Panik. �Jemand wei�, dass wir da sind!�

So als h�tte sie nur auf ihr Stichwort gewartet, sch�lte sich eine Gestalt aus den Schatten einer Ecke des Raums. �Cyril?�

Er fuhr herum, um sich dem Eindringling zu stellen – einer grimmig dreinblickenden massigen Frau irgendwo in den �u�ersten Regionen ihrer mittleren Jahre. Bei ihrem Anblick schnappte Honeyman nach Luft, und stechende Tr�nen stiegen ihm in die Augenwinkel.

�Mutter?� Er starrte sie voll Entsetzen an. �Mutter? Bist du das?�

Ein Teil von ihm weigerte sich ganz einfach, die Tatsache ihrer Anwesenheit hier hinzunehmen, und er hob verzweifelt die Arme auf der Suche nach einer vern�nftigen Erkl�rung. Der hoffnungsfrohe Gedanke durchfuhr ihn, dass es sich um einen ungew�hnlich fulminanten Mohnrausch handeln k�nnte – in der Tat hatte dies alles viel von der bizarren Logik der Opiumh�hle an sich. Vielleicht war er wieder einmal den Verlockungen irgendeiner fern�stlichen Spelunke erlegen, und bei all dem hier handelte es sich nur um eine erschreckend lebensechte Sinnest�uschung – beunruhigend in ihrer Erfahrung, gewiss, und sehr wahrscheinlich eine bittere Lektion �ber die Gefahren des exzessiven Gebrauches von Rauschmitteln, doch dar�ber hinaus war nichts Gef�hrliches dran, nichts Lebensbedrohliches. Diese ganze Misslichkeit w�rde sehr bald schon vor�bergehen. Ohne Zweifel w�rde er nun jeden Moment zu sich kommen, zusammengesackt auf einem Diwan, vor sich einen beflissenen Orientalen, der ihn wachr�ttelte, um ihm ein, zwei frische Pfeifen anzubieten. Er schloss die Augen, um endlich dieses gr�ssliche Trugbild von sich zu schieben.

Als er sie wieder �ffnete, war seine Mutter immer noch da, die dicken Arme wie Schweineschinken vor der Brust verschr�nkt, ihren erz�rntesten Ausdruck im Gesicht.

�Mutter?�, w�rgte er hervor. �Mutter, was machst du hier?�

�Du warst mir immer eine gro�e Entt�uschung.� Sie sprach fast im Plauderton, so als w�re nichts Ungew�hnliches oder Bemerkenswertes an der Szene. �Dein Vater und ich – wir sind ja an deine Verfehlungen gew�hnt. Aber dies hier …�, – eine vage, ausladende Geb�rde –, �dies ist einfach zu viel!�

�Mutter …!� Die Realit�t trat mit voller Wucht nach ihm, und angesichts einer so unerwarteten und unprovozierten Attacke brachte Honeyman nicht mehr als ein Wimmern zustande. Er machte einen erfolglosen Versuch, mit den H�nden seine Bl��e zu bedecken. �Ich wei� nicht, was ich sagen soll!�

�Besser, du schweigst still.� Sie wandte sich an das Freudenm�dchen. �Ich danke Ihnen, meine Liebe. Sie d�rfen sich jetzt ankleiden.� Das M�dchen knickste und ging unverz�glich daran, sich die R�cke zu ordnen.

Ver�ngstigt und mit aufgerissenen Augen stand Honeyman da und sah zu; von drau�en kam ein weiteres heftiges Dr�hnen. �Du wusstest es?�

Seine Mutter l�chelte.

Wieder vernahm er das Ger�usch drau�en, drehte sich um und blickte aus dem Fenster. Von Entsetzen erf�llt wollte er seinen Augen nicht trauen: Eine Gestalt kletterte den Turm hoch, krabbelte l�rmend die Fassade des Geb�udes empor – h�her und immer h�her, so m�helos wie eine Eidechse an einem Steinwall.

�Mutter!�, winselte Cyril.

Die Gestalt drau�en war nun fast oben, und im n�chsten Augenblick erschien ein Gesicht vor dem Fenster. Es hatte die Umrisse und Gr��e eines menschlichen Antlitzes, doch ansonsten war nichts Menschliches an ihm. Es schien einer ganz eigenen Spezies zu geh�ren; seine fahle Haut war mit ekelhaften grauen Schuppen bedeckt, die in grotesken Falten von Wangen, Lippen, Kinn und Lidern hingen wie hei�e K�seklumpen von einem St�ck Toast. Es war ein Gesicht aus geschmolzenem Kerzenwachs.

Honeyman war wie gel�hmt vor Angst. Die Kreatur grinste ihn b�sartig an und ging daran, mit Bedacht an den zarten Bleistreifen zu zupfen, von denen die Fensterscheiben zusammengehalten wurden.

�Mutter!�, schrie Honeyman. �Es versucht hereinzukommen!�

Sie l�chelte milde. Die Dirne, nunmehr wieder vollst�ndig bekleidet, tauchte an ihrer Seite auf, und gemeinsam versperrten sie Honeymans einzige Fluchtm�glichkeit. Drau�en machte sich das grausige Wesen unbeirrt an den Bleifassungen der Scheiben zu schaffen; denkbar, dass es sich nur um Einbildung handelte, aber Honeyman h�tte geschworen, dass es dabei ein fr�hlich’ Liedchen pfiff …

�Mutter! Mutter, hilf mir!�

Das Ding vor dem Fenster fuhr fort, die Scheiben zu bearbeiten, unbeirrbar in der Absicht, ins Innere des Raumes einzudringen, bis mit einem durch Mark und Bein gehenden Schnarren das Blei wegbrach.

�Sag mir wenigstens, warum!�, schrie Honeyman.

Durch die Risse und Spalten zwischen den Scheiben drang die kalte Nachtluft herein, und er sp�rte, wie sie ihm �ber den Nacken strich und am R�ckgrat hinabrieselte.

Seine Mutter seufzte. �Du hast dich willf�hrig dem Laster ergeben.�

Hinter Honeyman bohrte sich ein knochiger Finger ins Zimmer und riss ein St�ck Glas aus dem Fenster. Die Kreatur lie� es nach drau�en fallen, und es war zu h�ren, wie es unten auf der Stra�e klirrend zersplitterte.

�Du bist wahrhaftig eine Entt�uschung�, stellte sie fest. �Und dabei hatten wir so gro�e Hoffnungen in dich gesetzt.�

�Mutter, bitte! Was immer ich getan habe – wie sehr ich euch auch entt�uscht habe –, es tut mir leid. Es tut mir leid! Es tut mir leid!

Mit unglaublicher Kraft und anscheinend unempfindlich gegen den Schmerz r�umte die Kreatur den Rest des Glases zur Seite und zw�ngte sich ins Innere des Raumes. Voll angespannter Kraft hockte es neben Honeyman und schielte �belwollend hoch zu ihm – eine Vision des B�sen, herausgetreten aus einem Bosch‐Gem�lde, noch feuchtgl�nzend von frischer Farbe.

Wieder l�chelte Mrs Honeyman. �M�ge der Herr dir gn�dig sein.� Sie nickte der Kreatur zu, die folgsam auf die F��e sprang, ihrem Opfer zuleibe r�ckte und es in Richtung des zerbrochenen Fensters zwang.

In Todesangst schrie Honeyman auf. Er versuchte, ein letztes Flehen �ber die Lippen zu bekommen, doch noch ehe er dazu f�hig gewesen w�re, hatte sich das Scheusal bereits auf ihn geworfen und dr�ngte ihn weiter und immer weiter r�ckw�rts, bis Honeyman – nach einem endg�ltigen, tr�gerisch sanften Schub – durch das Fenster verschwand und in die unbarmherzig kalte Nachtluft hinaussegelte.

Er kreischte auf dem ganzen Weg nach unten. Augenblicke sp�ter folgte ihm die Kreatur – sprang aus dem Fenster, krabbelte blitzschnell die Turmfassade hinab und flitzte in die Nacht davon.

Oben hielten sich Mrs Honeyman und die Dirne an den H�nden.

�Gott sei mit dir�, sagte die eine.

�Gott sei mit dir�, echote die andere.

Und so, Hand in Hand, verlie�en sie den Turm und verschwanden in die Stadt.


Cyril Honeyman lebte noch, als man ihn fand; sein Abgang wurde verfolgt von einem Gr�ppchen Neugieriger aus der Umgebung und einem einzelnen Polizeibeamten. Wie die �rtliche �berlieferung wissen will, waren seine letzten Worte auch jene seiner letzten Rolle:

�Oh, ich bin hin! Hast du Erbarmen, �ffne
Die Gruft und lege mich zu Julia!�

Ein Schmierenkom�diant, bis zum letzten Vorhang.


DREI

Gut aussehende M�nner sind mir ein Greuel.

Dies ist in erster Linie Eifersucht, ich wei� – diese instinktive Abneigung, dieser alte, t�richt neidische Groll. Jedes Mal, wenn ich mein schwammiges Fleisch und die pockennarbigen Gesichtsz�ge mit dem glatten, biegsamen, prallen �u�eren wohlgestalteter Jugend vergleiche, wird mir bewusst, wie schmerzlich ich bei dieser Gegen�berstellung ins Hintertreffen gerate. Selbst heute noch bin ich unf�hig, einen h�bschen Jungen zu betrachten, ohne den Wunsch zu versp�ren, seine feinproportionierte Visage zu einer blutigen Masse zu pr�geln.

Und so k�nnen Sie wahrscheinlich kaum ermessen, welche Freude ich versp�rte, als sich zeigte, dass Mister Edward Moon im Begriff war, sein gutes Aussehen zu verlieren.

All dieses seidige Haar, diese vollkommen geformten Backenknochen, dieses unnat�rlich sch�n geschnittene Kinn … Einst war Moon die personifizierte Eleganz gewesen, der fleischgewordene Stil und gute Geschmack. Doch nun, �ber vierzig und, wie ihm selbst d�nkte, mit ungeb�hrlicher Hast seinem sechsten Lebensjahrzehnt entgegen eilend, schien seine Ausstrahlung endlich, endlich zu verblassen. Sein Haar hatte angefangen sich zu lichten, und dem aufmerksamen Beobachter konnten auch die ersten grauen Stellen darin nicht entgehen. Seine Z�ge, die ohnehin schon eine Spur schlaff und faltig wirkten, neigten nun mehr und mehr dazu, in die Breite zu gehen, und hatten als Kunde all seiner S�nden und Laster, die in Form von Furchen und Runzeln �ber sein Antlitz geschrieben stand, ihre ansprechenden Konturen verloren.

In der Nacht, als Cyril Honeyman in seinen degoutanten Tod st�rzte, dinierte Edward Moon anl�sslich einer geselligen Feier in einem �u�erst vornehmen Teil Kensingtons mit Bekannten (nicht �Freunden�, wie Sie gleich bemerken werden, keinesfalls �Freunden�!) und inmitten einiger Spitzen der geschw�tzigsten Kreise der Stadt. Es hatte Zeiten gegeben, da er als Ehrengast unter ihnen gesessen h�tte – sozusagen als Hauptattraktion des Abends –, wogegen sich heutzutage seine Gastgeber damit zu begn�gen schienen, seine Anwesenheit als gegeben hinzunehmen. Offenbar luden sie ihn (so argw�hnte er) lediglich aus alter Gewohnheit ein. Noch ein paar Jahre, und er w�rde �berhaupt von diesen gesellschaftlichen Ereignissen ausgeschlossen sein, sein Name von den G�stelisten gestrichen, er selbst eine Unperson, jemand, der seine Glanzzeit l�ngst hinter sich gelassen hatte.

Moon f�hlte sich alsbald gelangweilt von der Tischgesellschaft, und am Ende des Mahls, als sich die Damen zur�ckzogen, um zu kichern und zu klatschen, und sich die Herren dem Portwein zuwandten und ihre Zigarren anz�ndeten, verlie� er mit einer Entschuldigung den Tisch und schlenderte hinaus in den Garten. Zur�ck lie� er seinen Begleiter, der drinnen wohl allein zurechtkommen sollte.

Moon hatte einst den Ruf genossen, sich erlesen zu kleiden, und seine Garderobe war der jeweiligen Mode stets den einen, entscheidenden Zoll voraus. Doch nun, als sein Schick langsam verebbte, wirkte er zunehmend verloren. In diesem neuen Stil mutete er mehr und mehr wie ein �berbleibsel des vorigen Jahrhunderts an – ein Relikt aus einer fr�heren, verstaubteren �ra. Sein Jackett – gefertigt in der noblen Savile Row – hatte schon bessere Tage gesehen, und die Schuhe, sorgf�ltig handgen�ht und bezahlt mit dem Einkommen mehrerer Monate, waren ausgetreten und ein wenig abgewetzt. Immer noch trug er eine schwarze Armbinde im Gedenken an K�nigin Victoria, obwohl sie diese Welt bereits vor etlichen Monaten verlassen hatte. Er war ein Gesch�pf des alten Jahrhunderts, ganz genau so wie sie.

Das Jahr stand gerade an jenem Wendepunkt, wenn der Winter anf�ngt, seine Faust um die Tage zu ballen, und die B�ume, ihres Laubes und ihrer Farben beraubt, kahl und nackt wie leere Hutst�nder Wache zu stehen scheinen. Die Luft drau�en war klamm und eiskalt. Nebel kroch aus den unteren Regionen der Stadt empor, und im Schein des Lichts, das aus den Fenstern fiel, schimmerte der Garten unter einem seltsamen Glanz. Moon wandte sich vom Haus ab; das hohe, feuchte Gras durchn�sste seine Schuhe, den Saum seiner Hosenbeine und die Str�mpfe darunter. Er z�ndete sich eine Zigarette an und sp�rte erleichtert, wie der Rauch befreiend in seine Lunge str�mte.

�Mister Moon?�

Ein Mann stand hinter ihm, einer der G�ste, ein Amerikaner, dessen Name Moon auf der Stelle wieder entfallen war. Die Zigarrenspitze des Fremden gl�hte teuflisch im Halbdunkel. �Genie�en Sie den Abend?�

Moon �berging die Frage und nahm stattdessen einen Zug aus seiner Zigarette. �Womit kann ich Ihnen zu Diensten sein?�, fragte er schlie�lich, �Mister …�

�Stoddart�, sagte der Amerikaner mit einem schiefen L�cheln.

�Ach ja, nat�rlich.� Glatt und ausdruckslos verzog Moon seinerseits den Mund.

�Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen. Ich gebe Lippincott’s Monthly Magazine heraus. Vielleicht haben Sie schon von uns geh�rt.�

Moon sch�ttelte den Kopf.

�Wir sind ein monatlich erscheinendes Journal – ein nicht ganz unbedeutendes, wenn ich so sagen darf. In der Vergangenheit durften wir Beitr�ge einiger unserer hervorragendsten Schriftsteller bringen. Arthur Doyle verfasste einen Aufsatz �ber …�

�Ein armseliger Schreiberling, Mister Stoddart. Ein St�mper.�

Der Amerikaner versuchte es von neuem. �Oscar Wilde …�

Moon antwortete mit einem ausdrucksvollen G�hnen; er weigerte sich, beeindruckt zu sein. �Wozu erz�hlen Sie mir das alles?�

�Ich m�chte, dass Sie sich diesen Herren zugesellen.�

�Ich bin kein Schriftsteller. Ich habe nichts zu berichten.�

Der Verleger warf seine Zigarre weg und bohrte mit der Schuhspitzen das ins Erdreich, was von ihr �brig war. �Aber selbstverst�ndlich, Sir, das haben Sie! Ich denke ja nicht an etwas Romanhaftes, frei Erfundenes – nein, ich denke hier an etwas unendlich Anspruchsvolleres!�

�Oh?�

�Ich m�chte Ihre Autobiographie. Ein Leben so voll Vielfalt und unb�ndiger Aktivit�t wie das Ihre sollte einen packenden Lesestoff abgeben – ja, es w�rde, stelle ich mir vor, sogar von einigem historischem Wert sein.�

�Von historischem?� Moon verzog das Gesicht. �Von historischem?� Er drehte sich um und schritt auf das Haus zu. �Meine Laufbahn ist noch nicht zu Ende! Ich habe kein Interesse, meinen eigenen Nachruf zu schreiben!�

Stoddart w�hlte seine n�chsten Worte mit �u�erster Sorgfalt. �Wir sollten vielleicht die Blasiertheit beiseite lassen. Wir wissen beide, dass Ihre beste Arbeit bereits weit hinter Ihnen liegt. Seit Clapham sind Ihre Aktien betr�chtlich gefallen.�

�Es gibt immer noch einen letzten gro�en Fall�, widersprach Moon st�rrisch.

Der Mann blieb hartn�ckig. �Sie schulden der �ffentlichkeit die Wahrheit. Unsere Leser m�chten erfahren, wie Sie die Limmeridge‐Park Morde aufgekl�rt haben! Wie Sie den Unhold dingfest machten! Alles �ber das abenteuerliche Unternehmen Smuggler’s Bay! Das sogenannte Wunder von Mile End! Die Ger�chte um Ihre Beteiligung am Crookback‐Streifzug von Achtundachtzig!�

Moon bedachte seinen Inquisitor mit einem misstrauischen Blick. �Ich wusste nicht, dass dieser Vorfall an die �ffentlichkeit gedrungen ist.�

�Nennen Sie Ihren Preis�, entgegnete der Verleger und schlug ihm sogleich eine Summe vor, die selbst heute noch ein kleines Verm�gen darstellen w�rde.

Moon war am Haus angelangt und drehte sich noch einmal zu dem Amerikaner um, der ihm auf den Fersen war. �Meine Vergangenheit steht nicht zum Verkauf, Mister Stoddart. So. Da haben Sie meine Antwort.� Er trat durch die T�r und zog sie hinter sich zu.

Seine Schritte f�hrten ihn geradewegs ins Billardzimmer zu seinem Begleiter, der allein und schweigend dasa�, ein Glas in einer Hand, eine glimmende Zigarre in der anderen, ein breites, gl�ckseliges L�cheln auf dem Gesicht.

Moon wandte sich an den Gastgeber und sagte barsch: �Lassen Sie eine Droschke rufen. Der Schlafwandler und ich wollen gehen.�


Den Schlafwandler einfach nur als einen au�ergew�hnlich hochgewachsenen Mann zu beschreiben, w�rde seinem Andenken wohl nicht gerecht werden. Er war von abnormer, geradezu grotesker K�rpergr��e –, und wenn man dem Geraune, das nach seinem Tod zirkulierte, Glauben schenken will, ma� er sogar einiges �ber acht Fu�. Unter dem Wust dunkelbraunen Haares trug er einen stattlichen, gepflegten Backenbart, und dazu strahlte er eine liebensw�rdige Naivit�t aus, die nur zu leicht �ber seine gewaltigen K�rperkr�fte hinwegt�uschte. Zu all dem kam die Kuriosit�t einer kleinen Schiefertafel, die er zusammen mit einem St�ck Kreide immer mitf�hrte.

Die Fahrt nach Hause verlief in tiefem Stillschweigen. Ersch�pft von den aufreibenden Bem�hungen, angesichts der unbarmherzig vergn�gten Geselligkeit des Abends Haltung zu bewahren, sprach Moon nichts, doch kurz bevor sich die Droschke dem Ende der Fahrt n�herte, griff der Schlafwandler in seinen Ranzen und holte Tafel und Kreide hervor. Mit krakeligen, kindlich hingemalten Buchstaben schrieb er:

WAS HAT ER GEWOLT?

Moon erz�hlte es ihm.

Mit seinem schwerf�lligen, �bergro�en Daumen wischte der Schlafwandler die Frage von der Tafel und schrieb erneut:

WAS HAS DU GESAGT?

Nachdem er die Antwort vernommen hatte, steckte der Riese Tafel und Kreide zur�ck in den Ranzen und schrieb bis zum Morgen nichts mehr.


Edward Moon war Zauberk�nstler von Beruf und Detektiv aus Leidenschaft. Ihm geh�rte ein kleines Theater am Albion Square an der Grenze zum East End, in dem er au�er Sonntag allabendlich zusammen mit dem schweigsamen, unerm�dlichen Schlafwandler als Assistenten auftrat und seine magischen F�higkeiten zur Schau stellte. Nat�rlich waren sie beide mehr als nur simple Variet�‐Zauberer – aber alles zu seiner Zeit.

Ihre B�hnenschau hatte eine unauff�llige, jedoch stetige Aufw�rtsentwicklung genommen. Nach der Premiere in den fr�hen achtziger Jahren und anf�nglich bescheidenen Besucherzahlen durfte Moon es sp�ter, am H�hepunkt seiner Popularit�t, als entt�uschenden Abend betrachten, wenn die Reihen nicht bis auf den letzten Platz gef�llt waren und die H�lfte der Einlassbegehrenden wegen Platzmangels abgewiesen werden musste. Zu jener Zeit hatte die Stadt noch nichts zu Gesicht bekommen, was dem �Theater des Unglaublichen� gleichgekommen w�re. In jeder einzelnen Vorstellung verschmolzen dort Magie, Melodrama, Exotik und ehrliches, atemberaubendes Spektakel. Doch das Publikum kam in erster Linie, um eines zu sehen – das geheimnisvolle Herz der Auff�hrung: die lautlose, r�tselhafte Person des Schlafwandlers.

Das Theater selbst war etwas �ber f�nfzig Jahre alt, ein anspruchsloses Geb�ude mit dem Flair einer kleineren Universit�tskapelle. Ein farbenpr�chtiges handgemaltes Schild bedeckte drau�en die halbe Front und verk�ndete in zw�lf Zoll hohen Lettern:

DAS THEATER DES UNGLAUBLICHEN
zeigt
MISTER EDWARD MOON UND DEN SCHLAFWANDLER
Es erwarten Sie:
STAUNEN! NERVENKITZEL! FASZINATION!

Zur Zeit unseres Berichts hatte das Theater bereits aufgeh�rt, gro� in Mode zu sein, und die Besucher und ihre Begeisterung wurden immer sp�rlicher.

Der Abend nach Moons Auseinandersetzung mit Stoddart verlief typisch: geringer Andrang, eine halbherzige Riege Anstehender drau�en vor dem Eingang – kein Vergleich mit den glorreichen Tagen, als sich um f�nf Uhr nachmittags, volle drei Stunden, bevor der Beginn der Vorstellung angesetzt war, die Schlange von der Theaterkasse weg durch das Foyer bis auf die Stra�e und um den halben Platz bis zum Eingang des �Gew�rgten Bengels�, des Wirtshauses gegen�ber, erstreckte.

Das Innere des Theaters fiel in die schmierige, sch�bige Kategorie – ein Eindruck, der noch verst�rkt wurde durch die allgegenw�rtigen Ger�che nach S�gemehl, Schnaps und verbrauchtem Gas. Ohne Wissen unserer Hauptakteure befand ich mich an jenem Abend selbst dort und hatte in der ersten Reihe Platz genommen; es war bereits die vierte oder f�nfte Gelegenheit, bei der ich mich eingefunden hatte.

W�hrend das Publikum unter l�ngerem Herumtr�deln die Sitze aufsuchte, k�mpfte sich eine zusammengew�rfelte Musikkapelle im Orchestergraben heldenhaft durch ein Potpourri beliebter Gassenhauer, die mir mit ihrem abgedroschenen, derben Einerlei beinahe k�rperliches Unwohlsein verursachten.

Es hatte eine Zeit gegeben, da das Publikum des Theaters s�mtliche Gesellschaftsschichten umfasste – von den Familien der Arbeiterklasse aus der Umgebung bis zu den freien Berufen, von Armenh�uslern bis zu �rzten, von Gottesm�nnern bis zu Gew�rzh�ndlern, ja sogar bei einer unvergesslichen Gelegenheit einen zweitrangigen Spross der k�niglichen Familie. Doch dann, ziemlich pl�tzlich und ohne offensichtlichen Grund, stellten die besseren Kreise ihr Erscheinen ein, wodurch nur mehr die Menschen aus der Umgebung �brigblieben – M��igg�nger, Neugierige, zuf�llig Vorbeikommende, die blo� aus dem Regen ins Trockene wollten, sowie eine wunderliche Mischung aus Leuten, die nur als �Stammkundschaft� bezeichnet werden konnte. Das war eine Schar von fast zwanghaft Passionierten und gesellschaftlichen Au�enseitern, die immer wieder das Theater besuchten, die Vorstellung schon ein Dutzend mal oder �fter gesehen hatten und (ohne Zweifel) jedes Wort der Auftritte auswendig konnten.

Nach au�en hin stets verbindlich, hegte Moon bei sich nichts als Verachtung f�r seine J�nger, trotz des Umstands – oder vielleicht gerade deswegen –, dass sein Auskommen in wachsendem Ma�e von ihnen abhing.

Dankenswerterweise schleppte sich die Kapelle dem Ende ihres kargen Repertoires entgegen, im Saal wurde es dunkel, und begleitet von anhaltendem Trommelwirbel betrat Edward Moon die B�hne. Er verbeugte sich unter dem augenblicklich einsetzenden Applaus. Als er eine geschlossene Front seiner Bewunderer bemerkte, die die gesamte f�nfte und sechste Reihe einnahm, quittierte er ihre Anwesenheit mit einem fl�chtigen Nicken. Und dann setzte er sein routiniertes L�cheln auf und begann seinen ausgeleierten Auftritt mit der Gewissheit, eine zwar kleine, aber wohlgesinnte Zuseherschaft vor sich zu haben.

Sorgf�ltig unterlie� er alles, was Nichteingeweihte stets erwarteten: die billigen Taschenspielertricks der Zunft; im �Theater des Unglaublichen� gab es keine Kaninchen, keine H�te, kein Mischen von Spielkarten, keine bunten T�cher, keine Ringe, Becher oder Kugeln – das, was Moon seinen Zuschauern bot, war weitaus ausgefallener.

Unter dem beif�lligen Gejohle seines Stammpublikums produzierte er aus dem Nichts etwas, das aussah wie eine gro�e, runzlige Galapagos‐Schildkr�te, die flugs zwischen den Zuschauern davonkrabbelte und sich unter aller Augen unerkl�rlicherweise wieder in nichts aufl�ste. Er zog nach und nach s�mtliche B�nde einer Ausgabe Konversationslexika aus seinen offenbar bodenlosen Jackentaschen, selbst dann noch, nachdem einer der Zuschauer best�tigt hatte, dass sie leer waren. Auf seinen Befehl hin erschien in einer magentafarbenen Rauchwolke ein lebender Affe und schnatterte und trieb eine Weile k�stlichen Schabernack.

In Vorbereitung der ersten gr��eren Nummer des Abends w�hlte der Affe einen Herrn aus dem Publikum aus, der auf Moons Anweisung hin – und begleitet von aufmunternden Rufen und Beifall – widerstrebend aufstand und sich auf die B�hne begab. Als der Mann bei ihm angelangt war, schnalzte Moon mit den Fingern, und der Affe machte sich folgsam aus dem Staub.

�W�rden Sie uns wohl Ihren Namen verraten, Sir?�, fragte Moon mit einem Zwinkern in sein wissendes, lachendes Publikum, dem v�llig klar war, dass gleich einer aus seiner Mitte um die Fassung gebracht, benutzt, genarrt oder – noch besser – gedem�tigt und in aller �ffentlichkeit l�cherlich gemacht werden w�rde.

�Gaskin�, antwortete der Mann in einem beflissenen, unangenehmen Tonfall. �Charlie Gaskin.� Er war untersetzt, hatte einen dicken Bauch und trug (untunlicherweise, meiner Meinung nach) den schlaffen, zotteligen Abklatsch eines ausladenden Schnauzbartes unter der Nase.

Moon hielt Gaskin mit seinem Blick fest. �Sie sind Kammerdiener�, sagte er. �Sie sind verehelicht und haben zwei Kinder. Ihr Vater war Herrenschneider und starb letztes Jahr an der Schwindsucht. Zum Abendmahl hatten Sie heute halb verdorbenen R�ucherhering. Sie verbringen viele Ihrer Mu�estunden mit der Erg�nzung und Instandhaltung einer Sammlung alter Uhren.�

Gaskin war sichtlich verbl�fft. �Stimmt alles�, gab er zu.

Aus dem Publikum brandete der Applaus auf. In der dritten Reihe sprang die Ehefrau des Mannes auf und klatschte begeistert.

Gaskin war rot angelaufen und lachte. �Wie, zum Teufel, kommt es, dass Sie das alles wissen?�

Moon zog eine Braue hoch. �Magie�, sagte er.


Ich kann Sie mir jetzt gut vorstellen – begierig und mit gl�nzenden Augen nach einer Erkl�rung lechzend, wie um alles in der Welt Moon diese Dinge wissen konnte; erpicht auf eine eingehende Analyse seiner Denkweise, was Kombination und sich daraus ergebende logische Folgerungen betrifft. Bedauerlicherweise muss ich Sie entt�uschen. Was folgt, kann nicht mehr sein als der vorsichtige Versuch einer Rekonstruktion seiner Vorgehensweise.

So wie ich es sehe, gibt es drei M�glichkeiten.

Die erste w�re, dass dieser unheimliche Durchblick, den Moon hier bekundete, einen simplen Betrug darstellte, dass Gaskin als eingeschleuster Komplize zusammen mit Moon den Text zuvor abgesprochen hatte. Kurz gesagt, dass alles ein billiger Trick war. Was jedoch unmittelbar danach geschah, schlie�t dies als ernsthafte Hypothese wohl mit Sicherheit aus.

Nach der zweiten M�glichkeit w�re unser Held ein au�erordentlich scharfer Beobachter winzigster Einzelheiten gewesen, ein Mann, der sich meisterhaft darauf verstand, daraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen, ein Mann intuitiver Erkenntnisse, die aus demselben Holz geschnitzt waren, an dem sich schon Sir Arthur und Mister Poe versucht hatten. Falls diese letztere Annahme richtig w�re, dann soll folgendes – als eine Weiterf�hrung der wenigen bislang bekannten Tatsachen – der Versuch sein, die Wege seiner Gedanken nun meinerseits zu beschreiten.

Dass der Mann Kammerdiener war, ergab sich ganz klar aus dieser leicht m�rrischen Unterw�rfigkeit, mit der er auftrat; dass er verheiratet war, aus seinem Ehering; dass er Kinder hatte, aus den zwei apfelgro�en Sahnebonbons, die klebrig aus seinen Jackentaschen hervorquollen und die – so k�nnte man annehmen – ein Mitbringsel f�r die Kleinen sein sollten. Dass sein Vater Schneider gewesen war, erkannte man an der Ma�arbeit seines Jacketts, das im Vergleich zur d�rftigen Qualit�t seiner �brigen Kleidung auffallend fein ausgef�hrt war; und dass der bedauernswerte Altvordere von der Schwindsucht dahingerafft worden war, machte der schwache Friedhofsgeruch nach Moder und Krankheit deutlich, der das Jackett immer noch heimt�ckisch umwehte. Ein unverwechselbarer Hauch von Fisch aus Gaskins Mund und dahinter ein unterschwelliger Anflug von F�ulnis machten es leicht, auf das Abendbrot des Mannes zu schlie�en. Die R�ckst�nde des kostspieligen �ls unter seinen Fingern�geln – eines �ls, das nur f�r die Restaurierung alter Uhren benutzt wurde – machte das Erraten seines Lieblingszeitvertreibs so einfach, als h�tte er ihn auf die Stirn t�towiert.

Doch zweifellos werden Sie sagen, dass solche Dinge nur in billigen Romanen und auf der B�hne passieren. Und vielleicht habe ich mich in der Tat von der rei�erischen Geschmacklosigkeit einer gewissen sensationsl�sternen Prosa ungeb�hrlich beeinflussen lassen.

Die dritte M�glichkeit erscheint mir jedoch auf den ersten Blick noch weniger �berzeugend: dass n�mlich Edward Moon �ber Kr�fte verf�gte, die sich jeder Erkl�rung durch die herk�mmliche Wissenschaft entzogen, dass er in Gaskins Seele blicken konnte und verstand, was darin vorging, dass er – so grotesk und aberwitzig es hier in geschriebener Form erscheinen muss – tats�chlich Gedanken lesen konnte.


Der Applaus verklang.

�Mister Gaskin? Ich m�chte Sie etwas fragen.�

�Was Sie wollen!�

�Wann haben Sie die Absicht, es Ihrer Frau zu sagen?�

Ein Schatten legte sich �ber das Gesicht des Mannes. �Ich verstehe nicht.�

Moon richtete seine n�chsten Worte an die nicht zu beneidende Mrs Gaskin, die immer noch mit vor Stolz hochroten Wangen vor ihrem Sitz in der dritten Reihe stand. �Sie haben mein tiefstes Mitgef�hl, Madam�, sagte er. �Es ist mir wahrlich keine Freude, Ihnen mitteilen zu m�ssen, dass Ihr Gatte ein L�gner, ein Betr�ger und ein Ehebrecher ist.�

Ein vereinzeltes, entz�cktes Kichern da und dort aus dem Publikum.

�Seit elf Monaten unterh�lt er intime Beziehungen zu einem K�chenm�dchen. Und seit vierzehn Tagen qu�lt die beiden die Sorge, dass die Aff�re nicht ohne Folgen geblieben sein k�nnte.�

J�he Stille senkte sich auf die Zuschauer, und das L�cheln erstarb auf Mrs Gaskins Lippen. Beschw�rend starrte sie ihren Ehemann an und stotterte Unverst�ndliches vor sich hin.

�Der Teufel soll Sie holen!�, zischte Gaskin und machte Anstalten, sich auf Moon zu st�rzen. Doch noch ehe er dazu ansetzen konnte, glitt eine Gestalt auf die B�hne und schob sich wortlos zwischen die beiden wie ein lebendes Fallgitter, das umgehend zum Schutz des Zauberk�nstlers herabgelassen wurde.

Gaskin blickte auf und erkannte, dass er dem Schlafwandler gegen�berstand; sein Gesicht befand sich ungef�hr auf gleicher H�he mit dem Brustbein des Giganten. Der riesige Mann stand vor Moon so leidenschaftslos und stumm wie eine Steinstatue von der Osterinsel. Angesichts einer so un�berwindlichen Naturkraft, eines so unbeugsamen Widerstands machte sich Gaskin rasch und kleinlaut davon und verlie�, reum�tige Entschuldigungen stammelnd, mit �ngstlicher Hast die B�hne und das Theater, seine Frau auf den Fersen.

Moon gestattete sich w�hrenddessen ein leises L�cheln milder Schadenfreude, bevor er die Arme hochwarf. �Und nun Applaus!�, rief er, �Applaus f�r den bemerkenswertesten Mann der Stadt! Er schl�ft! Und ist zugleich hellwach! Der gefeierte Schlafwandler vom Albion Square! Meine Damen und Herren – der Schlafwandler!�

Das Publikum stie� ein beif�lliges Gebr�ll aus, und der Riese brachte eine steife, verlegene Verbeugung zustande.

Aus den hinteren Reihen schrie jemand: �Die Schwerter!�, und die anderen fielen ein und wiederholten im Chor immerzu dieselben beiden W�rter �Die Schwerter! Die Schwerter!�

Moon gab dem Schlafwandler einen freundschaftlichen Klaps auf den R�cken. �Also komm�, sagte er. �Wir d�rfen unser Publikum nicht entt�uschen.� Halblaut f�gte er hinzu: �Und vielen Dank.�

Moon verschwand hinter der B�hne und kehrte mit einem halben Dutzend garstig aussehender Schwerter (langfristig ausgeliehen von den Coldstream Guards Ihrer Majest�t) zur�ck. Die Kapelle stimmte eine volkst�mliche Melodie an, und auf dieses Zeichen hin entledigte sich der Schlafwandler des Jacketts und pr�sentierte sich in einem makellos wei�en, gest�rkten Hemd.

Im Saal war es m�uschenstill, w�hrend alle auf das warteten, von dem jedermann wusste, dass es kommen musste. Einer der Zuschauer wurde auf die B�hne gebeten, um die Echtheit der Waffen zu pr�fen und zu best�tigen, dass der Schlafwandler keinerlei Schutzpolsterung, ausgekl�gelte mechanische Sicherungsger�te oder sonstige geheime Vorrichtungen am K�rper trug. Als das erledigt war, zog Moon eines der Schwerter und trieb unter den umbarmherzigen Strahlen der Lampen und f�r alle deutlich zu sehen die Klinge tief in die Brust des H�nen. Mit einem nassen, schl�rfenden Ger�usch drang die Spitze ins Fleisch des Mannes, bevor sie Sekunden darauf mit einer Unausweichlichkeit, die einem den Magen zusammenkrampfte, aus der Mitte seines R�ckens wieder zum Vorschein kam. Einige Zuschauer riefen Bravo!, etliche schnappten nach Luft, und andere wieder glotzten wie bet�ubt auf die B�hne. Einige Damen (und mehr als nur ein Herr) fielen in Ohnmacht.

Der n�chste Trommelwirbel und die n�chste Klinge, die Moon diesmal mitten durch den Hals des Schlafwandlers stie�, sodass sie am Nacken wieder austrat. Ohne Unterbrechung fuhr er fort, nacheinander zu den �brigen Schwertern zu greifen, spie�te den Schenkel des Riesen auf, seine H�fte, wiederum die Brust und zuletzt die wohl schmerzempfindlichste Stelle des Mannes, das Gem�cht.

Wie ein gelangweilter Bahnpassagier, der auf den Vorortezug wartet, g�hnte der Schlafwandler nur ausgiebig dazu. W�hrend dieses ganzen Martyriums blieb er ohne Regung, immun gegen all das, was ihm doch die schlimmsten H�llenqualen verursachen sollte. Jeder andere Mann w�re l�ngst gewankt und gefallen, aber der Riese �berstand alles v�llig unbeeindruckt.

Doch das vielleicht Verbl�ffendste an der ganzen Nummer kam zum Schluss. Als Moon die Schwerter aus dem K�rper seines Assistenten zog und sie zur allgemeinen Ansicht hochhielt, sah ich, dass nicht nur auf den Klingen jegliche Spur von Blut fehlte, sondern dar�ber hinaus das Hemd des Schlafwandlers, obwohl nunmehr zerstochen und zerrissen, makellos wei� geblieben war.

Beide M�nner verbeugten sich unter ehrlichem Applaus. Der ber�hmteste Teil ihrer Darbietung hatte keinen Anlass zu Entt�uschung gegeben.

Zweifellos nahm das Publikum an, dass das, was es gesehen hatte, auf irgendeiner optischen T�uschung beruhte. Einige Zuschauer mochten beil�ufige Mutma�ungen angestellt haben �ber Theaterschwerter, Gaukelwerk, listige Taschenspielertricks, pr�parierte Hemden und Spiegel. Doch in welche Richtung ihre Gedankeng�nge auch verliefen, es bezweifelte wohl kaum einer von ihnen, dass das, was er gerade gesehen hatte, nicht mehr gewesen war als ein au�ergew�hnlich beeindruckender Beweis von Fingerfertigkeit. Ein Zauberkunstst�ck f�r den abendlichen Salon. Irgendein Hokuspokus.

Die Wahrheit jedoch war, wie Sie bald sehen werden, weitaus eigent�mlicher.


Der Rest der Vorstellung fand ohne Zwischenfall statt, und das Publikum schien zufrieden den Heimweg anzutreten.

Dennoch war Edward Moon nicht gl�cklich. Schon seit Jahren war er des ewig gleichen allabendlichen Trotts m�de, und nur der Versuch, die Ode des Alltags einigerma�en zu unterbrechen, lie� ihn damit fortfahren. Moon litt an chronischer, gef�hrlicher, t�dlicher Langeweile.

Er hatte die Angewohnheit, das Theater nach der Vorstellung durch die B�hnent�r zu verlassen, um auf der Stra�e noch zu rauchen und zuzusehen, wie sein Publikum sich zerstreute. Zuschauer, die ihn zur Vorstellung begl�ckw�nschen wollten, blieben gelegentlich noch ein bisschen, und er war gar nicht abgeneigt, mit jedem von ihnen noch ein, zwei Minuten lang nichtssagende Worte zu wechseln und sich f�r ihre Komplimente zu bedanken. Eine kleine Schar Bewunderer wartete heute Abend, und er behandelte alle mit gewohnter Artigkeit.

Eine Frau jedoch blieb l�nger als die anderen.

Moon streckte sich und g�hnte. Er war keineswegs m�de, denn w�hrend dieser Wochen und Monate, wenn die Langeweile ihn nicht loslie�, schlief er des �fteren den ganzen Tag hindurch und verbrachte auf diese Weise h�ufig zw�lf oder dreizehn Stunden im Bett. �Ja?�, wandte er sich der Zur�ckgebliebenen zu.

Die Frau schien ein Fremdk�rper auf dem Albion Square. Aristokratisch wirkend, elegant in ihren mittleren Jahren angelangt, schien sie von Reserviertheit und herablassender K�hle umweht. In ihren Jugendtagen, sinnierte Moon, musste sie eine beachtliche Sch�nheit gewesen sein …

�Ich bin Lady Glendinning�, begann sie, �aber Sie d�rfen mich Elizabeth nennen.�

Moon tat sein Bestes, unbeeindruckt zu wirken und setzte eine gleichg�ltige Miene auf. �Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.�

�Ich fand Ihre Vorstellung nicht unam�sant.�

Er hob die Schultern. �Dann danke ich f�r Ihren Besuch.�

�Mister Moon?� Sie unterbrach sich. �Ich habe gewisse Dinge �ber Sie geh�rt.�

Er hob eine Braue. �Und was haben Sie da geh�rt?�

�Dass Sie mehr sind als nur ein Zauberk�nstler. Dass Sie Nachforschungen anstellen.�

�Nachforschungen?�

�Ich habe ein Problem. Ich brauche Ihre Hilfe.�

�Fahren Sie fort.�

Lady Glendinning lie� ein sonderbares Schn�ffeln vernehmen. �Mein Gatte ist tot.�

Moon brachte einen brauchbaren Abklatsch von Mitgef�hl zustande. �Mein Beileid.�

�Er wurde ermordet.�

Dieses letzte, berauschende Wort hatte einen kolossalen Effekt auf den Mann. Allein der Klang lie� es ihm schon zu Kopfe steigen, und nur eine gewaltige Willensanstrengung erm�glichte es ihm, ein breites Grinsen zu unterdr�cken.

�Ich bin entschlossen, daf�r zu sorgen, dass dem Gesetz Gen�ge getan wird�, fuhr sie fort, �aber die Polizei ist mit dem Fall hoffnungslos �berfordert. Ich bin sicher, sie w�rde die Sache nur verpfuschen. Also dachte ich an Sie. Ich muss gestehen, dass ich schon als junges M�dchen eine Bewunderin Ihrer Husarenst�cke war.�

Moons Eitelkeit gewann die Oberhand. �Als junges M�dchen?�, fragte er ungl�ubig. �Wie lange ist das her?�

�Ein paar J�hrchen. Doch eines Tages merkt man, dass man das Alter f�r Detektivgeschichten hinter sich gelassen hat, nicht wahr?�

�Ach ja, tut man das?� Moon selbst hatte das noch nie bemerkt.

Lady Glendinning bedachte ihn mit einem frostigen L�cheln. �Werden Sie mir helfen?�

Moon ergriff die Hand der Lady und k�sste sie. �Madam�, sagte er, �es wird mir eine Ehre sein.�


Edward Moon und der Schlafwandler lebten, so unglaublich es auch klingen mag, in einem Keller unter dem Theater. Sie hatten das ganze Untergeschoss in eine behagliche Wohnung verwandelt, mit dem Ergebnis, dass ihnen nun zwei Schlafzimmer, eine ansehnlich ausgestattete K�che, ein Salon, eine umfangreiche, wenngleich hoffnungslos vollgestopfte Bibliothek und aller sonstige denkbare Komfort der Neuzeit unter dem Theater des Unglaublichen zur Verf�gung standen. Keine Frage, dass ihr Publikum nicht die leiseste Ahnung von dieser unterirdischen H�uslichkeit, diesem versunkenen Zufluchtsort hatte.

Mit dem Versprechen, ihr am n�chsten Tag einen Besuch abzustatten, verabschiedete sich Moon von Lady Glendinning. Die Aussicht auf Abwechslung und Unterbrechung seiner Langeweile vers��te ihm augenblicklich die Laune, und als er seine Schritte in Richtung der strategisch plazierten Rhododendren lenkte, welche die Holzstufen hinab zu seinem Wohnsitz tarnten, lag ein heimliches L�cheln auf seinen Lippen.

Wie �blich sa� Mister Speight auf den Stufen – oder, besser, er lungerte.

Speight war ein heruntergekommener Mensch, ein bettelarmer Mensch, dessen dauernde Anwesenheit Moon nun schon seit Langem duldete, was zur Folge gehabt hatte, dass aus Speight nach und nach so etwas wie ein Inventarst�ck des Hauses geworden war. Ungek�mmt und mit ungepflegtem Bart steckte der Mann in einem schmutzigen Anzug, und eine Batterie leerer Flaschen schmiegte sich traurig an seine F��e. Neben ihm lehnte eine h�lzerne Tafel, die er tagein, tagaus durch die Stra�en der Stadt trug. Die Botschaft, die darauf zu lesen war, begann langsam zu verblassen, aber immer noch stand da in dicker Frakturschrift:

JA, ICH KOMME BALD
OFFENBARUNG 22.20

Moon hatte Speight noch nie gefragt, weshalb er es als notwendig erachtete, diese Ank�ndigung immerzu bei sich zu tragen, oder warum er gerade diese Zeile aus der Heiligen Schrift gew�hlt hatte.

Speight lallte ein undeutliches �Guten Abend�, und Moon antwortete so freundlich wie m�glich und stieg �ber dieses Strandgut des Lebens hinweg zur T�r.

Drinnen wartete neben einem Topf voll duftendem Tee auf dem Herd Mrs Grossmith, ein m�tterliches kleines Frauchen, auf ihn. Sie nahm Moon den Mantel ab und goss ihm eine Tasse Earl Grey ein.

Dankbar lie� Moon sich auf seinen Stuhl sinken. �Ich danke Ihnen.�

Sie zappelte respektvoll um ihn herum. �War die Vorstellung erfolgreich?�

Er nahm ein Schl�ckchen vom Tee. �Ich denke, es hat ihnen gefallen.�

�Ich sehe unseren Mister Speight heute Abend wieder drau�en.�

�Dort wird er auch bleiben bis zum Ende unserer Tage. Das macht Ihnen doch nichts aus, oder?�

Mrs Grossmith schn�ffelte abf�llig. �Ich denke, er ist wohl recht harmlos.�

�Aber Sie sind nicht �berzeugt davon?�

Sie zog die Nase kraus. �Um ganz ehrlich zu sein, Mister Moon … er riecht schlecht.�

�Soll ich ihn hereinbitten? Ihm ein Bad anbieten? Ist es das, was Sie m�chten?�

Mrs Grossmith verdrehte nur die Augen in hilfloser Verzweiflung.

�Wo ist der Schlafwandler?�, erkundigte sich Moon.

�Ich glaube, er ist bereits zu Bett gegangen.�

Moon stand auf und stellte seine noch halbvolle Tasse auf den Tisch. �Dann, denke ich, sollte ich das Gleiche tun. Gute Nacht, Mrs Grossmith.�

�Das �bliche Fr�hst�ck morgen?�

�Bereiten Sie es ein wenig fr�her. Ich werde ausgehen.�

�Irgendwas Interessantes?�, wollte sie sogleich wissen.

�Ein Fall, Mrs Grossmith, ein Fall!�

Er ging hin�ber ins Schlafzimmer, das er mit dem Schlafwandler teilte. Sie schliefen in Stockbetten – Moon oben, der Riese unten.

Der Schlafwandler hatte sich umgezogen und trug nun einen gestreiften Pyjama (bedingt durch seine au�erordentliche K�rpergr��e musste alles f�r ihn nach Ma� angefertigt werden); er sa� aufrecht im Bett, Tafel und Kreide neben sich, vertieft in ein schmales Gedichtb�ndchen.

Zu allem �brigen war er nunmehr auch noch vollkommen kahl.

Jeden Morgen bedeckte er unter Zuhilfenahme von klebrigz�hem Gummiarabikum seinen Sch�del mit einer Per�cke und f�gte den falschen Backenbart hinzu. Und jeden Abend vor dem Zubettgehen nahm er alles wieder ab.

An dieser Stelle m�chte ich ein f�r alle Mal und unmissverst�ndlich klarstellen: Der Schlafwandler war nicht einfach nur kahlk�pfig – er war v�llig haarlos, und die Haut seines ganzen K�rpers wirkte so unnat�rlich glatt wie eine Billardkugel. Es war ein Geheimnis, das er und Moon seit vielen Jahren eifers�chtig h�teten, und selbst Mrs Grossmith hatte es nur durch Zufall herausgefunden.

Als nun Moon das Zimmer betrat, legte der Schlafwandler das Buch zur Seite und blickte mit schl�frigen Augen hoch. Seine Glatze gl�nzte anheimelnd im Halbdunkel.

Moon war kaum f�hig, sein Hochgef�hl in Schranken zu halten. �Wir haben einen neuen Fall!�, rief er.

Der Schlafwandler l�chelte teilnahmslos, doch noch ehe sich sein Freund in Einzelheiten ergehen konnte, legte er sich hin, drehte sich auf die andere Seite, machte die Augen zu und schlief ein.

Seine Tr�ume – ihre Beschaffenheit und ihr genauer Inhalt – entziehen sich bedauerlicherweise meiner Zust�ndigkeit.


VIER

Am n�chsten Morgen wurde der – nach seinem aussichtslosen Kampf gegen die Gesetze der Schwerkraft zerschmetterte und kaum wiederzuerkennende – Leichnam Cyril Honeymans nach einer kleinen, intimen Trauerfeier im Kreise seiner engsten Familie und einiger weniger B�hnenbekanntschaften zur ewigen Ruhe gebettet. W�hrenddessen st�rzte sich Moon blindlings in ein fruchtloses Unterfangen – was verh�ngnisvollerweise sowohl eine verpasste Gelegenheit, als auch eine bedauerliche Verkennung des wahrhaft Wichtigen darstellte und, wie sich herausstellen sollte, zahlreiche unschuldige Opfer kosten w�rde.


Es mag von einigem, wenngleich belanglosem Interesse sein, dass die hervorstechendste aller exzentrischen Neigungen und Schw�chen des Schlafwandlers seine Leidenschaft f�r Milch war – nicht, dass er blo� Geschmack daran gefunden h�tte oder eben eine Vorliebe daf�r zeigte oder sie einfach nur gern trank, nein: es war, wie gesagt, eine wahre Leidenschaft. Er goss sich jeweils ganze Schoppen davon hinter die Binde, lie� sie sich noch lange, nachdem sein Durst gestillt war, durch die Kehle laufen und hatte in all den Jahren bei Moon noch kein einziges Mal auch nur das geringste Verlangen nach irgendeinem anderen Getr�nk gezeigt. Er trank Milch wie unter Zwang, so schien es, war s�chtig danach und konnte scheinbar nicht ohne sie leben.

Daher war es keineswegs ungew�hnlich, dass Moon, als er aus dem Bett stieg und mit morgendlich tr�gen Schritten in die K�che ging, dort bereits den Schlafwandler vorfand, der mit drei gro�en Gl�sern Milch vor sich am K�chentisch sa�. Als Moon eintrat, griff der Riese gerade nach einem der Gl�ser und nahm einen gewaltigen schl�rfenden Schluck, der einen breiten, wei� gesprenkelten Streifen auf seiner Oberlippe hinterlie�. Moon wies mit einer diskreten Handbewegung auf diesen peinlichen Makel hin und verfolgte mit nachsichtigem Blick, wie der Schlafwandler ihn wegwischte.

�Ich gehe in K�rze aus�, sagte er, w�hrend er mit Teekanne und Wasserkessel k�mpfte, �dachte daran, beim Archiv vorbeizuschauen. Mal sehen, was ich in dieser Glendinning‐Sache ausfindig machen kann.�

Der Schlafwandler neigte den Kopf auf eine Weise, die sein mangelndes Interesse �berdeutlich machte.

�M�chtest du den Ort des Verbrechens besichtigen?�

Ein halbherziges Nicken.

�Um zw�lf Uhr mittags werden wir mit Lady Glendinning zusammentreffen. Warte um elf vor dem Tor der Bibliothek auf mich.� Moon bedachte den Freund mit einem strengen Blick. �Und darunter verstehe ich Punkt elf. Dies ist eine sehr wichtige Sache. Wir d�rfen uns nicht versp�ten.�

Der Schlafwandler verdrehte die Augen. Moon goss sich Tee ein und verschwand mit der Tasse im Schlafzimmer.

Bald darauf verlie� er allein das Haus und nahm eine Mietsdroschke ins West End, wo er direkt den Weg zum Lesesaal des Britischen Museums nahm. Trotz der fr�hen Stunde war der Raum bis an die Grenze seiner Aufnahmef�higkeit besucht, denn die meisten Personen reservierten ihren Platz jetzt f�r den ganzen Tag, die zerlesenen W�lzer aufgestapelt vor sich, eifers�chtig geh�tet wie der Goldschatz eines Drachens. Moon erblickte einige andere Stammg�ste und tauschte ein h�fliches, unverbindliches Nicken aus. F�r viele von ihnen war der Lesesaal wie ein zweites Heim; die immerw�hrende Stille und seine beinahe greifbare Atmosph�re der Gelehrsamkeit stellten einen Zufluchtsort vor dem unaufh�rlichen L�rmen der Stadt dar.

Moon trat zu einem der Bibliothekare, einem strohblonden, sauber geschrubbten jungen Mann – einem Neuzugang, frisch von einer der Universit�ten.

�Ich m�chte zur Archivarin.�

Der Bibliothekar sah ihn unsicher an und blickte sich dann vorsichtig um. �Sie haben einen Besuchstermin?�

�Nat�rlich.�

�Dann also rasch. Folgen Sie mir.�

Er f�hrte Moon ans hintere Ende des Saales zu einer kleinen unansehnlichen schwarzen T�r, �ber deren abbl�tternder Farbe Spinnweben hingen. Nachdem er sich �berzeugt hatte, dass niemand hersah, fischte der Bibliothekar einen seltsam geformten Schl�ssel aus der Jackentasche. Moon bemerkte, dass seine Hand zitterte und Schwierigkeiten hatte, das Schl�sselloch zu finden.

�Viel Gl�ck.�

Ohne zu antworten trat Moon ein.

Der junge Mann gab sich gar keine M�he, die Erleichterung auf seinem Gesicht zu unterdr�cken; er schloss umgehend die T�r hinter dem Besucher, und Moon h�rte, wie sich der Schl�ssel knirschend drehte.

Der Raum war so schwach beleuchtet, dass es anfangs schwerfiel zu erkennen, wie weit er sich nach hinten erstreckte. In dem Halbdunkel wirkte er wie eine riesige H�hle – gar nicht wie etwas von Menschenhand Erschaffenes, sondern als h�tte die Erde selbst ihn mit Hilfe der Zeit aus dem Felsen gehauen. Alles war vollgestopft mit Papier; es f�llte die Regale, lag in riesigen Stapeln auf B�cherbrettern und in Gestalt von Folianten, Brosch�ren, Journalen, Manuskripten, Pamphleten, Akten und Zeitungen in F�chern, die fast bis an die Decke wuchsen und dem Raum etwas Schwindelerregendes verliehen.

�Mister Moon! Wie lange ist es schon wieder her!� Die Stimme kam hinter einem Stapel altersfleckiger Zeitungen, vergilbt und mit aufgerollten Ecken, hervor. Der Stapel war so hoch, dass er selbst den Schlafwandler �berragt h�tte. Die Sprecherin trat hervor in den schwachen Lichtschein – ein Weiblein in weit fortgeschrittenem Alter, hinf�llig wirkend und krumm vor Altersschw�che. Mit einem milchwei�en Blick aus leeren Augen sah sie zu Moon hoch.

Ich nehme an, Sie haben schon von der Archivarin geh�rt? Sie kannte jeden Zoll des Archivs, war seine H�terin, sein Schutzgeist, und f�hlte �ber die gesammelten Schriften und Aufzeichnungen den fiebrigen Herzschlag des kriminellen London.

�Sie d�rfen das Licht h�her drehen�, sagte sie. �Ich wei�, einer von uns beiden braucht es.�

Folgsam stellte Moon die Lampe neu ein, und nun war der Raum von einem sanften Schein erhellt.

�Ich nehme an, Sie arbeiten an einem Fall.�

�Jawohl Madam. An der Glendinning‐Sache.�

�Ah. Alles sehr unerfreulich, wie es aussieht. Ich vermute, es war Gift. Welch grausame Methode. Aber werden wir je einen Bericht �ber Ihre Nachforschungen zu lesen bekommen? Ich h�re, Mister Stoddart hat Ihnen ein Angebot gemacht.�

Moon fragte sich, wie sie zu dieser Information gekommen sein konnte. �Das bezweifle ich, Madam.�

�Schade.� Die Archivarin holte ein Taschentuch aus dem �rmel und schneuzte sich, laut und lange. Moon konnte es in ihrer Nase rattern h�ren wie in einem alten Heizkessel, der entl�ftet geh�rt. �Sie langweilen sich�, stellte sie sodann fest.

�Seit mehr als einem Jahr hatte ich keine Gelegenheit, meine F�higkeiten an einem Fall zu beweisen!�

�Seit Clapham�, erg�nzte die Alte trocken.

Moon ignorierte die Bemerkung. �Karnickel aus dem Hut zu zaubern ist f�r einen Mann meiner Begabung keine Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.�

�Ich habe Ihr Theater besucht, Mister Moon. Ich sah dort weder Karnickel noch H�te. Aber ich darf Sie nicht aufhalten, Sie m�ssen einen M�rder fangen. Wollen mal sehen, was ich ausgraben kann.� Unsicher und wackelig tappte sie zwischen den Regalen davon.

Moon lie� sich nahe der T�r auf einem Stuhl nieder, doch kaum hatte er Platz genommen, erschien die Archivarin wieder, ein halbes Dutzend verstaubte W�lzer in H�nden. Fast konnte man meinen, sie h�tte l�ngst schon gewusst, wonach er suchen w�rde, und die entsprechenden B�cher zusammengetragen.

Sie legte ihm eine runzlige Hand auf die Schulter. �Sie haben zwei Stunden. Um elf Uhr erwarte ich einen Besucher.�

�Ich nehme nicht an, dass es Sinn hat, nach seinem Namen zu fragen, oder?�

�Jetzt sollten Sie die Regeln wirklich schon kennen�, antwortete sie ohne die Spur eines L�chelns.

Ern�chtert klappte Moon das erste Buch auf.

�Sagen Sie es mir, wenn Sie noch etwas ben�tigen.�

�Vielen Dank�, murmelte er, schon in seine Lekt�re vertieft.

Die Archivarin t�tschelte ihm sanft und m�tterlich die Schulter und verschwand in den Tiefen des Raumes.


Das �Archiv� – das geheime Magazin der Bibliothek – war ein Ort, von dessen Existenz kaum hundert Personen in ganz England wussten. Edward Moon war stolz darauf, einer von ihnen zu sein.


Als er um Punkt elf Uhr durch die Eisentore des Museums ins Freie trat, war er erleichtert, den Schlafwandler – nunmehr wieder behaart – davor warten zu sehen.

WARST DU ERVOLGREICH?

�Sehr�, sagte Moon und gab sich M�he, angesichts der Rechtschreibung beherrscht zu bleiben.

Sie winkten eine Droschke herbei, und Moon gab dem Kutscher Lady Glendinnings Adresse.

Sie wohnte in einem gro�en Stadthaus in Hampstead, umgeben von einer un�bersehbaren Schar von Dienstboten, K�chen, K�chenm�gden, Butlern, Kutschern und G�rtnern – kurz gesagt, mit all dem menschlichen Drum und Dran der wahrhaft Reichen. Moons Lekt�re am Morgen hatte ergeben, dass dies nur das Londoner Heim der Glendinnings war; ihre Hauptresidenz befand sich drau�en auf dem Lande – in irgendeinem beeindruckenden alten Gem�uer, erf�llt von Widerhall und Staub und im Winter einfach nicht warmzukriegen.

Als sie in Hampstead ankamen, sprang Moon aufgeregt aus der Droschke und �berlie� es dem Schlafwandler, den Kutscher zu entlohnen.

Er hatte auf eine Gelegenheit gehofft, seine �bliche Vorgangsweise als Detektiv anwenden zu k�nnen: das Mordzimmer zu besichtigen, sich die Verd�chtigen einzeln vorzunehmen und zu befragen, danach abzusch�tzen, wer als wahrscheinlicher T�ter in Frage kam, und sie dann alle ins Wohnzimmer zu bitten, um den M�rder zu entlarven. Doch in dem Moment, als sie hier eintrafen, sah er, dass das ganze Haus von Betriebsamkeit erf�llt war – wuselnde, blau uniformierte Polizisten, Scharen von eifrig kritzelnden Reportern und dazu eine Unzahl von neugierigen M��igg�ngern, die sich mit dem Zusehen die Zeit vertrieben.

Lady Glendinning musste Moons Ankunft beobachtet haben. Sie kam ihm �ber die Auffahrt entgegen – das Gew�hl von Presse, Polizei und P�bel tat sich vor ihr auf wie vor der b�sen M�rchenk�nigin, deren fl�chtiger Blick bereits den Tod bedeuten konnte.

Kaum drei Handbreit vor ihm blieb sie stehen. �Sie sind zu sp�t.�

�Wenn Sie mir die Bemerkung erlauben wollen, Madam, wir sind absolut p�nktlich! Dennoch bin ich �berrascht von all dieser Gesch�ftigkeit. Ich bete zum Himmel, dass die Polizisten nicht allzuviel vom Tatort zertrampelt haben!�

�Nein, ich meine: Sie kommen zu sp�t! Ihr Pech, Mister Moon. Es ist vorbei.�

�Vorbei?�, wiederholte Moon, aber die Lady hatte bereits kehrt gemacht und war auf dem Weg zum Haus.

Der Schlafwandler runzelte die Stirn.

In einiger Entfernung war das gewiss unpassendste Ger�usch f�r den Schauplatz eines Mordes zu vernehmen: ein heiseres Lachen mit etwas schmutzigem Beiklang. Moon sp�rte, wie ihn der H�ne an seiner Seite sacht anstie�, hob den Blick und sah eine wohlbekannte Gestalt unter freudigem Winken herankommen. �Mister Moon!� Der Mann trat n�her, strahlend �ber das ganze Gesicht und mit ausgestreckter Hand. �Edward!�

Moon zeigte wenig Begeisterung. �Guten Morgen, Inspektor.�

Beh�big, rotwangig, mit wild ins Kraut schie�enden Koteletten und wie immer in �berw�ltigend aufger�umter Stimmung, erinnerte Inspektor Merryweather von der Kriminalpolizei in Art und Aussehen stark an Mister Dickens’ Ghost of Christmas Past. �Scheint fast, als h�tten Sie den Zug vers�umt, alter Knabe�, gluckste er. �Aber wer zuerst kommt, und so weiter!�

�Wie bitte?�

�Die Akte ist geschlossen, f�rchte ich! Der Fall ist gel�st! Wir haben den M�rder in Gewahrsam!�

Moon bedachte ihn mit einem skeptischen Blick. �Sind Sie sicher? Es w�re nicht das erste Mal, dass Sie den Falschen festnehmen.�

�Wie wahr, wie wahr, und sagen Sie nicht, dass ich es bestreite! Aber hier nicht. Eine einfache Sache. Kaum begonnen, schon zu Ende. Wir haben ein Gest�ndnis.�

Moons Entt�uschung war augenf�llig. �Oh.�

Der Schlafwandler gab ihm einen leisen Klaps auf den R�cken, und Moons Miene erhellte sich daraufhin ein wenig. �Darf ich fragen … wer es gewesen ist?�

Merryweather lachte wieder – der n�chste dr�hnende Ausbruch. �Sagen wir einfach� – er kniff ein Auge zusammen –, �es war jemand aus der Dienerschaft.�

Eine Gruppe schnatternder Polizisten in Uniform schritt vorbei, die einen hochgewachsenen, dunkel gekleideten Mann in Handschellen abf�hrten. Der Festgenommene hatte einen unsteten Blick und murmelte bitterb�se Unverst�ndliches vor sich hin. Als er am Inspektor vorbeikam, spuckte er theatralisch auf den Boden.

Merryweather antwortete mit einem fr�hlichen Winken und klopfte Moon auf die Schulter. �Ich w�rde mir keine Gedanken wegen des Falles machen. Glauben Sie mir, die Sache war Ihrer nicht w�rdig. Zu allt�glich. Vorhersehbar. Wie sagt man so sch�n – ›Schema F‹.�

�Ich langweile mich, Inspektor! Ich brauche einen Zeitvertreib!�

�Die Jungs und ich, wir gehen zusammen ins Wirtshaus, um zu feiern. Kommen Sie doch mit!�

Moon zog die Nase hoch. �Heute nicht. Wir haben Vorstellung.�

�Nun denn – so hoffe ich auf ein baldiges Wiedersehen.�

�Vielleicht.�

Merryweather warf einen nerv�sen Seitenblick auf den Schlafwandler. �Empfehle mich.�

Der Riese hob gr��end die Hand, und der Inspektor stapfte merklich erleichtert zur�ck zu seinen M�nnern.

�Wir sollten gehen�, sagte Moon tr�bsinnig. �Wir sind hier �berfl�ssig.�

Schweigend und in Gedanken versunken machten sie sich auf den Weg zur�ck zum Theater.

�Ich glaube, es ist vorbei�, stellte er schlie�lich fest. �Einst hatte ich ein wenig Talent, aber ich merke, es hat sich verfl�chtigt.�

Der Riese tat sein Bestes, ihn aufzumuntern. Er holte seine Tafel hervor:

BLOS PECH

�Vielleicht ist meine Zeit eben vorbei. Das ist alles. Ich bin eingerostet.�

Der Schlafwandler antwortete mit einem grimmigen L�cheln.

�Ich brauche etwas … etwas … Abwegiges! Eine Schreckensgeschichte! Wie in den alten Tagen.�

Ein pl�tzlicher Windsto� trieb ein Gest�ber von Papierfetzen heran und wickelte ein einzelnes Blatt der gestrigen Gazette um Moons Schuhe. Die Riesenschlagzeile darauf schrie ihm entgegen:

Gr�sslicher Mord! Vorstadtmime von Turm geschleudert!
Polizei steht vor einem R�tsel!

Doch er ging so sehr auf in seiner Innenschau, dass er die Botschaft auf dem Blatt gar nicht zur Kenntnis nahm. Er zerkn�llte das St�ck Papier zu einem Ball, warf ihn �ber die Schulter und trottete ungl�cklich weiter.


F�NF

Edward Moon langweilte sich.

Seit Stunden rauchte er nun schon, ausgestreckt auf dem Sofa in einer Ecke des Herrenzimmers, eingeh�llt vom Tabakrauch, der den ganzen Raum erf�llte – dick und atemraubend wie der gelbe Londoner Nebel. Er g�hnte und streckte tr�ge einen Arm nach der n�chsten Zigarette aus.

Mrs Grossmith schusselte ins Zimmer, nicht mehr als eine verschwommene Silhouette inmitten des Miefs. �Mister Moon?�, rief sie n�rgelnd, worauf er schloss, dass sie in gewohnt missbilligender K�rperhaltung und die H�nde in die H�ften gestemmt stehengeblieben war. Die Luft war zwar zu undurchdringlich, um sich dessen ganz sicher zu sein, aber Moon hielt es f�r das Wahrscheinlichste. �Ist Ihnen schon wieder langweilig?�

�Ich f�rchte, ja.� Er z�ndete die Zigarette an und lie� sich wieder zur�cksinken.

�Sie kriegen Langeweile�, sagte seine Haush�lterin streng, �wie andere M�nner den Tripper!�

Was Moon mit einem schmallippigen L�cheln quittierte. �Sehr witzig.�

�Sie m�ssen das Rauchen hier drinnen einstellen, Mister Moon! In Anbetracht des Umstands, dass wir in einer Wohnung ohne Fenster leben, weigere ich mich, es noch eine Minute l�nger zu ertragen! Sie vergiften uns ja noch alle, wenn Sie so weitermachen! Sie sind eine wahre Gefahr f�r Leib und Leben!�

Ihr Dienstherr blies einen langen grauen Rauchschwall vor sich her. �Sie sind nicht die erste Person, von der ich das zu h�ren bekomme. Aber ich muss zugeben, aus Ihrem Munde schmerzt es ein wenig mehr.�

�Seien Sie doch vern�nftig.�

Kleinlaut dr�ckte er den Rest der Zigarette aus und stand auf. �Sie haben ja zweifellos recht. Au�erdem denke ich, es ist wohl die Langeweile selbst, die mich an�det.�

Mrs Grossmith schnaubte abf�llig. �Sie sind unm�glich, wenn Sie in dieser Stimmung sind.�

�Und Sie sind eine Heilige, weil Sie es mit mir aushalten.�

�K�nnen Sie nicht ausgehen? Machen Sie doch einen Spaziergang! Zum Frische‐Luft‐Schnappen!�

Moon schien nicht �berzeugt, aber Mrs Grossmith blieb fest: �Es w�rde Ihnen bestimmt gut tun! Diese Atmosph�re hier kann einfach nicht gesund sein!� Sie unterstrich ihre Worte mit einem rasselnden, melodramatischen Hustenanfall.

�Vielleicht gehe ich f�r eine Weile aus.�

Mrs Grossmith klang vers�hnlich: �Sie k�nnen nicht erwarten, dass Ihnen jede Woche irgendeinen geheimnisvollen Kriminalfall beschert.�

�Ach nein?� Moon wirkte entt�uscht, wie ein Kind zu Weihnachten, wenn es im Strumpf nur einen Groschen und eine angeschimmelte Orange findet. �Wissen Sie, ich sehne mich nach einer Welt, in der das Verbrechen so allt�glich ist, dass ich immer etwas zu tun habe.�

�Ein seltsamer Wunsch.�

Er seufzte. �Nicht, dass die B�sewichter heutzutage das w�ren, was sie einmal waren. Die �ra des wahrhaft gro�en Verbrechers ist Vergangenheit. Seit Barabbas … Mittelm��igkeit, Mrs Grossmith, Mittelm��igkeit, so weit das Auge reicht. Ein Beispiel dazu: erinnern Sie sich an den R�uber, den der Schlafwandler und ich vor etwa zwei Jahren jagten? Der Mann, der geplant hatte, sich in die Bank von England durchzugraben, und stattdessen im Abwasserkanal landete?�

�Ich erinnere mich an ihn, Sir.�

�Sein Name ist mir im Moment entfallen. Wissen Sie ihn noch?�

�Ich f�rchte, nein.�

�Sehen Sie? Zu vergessen! Alle, ohne Ausnahme – zu vergessen!�

Mrs Grossmith zwang ein L�cheln auf ihre Lippen. �Die Langeweile wird vorbeigehen, Sir. Das tut sie doch immer.�

�Ja�, fl�sterte Moon in sich hinein. �Ich kenne das Mittel dagegen.�

�Also machen Sie einen Spaziergang?�

�Ganz recht. Einen Spaziergang.�

Moon ging aus dem Zimmer, und Mrs Grossmith h�rte, wie er durchs Haus eilte.

Hurtig lief er die versteckte Treppe hoch, vorbei an den Rhododendren und hinaus auf die Stra�e.

Der Schlafwandler schlenderte geruhsam von der K�che her�ber, einen gewaltigen Krug voll Milch in der Rechten. Er sah die Haush�lterin an und machte eine fragende Geb�rde mit der freien Hand.

�Wohin er gegangen ist?�, fragte sie. �Ist es das, was Sie meinen?�

Der Riese nickte ernst.

Sie seufzte. �Ich glaube, die Antwort darauf kennen wir beide.�

Der Schlafwandler erwiderte nichts darauf; mit gesenktem Kopf und den Milchkrug fest an die Brust gepresst, kehrte er um und ging schwerm�tig zur�ck in die K�che.


Nachdem er mit Mister Speight – der sich in einer �berraschend bequem aussehenden Lage in eine Ecke der Treppe gezw�ngt hatte – im Vor�bergehen ein paar belanglose Worte gewechselt hatte, verlie� der Prinzipal sein Theater und lenkte seine Schritte in ein verrufenes Viertel der Stadt, das ihm und all jenen, die seine betr�blichen Vorlieben teilten, nur allzu gel�ufig war. Moon hatte keine Lust, eine Droschke zu rufen; er kannte den Weg in‐ und auswendig und legte ihn zu Fu� in weniger als einer Stunde zur�ck. Diese Zeit ben�tigte er zudem, um sich auf das Kommende vorzubereiten. Und wie versunken er in diese Aufgabe war, kann man daran ermessen, dass es ihm v�llig entging, wie fachkundig er w�hrend der letzten f�nfzehn Minuten seines Fu�marsches verfolgt wurde.

Sein Ziel war ein abgewohntes Mietshaus am Ende einer Gasse, ein paar Minuten Gehzeit von der Goodge Street entfernt; es lag in jener unansehnlichen Gegend der Stadt, die etwa ein Jahrzehnt sp�ter als �Fitzrovia� bekannt werden sollte. Die Fensterl�den des Hauses waren zwar fest verschlossen, an ihren R�ndern drang jedoch ein verhei�ungsvoller Lichtschein hervor.

Moon sah sich rasch um, vergewisserte sich, dass er allein war, und klopfte dann sechsmal in einem genau vorgegebenen Rhythmus an die T�r. W�hrend des Wartens war er sicher, dass ihn von der anderen Seite des Einganges unsichtbare Augen beobachteten, und damit �berfiel ihn die zutiefst unbehagliche �berzeugung, dass er irgendwo im Inneren des Hauses Gegenstand pr�fender Blicke und begleitender Debatten war.

Das stellte jenen Teil des Abenteuers dar, der ihm stets am meisten zuwider war: allein hier vor der verschlossenen T�r herumzustehen, bestrebt, in dieser menschenleeren Stra�e m�glichst unverd�chtig zu wirken; kribbelig vor Scham, mit einem Gef�hl der Wehrlosigkeit und gepackt von der irrationalen Angst, dass ihm dank eines verr�ckten Zufalls sogleich jemand begegnen mochte, den er kannte – ein Freund vielleicht, ein alter Bekannter, der fragen w�rde, was ihn, Moon, hierherf�hrte – der wissen wollte, wieso er sich in einem G�sschen in diesem reichlich zweifelhaften Stadtteil herumtrieb. Schlimmer noch: dieser hypothetische Jemand aus seinem Freundeskreis mochte aus dem gleichen Grunde wie er selbst hergekommen sein – was wohl sicherstellen m�sste, dass sich eine solche Begegnung unter die peinlichsten ihrer beiden Leben reihen w�rde. Dies war eine jener �u�erst seltenen Gelegenheiten, zu denen Moon sich f�hlte wie ein begossener Pudel. Ich schlage vor, wir kosten den Moment bis zur Neige aus.

Endlich �ffnete sich die T�r, und eine unf�rmig dicke Frau stand vor ihm; sie war umflossen von einem matten gelben Lichtschein und verstr�mte billige Parfumd�mpfe. Ihre titanische K�rperf�lle vertraute sie der st�tzenden Kraft eines festen Gehstockes an. �Mister Gray!� Sie strahlte. �Wie lange das schon wieder her ist!�

Verlegen trat Moon von einem Fu� auf den anderen.

�Wieder diese elende Eint�nigkeit des Alltags?�

Er nickte versch�mt, und die Frau stie� ein fettig blubberndes Lachen aus. Sie humpelte voran, zog Moon �ber die Schwelle und schloss die T�r hinter ihm.

Drinnen war die Luft von D�ften nach R�ucherwerk und Verlangen geschw�ngert. Moon betrat einen gro�en, verschwenderisch m�blierten und herausgeputzten Empfangssalon, der sich geradezu bog unter den Fr�chten unmoralischen Reichtums. Er durchquerte ihn rasch und lie� sich in einem von einem halben Dutzend �ppig gepolsterter Sessel nieder. Ab jetzt kannte er den Platz und den Ablauf der Ereignisse nur allzu gut.

Die Frau sah ihn mit einem unanst�ndigen Grinsen an. �Wir haben heute eine Neue reinbekommen.�


Von allen Bordellen Londons war jenes von Mrs Puggsley das bemerkenswerteste, denn es sorgte f�r die Zufriedenstellung eines ausgew�hlten und kritischen Kundenstocks. Die M�nner, die Mrs Puggsleys Etablissement besuchten, erwarteten eine Betreuung, die kein anderes der einschl�gigen H�user der Stadt bieten konnte. Ihre Kunden hatten besonders ausgefallene Neigungen – Vorlieben, die dem unschuldigen, noch nicht abgestumpften Leser geschmacklos, ja selbst absto�end erscheinen m�gen. Sagen Sie also nicht, ich h�tte Sie nicht gewarnt!


�Hat sie auch einen Namen?�

�Mina�, schnurrte Mrs Puggsley. �Sie wird Ihnen gefallen.�

�Und Lucy? Mary? Wo sind die beiden heute abend?�

�Sie widmen sich im Moment anderen G�sten. Warum wollen Sie unsere Mina nicht erst einmal kennenlernen, Mister Gray? Ich verspreche Ihnen, Sie werden nicht entt�uscht sein!�

Moon wand sich innerlich, als Mrs Puggsley schon wieder sein Pseudonym gebrauchte. Er war sicher, sie hatte seit langem erkannt, dass es ein falscher Name war, und seine dunkelsten Stunden verdankte er der Bef�rchtung, sie k�nnte irgendwie �ber seine wahre Identit�t gestolpert sein. Gelegentlich fragte er sich, ob sie �Gray� benutzte, um ihn zu necken und zum Besten zu halten – um ihm auf diese Weise zu verstehen zu geben, dass sie �ber ihn Bescheid wusste.

Er nickte. �Also gut. Lassen Sie sehen.�

Madame Puggsley machte eine schleimige Verbeugung. �Schalten Sie ab, Mister Gray. Entspannen Sie sich. Gleich werden sich Ihre schw�rzesten Tr�ume vor Ihren Augen mit Leben erf�llen.�

Es pochte sechsmal leise an der Eingangst�r – es war derselbe Code, den Moon selbst nur Minuten zuvor verwendet hatte.

�Entschuldigen Sie mich.� Mrs Puggsley watschelte durch den Raum zur T�r, lugte durch ein kleines Loch in Augenh�he und lie� ein gluckerndes Kichern h�ren. �Es ist Pluck!�

Sie schloss die T�r auf und begr��te ihren neuen Klienten, einen kleinen, wohlgen�hrten, glatzk�pfigen Mann mit scheu�lichen Pockennarben. In einer weltgewandten Geste des Bekanntmachens breitete die Madame ihre Arme aus. �Mister Gray, darf ich Ihnen Mister Pluck vorstellen?�

Einigerma�en argw�hnisch sch�ttelten die beiden M�nner einander die Hand. Plucks Griff war schwei�nass und kraftlos, und Moon konnte kaum dem Bed�rfnis widerstehen, die feuchten Ausd�nstungen des Fremden von seiner Handfl�che zu wischen. �Sehr erfreut�, sagte er s�uerlich.

�Meine Herren, plaudern Sie doch ein wenig miteinander. In K�rze werde ich mit einem St�ckchen vom Paradies wiederkommen.� Mit einer letzten Verbeugung und einem prallen Schwenk entschwand sie aus dem Salon in die inneren Gefilde des Hauses. Pluck zog sich einen Sessel heran.

�Gef�llt mir sehr hier�, gestand er Moon. �Komme, sooft ich kann. Sooft ich es mir leisten kann, Sie verstehen. Wissen Sie, bevor ich dieses Haus entdeckte, dachte ich, niemand auf der Welt w�rde die gleichen Gef�hle haben wie ich. Ich dachte, ich w�re krank! Sie verstehen, Mister Gray? Ich dachte, ich w�re abnormal!�

�Tats�chlich�, bemerkte Moon vage.

�Ganz klar, ich wusste, Sie w�rden mich verstehen. Wahrscheinlich haben wir sehr viel gemeinsam. Diese … Liebhaberei etwa. Sagen Sie, wann haben Sie erkannt, dass Sie in diese unsere … Richtung tendieren?�

Moon, der keine Lust hatte, die Frage des Mannes mit einer Antwort aufzuwerten, zog eine Zigarette aus der Jackentasche und z�ndete sie an. Aus H�flichkeit hielt er seinem Gegen�ber das Zigarettenetui hin. Pluck akzeptierte freudig, und ein paar Augenblicke lang gab es nichts anderes als Rauch und begl�ckendes Schweigen.

�Ich h�re, es gibt ein neues M�dchen�, sagte Pluck hinter den Rauchwolken. �Irgendeine Ahnung, wie sie so ist?�

�Nicht die geringste.�

�Wie es aussieht, werden wir es wohl gleich herausfinden.� Pluck brachte etwas hervor, was entfernt nach einem leichten Lachen klang – ein unangenehmes Ger�usch zwischen �ngstlichkeit und Begierde.

Erfreulicherweise kehrte Madame Puggsley in dieser Sekunde zur�ck; sie rollte mit der ihr eigenen elefantenartigen Grazie in den Salon, im Schlepptau ein h�chst bemerkenswertes Gesch�pf, das nichtsdestoweniger auf den ersten Blick recht unauff�llig wirkte: von h�chst anziehendem �u�eren (ein Mindesterfordernis in Mrs Puggsleys M�dchenstall), dazu ein gef�llig ebenm��iges Gesicht, glatte Haut und Gr�bchen in den Wangen. Sie war in eine schleierd�nne wei�e Robe gekleidet, die in der Taille von einer d�nnen Kordel zusammengehalten wurde – eng genug, um ihre nat�rlichen Rundungen zur Geltung zu bringen. Doch was sie aus der Masse �hnlich h�bscher, aber nicht aus dem Rahmen fallender junger Damen hervorhob, denen man jeden Tag auf der Stra�e begegnete, das war ein monstr�ser, buschiger schwarzer Bart.

�Ist der echt?�, fragte Pluck mit ehrf�rchtig ged�mpfter Stimme.

Madame Puggsley tat schockiert. �Mister Pluck! Wof�r halten Sie mich?�

�Darf ich ihn ber�hren?�

Mrs Puggsley wandte sich an das M�dchen. �Mina?�

Sie nickte und kicherte mit routinierter, etwas alberner Koketterie.

Pluck st�rzte herbei, streckte die Hand aus und strich, in fast besinnungslose Gl�ckseligkeit versetzt, mit halb geschlossenen Augen �ber ihre Gesichtsbehaarung. �Oh, bist du sch�n�, murmelte er. Mina dankte ihm mit einem professionellen L�cheln, welches verriet, dass sie diese Art von Kompliment gewohnt war.

Moon g�hnte. �Sonst noch etwas?�

�Sie m�chten stets mehr, nicht wahr, Mister Gray?�, bemerkte die Madame.

�Daf�r bezahle ich Sie doch.�

Mrs Puggsley geleitete Pluck zu seinem Sessel zur�ck, l�ste die Schnur um Minas Mitte und streifte ihr sacht die Robe von den Schultern, bis das M�dchen nackt vor den beiden M�nnern stand. Ihr K�rper besa� zwar eine reife, dralle Sinnlichkeit, war jedoch an sich nichts Au�ergew�hnliches.

Das jedoch, was zwischen ihren Br�sten herabhing, war sehr wohl etwas Au�ergew�hnliches: ein wunderlicher Auswuchs, ein widerw�rtiges St�ck rosa Fleisch, das eine haarstr�ubende �hnlichkeit mit dem abgerissenen Arm eines S�uglings hatte. Es h�pfte und zuckte leicht unter den starren Blicken der beiden M�nner, als w�re es sich ihrer gebannten Aufmerksamkeit bewusst.

Moon strich sich mit der Zunge �ber die Lippen. �Fabelhaft.�

�Meine Herren –�, Mrs. Puggsley strahlte vor Stolz, �– wenn Sie wollen, geh�rt sie Ihnen.� Moon und Pluck grinsten eintr�chtig und gleicherma�en l�stern. �Wie lauten Ihre Gebote?�

Pluck nannte eine Summe, die sehr wahrscheinlich seinem Wochenlohn entsprach, und Moon verdoppelte sie ohne zu z�gern. Pluck antwortete mit einer bescheidenen Erh�hung, nur um seinem Gegner Gelegenheit zu geben, die Summe erneut zu verdoppeln.

Niedergeschmettert gab sich der kleine Mann geschlagen: �Sie geh�rt Ihnen.�

�Behandeln Sie sie r�cksichtsvoll�, sagte Mrs Puggsley streng.

�Ich behandle sie so, wie’s mir gef�llt.� Moon nahm Minas Hand und f�hrte sie aus dem Salon zur Treppe, die in den Oberstock zu den Boudoirs f�hrte. Beim Hinausgehen h�rte er, wie Mrs Puggsley ihr Bestes tat, um den Verlierer aufzuheitern.

�Das war Pech, Sir. Aber ich habe noch eine ganze Schar, die Ihnen gern zur Verf�gung stehen w�rde. Das Robbenm�dchen wird in einer Stunde frei sein. Das Stecknadelk�pfchen w�re sofort bereit. Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, ein wenig zu warten, dann haben wir in K�rze ganz neu eintreffende Siamesische f�r Sie.�

Edward Moon war am Ende der Treppe angelangt und h�rte nichts mehr. Und f�r die n�chsten drei luxuri�sen Stunden �berlie� er sich den Z�rtlichkeiten einer b�rtigen Dame.


Nun denn: dieser Vornehmtuer, dieser Hurenbock – das ist unser Held. Der d�rftige Abklatsch eines solchen, ich wei�, aber wir leben nun einmal nicht in Heldenzeiten, und leider scheint es, als w�re Edward Moon noch das Beste, was diese �ra uns anzubieten hat.

Falls Sie nun, da Sie dieses j�ngste Detail aus dem erb�rmlichen Privatleben des Mannes erfahren haben, Ihre F�higkeit in Zweifel ziehen, seine Person f�r den verbleibenden Rest des Berichtes zu ertragen, m�chte ich vorschlagen, Sie werfen die Flinte ins Korn und dieses Manuskript einfach weg. Verbrennen Sie es, wenn Ihnen der Sinn danach steht! Zerrei�en Sie es in kleine Fetzchen! Versuchen Sie sich an Origami! Glauben Sie mir, Sie haben meine vollste Sympathie. Wenn ich k�nnte, w�rde ich das Gleiche tun.

Sollten Sie es jedoch ungeachtet des Vorhandenseins einer so verwerflichen Hauptfigur vorziehen durchzuhalten, dann sollten Sie wissen: Alles wird nur noch schlimmer.


Moon verlie� Madame Puggsleys Haus, zog behutsam die Eingangst�r hinter sich zu und sah sich gewissenhaft um. Und da er sich irrigerweise f�r unbeobachtet hielt, ging er ans Ende des G�sschens und bog dort auf seinem Weg nach Hause in die Goodge Street ein. Das Pflaster der Stra�en war verlassen, und bis auf das Hallen seiner Schritte herrschte unheimliche Stille. Doch kaum hatte er ein St�ck seines Weges zur�ckgelegt, unterbrach ein diskretes H�steln die Lautlosigkeit der Nacht. Erschrocken drehte Moon sich um: Ein Mann stand dicht hinter ihm.

Ein kleiner Mann, adrett gekleidet, der selbst jetzt nerv�se Betriebsamkeit ausstrahlte. Ein goldgerandeter Kneifer sa� pr�zise auf seiner Nasenspitze. Die Gesichtsfarbe des Mannes wirkte blass, ja ungew�hnlich bleich, und sein Haar war schneewei�.

Ein d�sterer Ausdruck huschte �ber Moons Z�ge, als er erkannte, wer ihm gefolgt war, und er reagierte mit einem eisigen Nicken. �Siehe da. Mister Skimpole.� Ein alter, unangenehmer Bekannter.

Der Albino verneigte sich artig. Trotz seiner leicht komisch anmutenden Erscheinung hatte er etwas Einsch�chterndes an sich – eine fast f�hlbare Bedrohlichkeit.

�Ich habe Sie nicht bemerkt�, erkl�rte Moon.

�Das tun die Leute kaum jemals.�

�Wie lange folgen Sie mir schon?�

Skimpole wischte die Frage beiseite. �Haben Sie Mrs Puggsley meine besten Empfehlungen �berbracht?�

�Was wollen Sie?�

Der Albino starrte ihn ausdruckslos an, wobei die untere H�lfte seiner Augen von den Gl�sern des Kneifers grotesk vergr��ert wurde. �Ich ben�tige Ihre Hilfe.�

Moon schnaubte ver�chtlich und setzte sich wieder in Bewegung.

Skimpole eilte hinter ihm her. �Warten Sie!�

�Ich habe schon wiederholt abgelehnt. Meine Antwort ist immer noch dieselbe.�

�Es findet gerade eine Verschw�rung statt! Ein Komplott gegen die ganze Stadt wird geschmiedet! Das Direktorium braucht Sie! Ihr Land braucht Sie!�

�Suchen Sie sich einen anderen Handlanger.�

�Es geht irgendetwas vor sich! Sp�ren Sie es nicht? Wir stehen vor einer gro�en Krise!�

Moon blieb schlagartig stehen, drehte sich um und sah seinem Qu�lgeist ins Gesicht. �Das wird wohl Ihre Einbildungskraft sein, Mister Skimpole. Zu viel K�se vor dem Schlafengehen.�

�Ich k�nnte Sie …!� Leichthin setzte er hinzu: �Mister Gray.

Moon sagte nichts.

Skimpoles Miene verzog sich zur Andeutung eines L�chelns. �Sie werden mir helfen.�

Mit ausgesuchter H�flichkeit l�chelte Moon zur�ck. �Selbst ich habe gewisse Skrupel. Ehe ich Ihnen helfe, m�ssen Sie mir schon eine Pistole an den Kopf halten.�

Entschlossenen Schrittes ging er weiter, und Skimpole sah ihm nach, bis er in der Ferne verschwunden war. �Dazu k�nnte es kommen�, sagte er leise. Und dann, mit festerer Stimme: �Dazu k�nnte es noch kommen!�


Der folgende Tag begann nicht gut. Der Affe, den Moon nun schon seit zwei Jahren in seiner Vorstellung einsetzte, wurde unerwartet krank, und der Tierarzt verschrieb ihm eine Ruhepause von unbestimmter L�nge. Der Zoo schickte zwar umgehend einen Ersatz, aber der entpuppte sich als widerspenstiger, erm�dender Kerl, der nicht die Spur des Talentes seines Vorg�ngers zeigte. Aufgefordert zu begeisterten Luftspr�ngen, antwortete er mit einem lustlosen Schnattern; eingeladen, seinen Auftritt mit Manierlichkeit und Stil zu absolvieren, schlich er mit dem ganzen Eifer eines zum Tode Verurteilten, der sich seine Henkersmahlzeit holt, auf die B�hne.

Und so kehrte der Magier nach dem Ende der Auff�hrung einigerma�en ern�chtert in die Wohnung zur�ck, w�hrend der Schlafwandler es vorzog, noch ein Weilchen oben zu bleiben, um zu versuchen, den unwilligen Schimpansen durch sanften Druck zu so etwas wie einem halbwegs brauchbaren Auftreten zu bewegen.

Als Moon die T�r �ffnete, d�ste Speight unruhig auf der Treppe vor sich hin. Mrs Grossmith h�rte Moon eintreten und eilte ihm entgegen. �Es wartet jemand auf Sie! Ich sagte, es sei schon sp�t, aber er lie� sich nicht abweisen.�

�Wer ist es?� Moon d�mpfte seine Stimme zu einem Wispern. �Ist es der Albino?�

Jemand, der nicht zu sehen war, lachte schallend auf.

Moon ging in die K�che und fand dort eine beh�bige Gestalt vor, die sich in seinem Lieblingssessel r�kelte.

�Albino?� Wieder lachte der Besucher laut auf. �Also wirklich, Moon, Ihre Freunde werden mit jedem Mal, da wir uns sehen, merkw�rdiger!�

Moon gestattete sich ein d�nnlippiges L�cheln. �Inspektor!�

Inspektor Merryweather stand auf und sch�ttelte Moon herzlich die Hand. �Eine Freude, Sie wiederzusehen. Aber ich w�rde mir w�nschen, dass wir eines Tages unter gl�cklicheren Umst�nden zusammenkommen!�

Nachdem Mrs Grossmith sich diskret in ihr Schlafzimmer zur�ckgezogen hatte, holte Moon eine Whiskyflasche und zwei Gl�ser hervor, setzte sich seinem Gast gegen�ber und goss ihnen beiden je einen gro�z�gigen Schluck ein. �Ich nehme an, dies ist ein gesch�ftlicher Besuch?�

�Ich f�rchte ja. Und ich muss mich f�r die sp�te Stunde entschuldigen, aber ich bin mit meiner Weisheit am Ende.�

�Sie wollen damit sagen, dass Sie einen Fall f�r mich haben?�

�Sie werden ja die Schlagzeilen gesehen haben, oder?�

�Die Honeyman‐Sache? Ich bin �ber Ihren bedauerlichen Mangel an Fortschritten auf dem Laufenden – und das mit einiger Entt�uschung, Inspektor. Ich habe gehofft, Sie h�tten mittlerweile etwas aus meinen Methoden gelernt.�

�Wir haben getan, was wir konnten. Aber ich kann Ihnen mein Wort darauf geben – es ist immer noch der seltsamste Fall geblieben. Der verwirrendste meiner ganzen Laufbahn.�

Moon zog eine Braue hoch. �Sind sie das nicht alle?�

�Dieser ist etwas ganz Besonderes�, beharrte Merryweather: �Er hat etwas Absonderliches an sich, etwas Erschreckendes, Schauerliches. Also werden Sie begreifen, weshalb ich an Sie gedacht habe.�

�Klingt perfekt.�

Merryweather lachte wieder auf – diesmal war es eher ein verdrie�lich‐kratziges Bellen. �Mrs Grossmith erz�hlte mir schon von Ihrer schrecklichen Langeweile. Wissen Sie, eigentlich sollte ich gar nicht hier sein. Meine Kollegen sehen das gar nicht gern, sie finden, ich w�re irgendwie auf Ihre Person fixiert. Und nach dieser Sache in Clapham …�

Der Magier zuckte zusammen.

�Nun, seit damals sind sie nicht mehr so geneigt, ein Auge zuzudr�cken.�

ABEND, INSPEKTER

In Anwesenheit des Schlafwandlers geriet Merryweather stets ein wenig aus dem Gleichgewicht, und auch nun erhielt die wie immer unersch�tterlich pr�chtige Laune des Inspektors augenblicklich einen D�mpfer.

Der Schlafwandler setzte sich, nahm die Fliege ab und goss sich ein Schl�ckchen Milch ein. Er hatte gerade das Glas an die Lippen gesetzt, als Moon aufsprang und den Inspektor ansah. �Also gut!�, rief er ungeduldig. �Ich m�chte sehen, wo es sich zugetragen hat!�


Eine Stunde sp�ter standen die drei auf dem Turm, wo sich f�r Cyril Honeyman der Vorhang ein allerletztes Mal gehoben hatte. Das Fenster, durch das er in die Tiefe gest�rzt war, wartete immer noch auf eine Reparatur, und so herrschte schneidende K�lte im Raum. In der Luft lag ein schwerer, fauliger Geruch, der von dem Tisch stammte, auf dem sich herrenlose verdorbene Speisen h�uften – das, was einst ein �ppiges Festmahl dargestellt hatte, war nun verschimmelt und stank.

�Bitte verzeihen Sie den Geruch�, sagte Merryweather. Er war fest eingepackt in einen dicken Wollmantel und trug einen schwarzen Schal um den Hals. �Es war auch mal eine Flasche Champagner da, aber den haben die Jungs schon vor Tagen weggeputzt.�

Moon lie� einen Finger �ber den Rand des Tisches gleiten, der mit verkrusteten Flecken, grauem Staub und Schimmel bedeckt war.

�Wozu diente dieses Geb�ude fr�her einmal?�, fragte er.

�Niemand wei� das so genau. Wir glauben, es k�nnte sich um eine Art Wasserturm handeln. Au�er Betrieb�, f�gte er einigerma�en ratlos hinzu. �Ist auf keinem Stadtplan zu finden. Scheint offiziell gar nicht zu existieren.�

�Ich glaube nicht, dass es ein Wasserturm ist, Inspektor.� Moon stand am Fenster und blickte in Gedanken versunken hinab auf die Stra�e. �Ich halte es f�r einen Wachturm.�

�Entschuldigen Sie das Durcheinander. Wie es aussieht, haben die Jungs von der Stadtpolizei alle Ihre sch�nen Spuren zu Tode getrampelt.�

Der Schlafwandler klopfte Moon auf die Schulter und schwang seine Tafel.

SELBSMORT

Mit einer br�sken Handbewegung wischte Moon diese Vermutung weg.

�Sie kennen den Ruf dieser Gegend�, sagte Merryweather. �In Anbetracht der erlesenen Speisen und des Bettes neigen wir zu der Ansicht, er k�nnte hergelockt worden sein.�

Moon schien ihn kaum geh�rt zu haben. �Ich h�tte schon erwartet, dass dies hier ins Auge springen m�sste!� Er kniete unter dem zerborstenen Fenster und hob einige Scherben hoch. �Sehen Sie nur, wie das Glas gefallen ist! H�tte Honeyman es beim Hinausfallen zerbrochen, w�rde man es wohl nur drau�en vorfinden. Es liegt einfach zu viel davon im Innern, als dass es sich so zugetragen haben k�nnte.�

Merryweather runzelte die Stirn. �Was wollen Sie damit sagen?�

�Dass jemand – oder etwas – das Fenster nach innen zerbrochen hat. Von der Au�enseite des Turmes aus. Irgendetwas ist hereingekommen!�

�Unm�glich! Niemand k�nnte so hoch heraufklettern!�

�Merkw�rdig, nicht wahr?�

Merryweather seufzte. �Werden Sie den Fall �bernehmen?�

Moon antwortete nicht.

�Ich verstehe Sie nicht�, seufzte der Inspektor wieder. �Sie warten doch schon seit geraumer Zeit sehnlich auf etwas wie das hier! Etwas Verzwicktes, sagten Sie. Etwas Schwieriges, wie in den alten Tagen. Etwas, das den Stempel wahrer krimineller Gewieftheit tr�gt. Eigentlich sollte das hier die Erf�llung all Ihrer Tr�ume sein!�

�Tr�ume?�, wiederholte Moon zerstreut und ging daran, die Glasscherben �ber den Boden zu schieben; er arrangierte sie zu einem neuen Gef�ge ohne jede erkennbar planm��ige Anordnung.

�Werden Sie den Fall �bernehmen?�

Moon nickte geistesabwesend. �Wider mein besseres Wissen.�

�Was soll das wieder hei�en?�

�Das soll hei�en, dass hier etwas nicht stimmt, Inspektor. Es soll hei�en, dass dies kein gew�hnliches Verbrechen ist, sondern dass es weitreichendere Bedeutung hat. Dass wir am Rande von etwas Furchtbarem stehen.�

Merryweather lachte auf. �G�tiger Himmel, m�ssen Sie immer alles so d�ster sehen?�

Moon starrte zur�ck, ohne mit der Wimper zu zucken, schweigend und ernst, worauf der Inspektor es vorzog, den Mund zu halten.

Der Schlafwandler bekam pl�tzlich einen kindlichen Gesichtsausdruck und schrieb eine neue Mitteilung:

F�RCHTE MICH

Moon l�chelte nicht. �Das solltest du auch tun�, murmelte er. �Das sollten wir alle tun.�


SECHS

Die Ermordung Cyril Honeymans war der dreiundsechzigste Kriminalfall, den Edward Moon zu untersuchen hatte. Es war der neunzehnte, bei dem er sich der Unterst�tzung durch den Schlafwandler erfreuen konnte, und der vierunddrei�igste, bei dem er mit Zustimmung von Merryweather und Scotland Yard als Detektiv t�tig wurde.

Er sollte auch der letzte seiner Laufbahn sein.

Wie es seine Gewohnheit war, fing er damit an, sich in die Details des Mordes zu versenken; er nahm den Tatort des �fteren in Augenschein, hielt auf den Stra�en Ausschau nach Hinweisen, befragte Zeugen und suchte das Gespr�ch selbst mit den unergiebigsten Gaffern. Doch trotz seiner emsigen Sorgfalt trugen seine Bem�hungen kaum Fr�chte. Er hatte den Eindruck, alle Spuren w�ren irgendwie ausradiert worden – als ob sie nie existiert h�tten; die Basis seiner Nachforschungen war sauber gefegt und zeigte sich als blankgewischte Tafel, als tabula rasa. Lange Tage brachte er im Archiv zu, aber er stie� auf keinen Fingerzeig, fand nicht den Hauch einer Andeutung, die sich auf die Honeyman‐Sache bezog, nichts, was Licht auf das Ableben des Mannes h�tte werfen k�nnen.

Am Ende der ersten Woche besuchten er und der Schlafwandler – mehr aus H�flichkeit denn in der Annahme, dies k�nnte ihnen bei ihren Nachforschungen weiterhelfen – die Eltern des Dahingeschiedenen. Sie lebten in einem gro�en Landhaus, meilenweit entfernt von den letzten Ausl�ufern der Stadt und von dieser abgeschottet durch etliche Morgen wohltuenden Gr�ns.

Eine Stunde nach ihrem Eintreffen – so lange hatte man sie in der Eingangshalle warten lassen wie irgendwelche dahergelaufene Bittsteller – schlurfte ein �lter Diener herbei und setzte sie davon in Kenntnis, dass seiner Herrschaft, die sich allein durch die Anwesenheit der beiden bereits zutiefst bel�stigt f�hlte, nur ein Besucher zugemutet werden k�nne. Der Schlafwandler war gern bereit, auf das Vergn�gen zu verzichten, und so wurde Moon kurz darauf in ein zugiges Schreibzimmer geleitet.

Die Honeymans befanden sich am anderen Ende des Raumes, wo sie hinter einem gro�en Eichentisch thronten. Keiner von beiden erhob sich, als Moon eintrat; sie bedeuteten ihm nur wortlos, in etlichen Schritt Entfernung Platz zu nehmen. W�hrend er den Zweck seines Besuches erl�uterte – wobei er gezwungen war, wegen des gro�en Abstands lauter zu sprechen, als es seine Art war –, zeigten sie keine erkennbare Anteilnahme. Mister Honeyman, ein graugesichtiger, gequ�lt wirkender Mann im Nadelstreif, bemerkte sodann, dass man der Polizei bereits alles gesagt habe, was man wisse, und dass diese Art von Zudringlichkeit ganz gewiss unbefugt und vermutlich gesetzwidrig sei. Moon stellte klar, dass er nicht die Polizei repr�sentiere, und fuhr fort mit der (einigerma�en dreisten) Bemerkung, dass er eine bessere Chance als jeder andere habe, den Fall zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen.

Darauf wusste der Mann nichts anderes zu entgegnen, als sich aufzublasen und missbilligend zu r�uspern, worauf seine Frau die Sache �bernahm und Moon mit einem Basiliskenblick fixierte.

�Mein Sohn ist tot. Wir haben all diese Fragen bereits beantwortet. Mein Gatte und ich sind �berzeugt, dass die Polizei alles in ihrer Macht Stehende tut, um die Angelegenheit zu Ende zu bringen. Und ganz gewiss ben�tigen wir nicht die Dienste eines Amateurs!� Dieses letzte Wort stie� sie mit einigem Nachdruck hervor, so als wollte sie den Versuch machen, einen st�renden Kr�mel auszuspucken, der sich zwischen den Z�hnen verfangen hatte.

�Meine Gattin ist eine fromme Frau�, f�gte Mister Honeyman mild hinzu, als w�rde dies alles erkl�ren.

Die beiden erhoben sich und marschierten schweigend aus dem Zimmer. Es lag auf der Hand, dass die Audienz beendet war.

Der Schlafwandler wartete drau�en am Fischteich, vertieft in eine Konversation mit dem G�rtner �ber die subtileren Fragen des fachgerechten Baumschnitts. Der Riese wandte sich Moon zu und schrieb etwas auf die Tafel.

WAS NEUES?

Moon sch�ttelte verdrie�lich den Kopf. �Nichts�, sagte er und stapfte durch die B�sche davon.


Sp�ter, im Zug, klang seine Stimme recht ver�rgert. �K�nnte es blinde Willk�r gewesen sein? B�sartigkeit ohne jedes Motiv?�

Der Schlafwandler hob nur die Schultern.

�Dennoch erscheint es mir irgendwie geplant. Es hat etwas Wohl�berlegtes an sich. Einen Anflug von … Theater. Grand Guignol. Dies ist einfach nicht das Werk eines gew�hnlichen Ganoven.� Er verstummte, holte sein Zigarettenetui hervor und ging zur Erbitterung seiner Mitreisenden daran, das Abteil mit dickem, bei�endem Rauch zu erf�llen.


Tags darauf waren Moon und der Schlafwandler zu einer Abendgesellschaft geladen.

Die Gastgeberin war Lady Glyde, eine gesch�tzte G�nnerin aus den Anfangszeiten des Theaters und jene Frau, der Moon weitestgehend seine Einf�hrung in die vornehme Gesellschaft zu verdanken hatte. Ihr Domizil in Pall Mall war eine widerlich protzige Angelegenheit, ein Schrein des Geldes und der Geschmacklosigkeit – ein Labyrinth ineinander �bergehender R�umlichkeiten, die ungeachtet ihrer betr�chtlichen Ausma�e heute abend gesteckt voll mit G�sten waren.

Ein Diener nahm Moon und dem Schlafwandler die M�ntel ab und f�hrte sie durchs Gew�hl in den Salon. Dort qu�lte sich ein Streichquartett durch irgendeine Barocksonate, die in der lautstarken Konversation der Anwesenden, dem Geperle artigen Gel�chters, dem Klingeln angesto�ener Gl�ser und all den �brigen Ger�uschen menschlicher Heuchelei nahezu unterging.

Der Diener blieb in der T�r stehen und verk�ndete mit dem gewichtigen Ernst eines Pastors bei der Verabreichung der Sterbesakramente: �Mister Edward Moon und der Schlafwandler.�

Der L�rm legte sich f�r einen Moment, als die K�pfe herumfuhren, um ein Auge auf die Neuank�mmlinge zu werfen. Moon – einst gefeierter Gast auf den besten Soireen von London – bot sein hinrei�endstes L�cheln auf, nur um zu erleben, dass ihn die Anwesenden mit einem kurzen, glasig‐gleichg�ltigen Blick bedachten, bevor sie wieder zu ihren Unterhaltungen zur�ckkehrten, als h�tte nichts stattgefunden, dem man irgendeine Bedeutung zuma�. Vor zehn Jahren w�ren Dutzende auf ihn zugest�rzt, h�tten sich vorgedr�ngt, um die ersten zu sein, die ihn begr��ten, seine Hand zu sch�tteln oder ihm auf der Stelle ein Getr�nk zu holen. Viele h�tten ihn um ein Autogramm gebeten. Heute hingegen regte sich nicht mehr als ein d�rftiges Aufflackern fl�chtigen Interesses, ehe ihn die Herde wieder fallenlie�.

Der Diener dr�ckte den Neuank�mmlingen Gl�ser in die Hand und verschwand, um die beiden der wetterwendischen Gnade der Masse auszuliefern. Der Schlafwandler stie� Moon warnend in die Seite, als sich eine rundliche Dame mit streitbarer Kinnpartie den Weg zu ihnen bahnte.

�Mister Moon!�

Der Magier erhob die Stimme, um den Krawall zu �bert�nen. �Lady Glydel�

Schlie�lich hatte sie es geschafft, zu den beiden durchzukommen, und dr�ckte Moons Hand mit der krampfhaften Hartn�ckigkeit einer Ertrinkenden. �Edward�, japste sie, �also ich bin ganz sicher: Die H�lfte dieser Leute kenne ich �berhaupt nicht!�

Moon lachte wohlerzogen, und selbst das Gesicht des Schlafwandlers verzog sich zu einem pflichtschuldigen Grinsen.

�Haben Sie schon etwas zu trinken?�

�Ja, vielen Dank, Madam.�

Sie sah neugierig zum Schlafwandler hoch. �Nehmen Sie immer Milch?�

Er nickte.

�Kommen Sie mit�, sagte sie, �es ist jemand da, den Sie unbedingt kennenlernen m�ssen.� Und schon warf sie sich zur�ck ins Gedr�nge, im Schlepptau ihre widerstrebende Begleitung. �Arbeiten Sie augenblicklich an einem Fall?�, rief sie �ber ihre Schulter nach hinten.

Moon verriet es ihr.

�Tats�chlich?� Sie schien ehrlich interessiert. �Ich habe den Eindruck, dass die Zeitungen von nichts anderem mehr schreiben! Dieser Fall muss eine gro�e Herausforderung sein, selbst f�r Sie. Sind Sie einer L�sung schon nahegekommen?�

�Gegenw�rtig blicke ich noch nicht durch�, gestand Moon. �Ich habe noch immer keinen Verd�chtigen.�

�Also, wenn irgendjemand diesen Fall knacken kann, dann ganz bestimmt Sie.�

�Vielen Dank, Madam.�

�Ich muss sagen, Sie haben sich von dieser gr�sslichen Sache in Clapham wunderbar gut erholt. Eine ganze Reihe von M�nnern in Ihrer Position h�tte danach aufgegeben. Das Handtuch geworfen, wie man so sagt.�

Moon blieb keine Zeit zu antworten, denn Lady Glyde blieb bei einer kleinen Gruppe von Damen stehen; sie dr�ngten sich um einen jungen Mann, der hier Hof hielt. Ein wenig von dem, was er sagte, drang Moon ans Ohr – es klang nach einem entbehrlichen Disput �ber Amerika.

Aus der gesellschaftlichen Elite rund um Lady Glyde stach dieser Mensch in seiner Unansehnlichkeit richtiggehend hervor: klein, untersetzt, sommersprossig und gestraft mit einem unsch�nen r�tlichen Haarschopf; mit seinen in einen schlecht sitzenden Smoking gepressten H�ngeschultern wirkte er wie ein Fremdk�rper, ein Eindringling – eine Motte unter all diesen Schmetterlingen. Sein Gesicht zeigte bemerkenswert absto�ende Z�ge, und an seiner linken Hand schien ihm ein Finger zu fehlen.

�F�hlen Sie sich wohl in unserer kleinen Gesellschaft?�, fragte Lady Glyde.

Der Mann strahlte. �Sie bringt mir eine wundervolle Soiree in Bloomsbury in Erinnerung, zu der ich einst eingeladen war …� Er unterbrach sich, ehe er seine Pointe loslie�: �Im Jahr 1934.�

Moon fasste eine instinktive Abneigung gegen den Mann. Lady Glyde kicherte auf eine f�r ihr Alter h�chst unpassende Art.

�Mister Moon!�, sagte die Lady mit dem Stolz eines Impresarios, der seine beste Varietenummer ank�ndigte, �darf ich Ihnen Mister Thomas Cribb vorstellen!�

�Wir haben uns bereits kennengelernt�, sagte Cribb hastig.

Moon vergalt es ihm mit einem funkelnden Blick: �Das bezweifle ich!�

�Er wird sich meiner nicht entsinnen, aber ich kenne Edward gut. Ja, ich w�rde sogar so weit gehen zu behaupten, dass wir Freunde sind.�

Lady Glyde lachte, und Moon musterte den Mann mit einem geh�rigen Ma� an Ratlosigkeit. Der Schlafwandler hingegen reagierte auf unerwartete Weise: Beim Anblick des Fremden �berflog ein Kaleidoskop von Gef�hlen sein Gesicht – etwas, das einem Wiedererkennen nahe kam, dann Zweifel, �rger, Wut, dann Angst. Er drehte sich um und verschwand im Gedr�nge. Niemand sah ihn jedoch das Haus verlassen.

�Mister Cribb�, sagte Lady Glyde, �es h�rte sich an, als h�tten Sie und die Damen eine �u�erst spannende Unterhaltung gef�hrt, als wir zu Ihnen stie�en.�

�O ja! Sprechen Sie weiter! Sprechen Sie weiter!�, kreischte eine seiner Bewunderinnen, und die anderen quiekten ihren hohlk�pfigen Beifall.

Cribb gab eine wenig �berzeugende Vorstellung von Verlegenheit, bevor er sich – unausweichlich – ihren W�nschen beugte. �Ich sprach von Amerika�, erkl�rte er, �und davon, was das Land in wenigen Jahren alles erreichen wird.�

�Und was wird das sein?�, fragte eine der Damen. �Kultiviertheit, vielleicht?� Sie prustete los, �bermannt von ihrer eigenen Schalkhaftigkeit.

�Es wird zu einer Gro�macht�, sagte Cribb ernsthaft, �zu einer m�chtigen Nation, die die unsere in den Schatten stellt. Unser Weltreich schwindet dahin und stirbt.�

Mit Ausnahme Moons lachten alle laut auf. Lady Glyde brach beinahe zusammen unter ihrem Entz�cken. �O Thomas!�, keuchte sie. �Sie Schlimmer!�

Auf den Lippen des Mannes erschien etwas, das er wohl f�lschlicherweise f�r ein schillerndes L�cheln hielt. �Ich habe die Zukunft gesehen, Madam. Ich habe sie durchlebt.�


Thomas Cribb war ein R�tsel.

Wie es bei M�nnern dieses Schlages oftmals der Fall ist, verlor sich sein Hintergrund im Dunkel zahlloser Ger�chte und Mutma�ungen. Es konnte sich bei ihm um einen echten Sonderling handeln, um einen Mann, der sich ganz einfach keine Vorstellung von seiner eigenen Wunderlichkeit machte; um einen Scharlatan, einen gerissenen Reporter in eigener Sache, der unseligerweise begonnen hatte, seiner eigenen Berichterstattung Glauben zu schenken; glaubhafter ist jedoch die Annahme, dass es sich bei ihm blo� um jemanden handelte, der sich Geschichten aus den Fingern sog, um zu Gesellschaften eingeladen zu werden.

Er behauptete, die Zukunft zu kennen, in ihr gelebt zu haben und zu wissen, wie London in einem Jahrhundert aussehen w�rde. Ob ihm das irgendjemand abnahm, ist bedeutungslos. Worauf es jedoch ankam, war der Umstand, dass ihm diese Geschichten eine Faszination und ein Flair verliehen, welche andernfalls weit au�erhalb seiner Reichweiten gelegen h�tten. Wann immer er sein Garn spann – und ganz gewiss nur dann –, hingen die Frauen an seinen Lippen; matronenhafte Witwen wie Lady Glyde beteten ihn geradezu an. Er hatte sich einen Pfad ins Herz der feinen Gesellschaft gebahnt und bekam dort als eine Art Alleinunterhalter seine festen Auftritte. Die ihn vor allem interessant machten.

Selbstverst�ndlich gibt es die entfernte M�glichkeit, dass ihm ein weitaus gr��eres Ma� an Bedeutung zukam. Doch alles zu seiner Zeit.

Ich traf nur ein‐, zweimal mit ihm zusammen, und, ehrlich gesagt, hielt ich nicht viel von dem Mann. Aber ich muss darauf bestehen, dass Sie sich Ihre eigene Meinung �ber ihn bilden.


Sobald Lady Glyde Moon mit rauher Stimme ins linke Ohr gefl�stert hatte, wer und was Cribb zu sein vorgab, war der Magier und Detektiv davon so ausnehmend unbeeindruckt, dass er die Ehrlichkeit des Mannes in Frage stellte.

�Mister Moon!�, rief daraufhin die Gastgeberin in Pseudoentr�stung aus. �Ich glaube jedes Wort, das ich von ihm geh�rt habe!�

�Sie entt�uschen mich.�

Moon blieb noch ein, zwei Stunden, mischte sich halbherzig unter die anderen G�ste und w�nschte sich doch die ganze Zeit �ber nur, endlich mit seiner Detektivarbeit fortfahren zu k�nnen. Der Schlafwandler hatte in der Zwischenzeit einen freien Sessel und einen Krug Milch gefunden und sich niedergelassen, um sich ernsthaft dem Trunke zu ergeben.

Sobald es der Anstand erlaubte, wandte sich Moon zum Gehen, worauf Lady Glyde sich wie eine Klette an seinen Arm h�ngte, um ihn zur T�r zu begleiten. Auf dem Weg dorthin kamen sie an Cribb vorbei.

�Adieu, Mister Moon. Ich werde Sie nicht mehr sehen.�

�Ich sollte die Entt�uschung �berleben, denke ich.�

Ein schlaues Grinsen. �Sie missverstehen mich, Sir. Dies mag sehr wohl das letzte Mal sein, dass ich Sie sehe, aber es ist ganz gewiss nicht das letzte Mal, dass Sie mich sehen! Einiges muss noch passieren, ehe Sie den letzten Blick auf mich werfen.�

Moon starrte ihn nur an. �Das ist doch blo� dummes Geschw�tz!�

�Ich bin ein lebender Widerspruch, Mister Moon. Sie werden noch draufkommen.� Ein sonderbar wehm�tiges L�cheln erschien auf Cribbs Gesicht, ehe er sich verbeugte und wieder zwischen den anderen G�sten verschwand.

�Er hat schon was Besonderes an sich, nicht wahr?�

�Es freut mich, wenn er Sie am�siert�, sagte Moon zur Lady, die seinen Arm ein wenig fester dr�ckte als wirklich notwendig war. �Aber nun m�ssen Sie mich entschuldigen, ich muss mich schleunigst auf den Weg machen.�

�So fr�h schon?�

�Ich muss noch arbeiten.�

�Sehe ich Sie bald wieder?�, fragte sie hoffnungsvoll.

Moon schenkte ihr ein letztes verkniffenes L�cheln. �Ich empfehle mich, Madam.�

Seine Verpflichtungen f�r diesen Abend erf�llt, trat Moon hinaus in die Nacht.

Er war kaum f�nf Schritte weit gekommen, als ihn eine mittlerweile nicht mehr unbekannte quengelnde Stimme innehalten lie�. �Edward!�

Er drehte sich um; der widerliche Mensch von vorhin stand als Silhouette in der offenen T�r.

�Was wollen Sie?�, rief Moon; er gab sich keine M�he, seine Ver�rgerung zu unterdr�cken.

Cribb war herangetreten, packte die linke Hand des Magiers und umklammerte sie mit seiner. Es war sicher Einbildung, aber Moon h�tte schw�ren k�nnen, dass dem l�cherlichen kleinen Mann Tr�nen in den Augen standen.

�Mister Moon!� Seine Stimme zitterte und klang belegt. �Edward!�

Moon tat sein Bestes, dem anderen seine Hand zu entziehen, aber Cribb hielt sie zu fest in der seinen. �Bitte. Lassen Sie mich reden. Lassen Sie mich ausreden! Wir haben so viel miteinander durchgemacht!�

�Unsinn! Wir haben uns gerade erst kennengelernt!�

�O nein! Sie und ich – wir haben gemeinsam dem Tod ins Auge geblickt! Wir sind dem Schlimmsten, das diese Stadt zu bieten hat, begegnet und haben es �berlebt! Ich m�chte Ihnen sagen, welch eine Ehre und Auszeichnung es f�r mich war und ist, Sie zu kennen! Ihr …� Die Emotion wollte ihn schier ersticken, und so rang er verzweifelt nach Luft, die er japsend in die Lunge sog, bis er seine Fassung wiedererlangte und kl�glich den Satz vollendete: �… Ihr Freund gewesen zu sein.�

Moon nahm an, der Mann sei betrunken, und entriss ihm seine Hand.

�Jetzt verstehen Sie mich noch nicht�, fuhr Cribb fort. �Aber das werden Sie bald tun, ich verspreche es Ihnen. Und es wird Ihnen leid tun. Es wird Ihnen leid tun, nicht adieu gesagt zu haben!�

Aber Moon setzte bereits eilig seinen Weg fort. Der h�ssliche kleine Mann sah davon ab, ihm zu folgen, drehte sich um und ging – betr�bter und noch ernster als zuvor – langsam ins Haus zur�ck.


Wie von einem starken inneren Drang getrieben, lief Moon erneut zum Schauplatz des Mordes.

Ungeachtet der sp�ten Stunde waren die Stra�en mit dem gleichen menschlichen Abschaum erf�llt, dem auch Cyril Honeyman bei seinem letzten Besuch begegnet war. Bei Moons N�herkommen zogen sich die Gesch�pfe der Nacht jedoch rasch zur�ck; m�glicherweise sp�rten sie, dass mit ihm nicht zu spa�en war. Der Magier bemerkte sie kaum, w�hrend er sich wie ein Gespenst durch die Gassen und G�sschen bewegte und geradewegs auf den Turm zusteuerte.

Er konnte die Last der Vergangenheit sp�ren, die sich auf ihn legte – die Wasser der Geschichte, die �ber seinem Kopf zusammenschlugen. Pl�tzlich fiel ihm der Begriff des Genius loci ein, diese wirklichkeitsfremde �berzeugung, dass der Ort selbst erheblichen Einfluss hat auf die Individuen, die ihn durchschreiten. Falls der Geist dieser Gegend sich f�hlbar auf ihre Bewohner auswirkte, dann war sein Einfluss jedenfalls ein schlechter. Die Beschaffenheit des Viertels war von eindeutig �bler Natur; sie schien alles, was in der Stadt am verabscheuenswertesten, am scheu�lichsten und s�ndhaftesten war, an ihren Busen zu pressen. Dieser Ort, man sp�rte es, hungerte. Er gierte nach Opfern.

Moon langte vor dem schweigenden Koloss des Turmes an, k�mpfte sich bis nach oben und fand alles verlassen vor. Es war zu erkennen, dass kein Landstreicher sich den Raum als vor�bergehende Unterkunft angeeignet hatte – in einer Gegend, die heimgesucht war von Armut der bittersten und ausweglosesten Art h�tte dieser Umstand Moon �berraschen m�ssen, doch das tat er seltsamerweise nicht.

Der Raum an der Spitze des Turmes war jetzt kahl, und die verdorbenen Speisen hatte man weggeschafft. Moon dachte erneut �ber die Besonderheiten dieses unangenehmen Falles nach – �ber den verd�chtigen Mangel an verwertbaren Spuren und an dieses aufreizende Gef�hl, dass etwas Gr��eres dort lauerte, wo er es gerade nicht mehr erfassen konnte. Er sank auf den kalten Fu�boden, kramte in seiner Jackentasche nach Zigarette und Feuerzeug und rauchte mit untergeschlagenen Beinen und geschlossenen Augen wie ein moderner Buddha, der geduldig auf etwas wartete, von dem er nicht wusste, was es war.


Die vielen Jahre im Dienste ihres Herrn hatten Mrs Grossmith gegen dessen Marotten abgeh�rtet; ihre praktische Veranlagung hatte sie immun gemacht gegen seine Launen und Eigent�mlichkeiten. Demzufolge war ihre nahezu hysterische Reaktion auf Moons Heimkehr kein geringer Anlass zur Besorgnis.

�Mister Moon!�, heulte sie auf. �Wo sind Sie denn gewesen?�

�Das geht Sie nichts an.�

�Kein Grund, grob zu werden!�, gab sie bissig zur�ck.

Eine lange Pause folgte. Dann seufzte Moon. �Ich bitte um Entschuldigung. Was gibt es? Was ist los?�

�Ein Mann war hier und hat auf Sie gewartet. Die ganze Nacht!�

�Wer?�

�Der hat mir richtiggehend G�nsehaut gemacht, ehrlich. Ich war v�llig durcheinander. Ein kleiner Mann. Klein und ganz wei�.�

�Ein Albino?�

Mrs Grossmith legte das ganze Gesicht in Falten; sie dachte scharf nach. �Ich glaube, das ist das richtige Wort.�

�Was hat er gesagt?�

�Blo�, dass er Sie sehen m�sse und dass es sehr wichtig sei.� Sie griff in ihre Sch�rzentasche und hielt Moon eine wei�e rechteckige Karte hin. �Die hat er f�r Sie hiergelassen.�

Ihr Dienstherr warf einen Blick darauf. �Sie ist ja blank!�

�Ich wei�. Ich fragte ihn, ob das ein Versehen sei, aber er sagte nein und dass Sie schon verstehen w�rden. Ihnen kann ich’s ja verraten: Ich f�rchtete mich ein wenig. Was f�r ein Mensch l�sst so eine Visitenkarte zur�ck?�

Moon warf die Karte ins K�chenfeuer, wo sie von den Flammen verzehrt wurde. W�hrend sie brannte, kam er zu einem Entschluss.

Der Schlafwandler schob sich durch die T�r, seine monolithische Gestalt in einen purpurroten Schlafrock gewickelt. Moon w�nschte ihm einen guten Morgen; ein G�hnen war die Antwort.

�Ich sage die Vorstellung heute Abend ab. Es ist h�chste Zeit, dass wir in die Offensive gehen.�

Der Schlafwandler streckte sich und g�hnte wieder. Er kritzelte eine Botschaft auf seine Tafel:

WOHIN

Moons Antwort vertrieb dem Schlafwandler auf unsanfte Weise seine trief�ugige Apathie, und er f�hlte sich pl�tzlich unliebsam hellwach.


Sie warteten die D�mmerung ab, ehe sie das Theater verlie�en; sie schlichen vorbei an einer missbilligenden Mrs Grossmith und einem angetrunkenen Speight, der sich bereits f�r die Nacht niederlie�. Moon l�ftete den Hut zum Gru�e, was der Mann mit versoffenem Lallen quittierte.

Nach einem Fu�weg von wenigen Minuten wartete eine Kutsche. Die beiden kletterten schweigend hinein und nahmen Platz, ohne das Wort an den Kutscher zu richten, der ganz in Schwarz geh�llt war und das Gesicht hinter einem dicken Schal verbarg. Es handelte sich um einen Kollegen des Inspektors, der f�r seinen Takt und seine Verschwiegenheit bekannt war.

�Heute gehen wir auf die Jagd�, erkl�rte Moon dem Schlafwandler, w�hrend sich die Kutsche in Bewegung setzte, �auf die Jagd nach Informationen. Nichts Bestimmtes. Aber ich m�chte nicht, dass sich dein Benehmen von letztem Mal wiederholt.�

Sein Begleiter nickte verst�ndig.

�Aber wenn die Sache unerfreulich wird – was ich mir durchaus vorstellen k�nnte –, dann kann ich mich hoffentlich auf deine … F�higkeiten verlassen, nicht wahr?�

Wieder ein Nicken.

�Danke. Es gibt niemanden, den ich auf diesen unseren kleinen Streifz�gen lieber an meiner Seite h�tte als dich.�

Der H�ne l�chelte scheu vor sich hin, w�hrend die Kutsche durch den Abend ratterte.

Weniger als eine halbe Stunde sp�ter langten sie an ihrem Ziel an, einer trostlosen Gasse tief im Herzen von Rotherhithe. Es war eine �ble Gegend: ein Wust verdreckter Mietskasernen, Obdachlosenasyle und bauf�lliger Elendsquartiere. Die Stra�en waren durchzogen vom Gestank der Verwahrlosung, und die Menschen darin hatten etwas beinahe Tierhaftes an sich; ihre Gesichter waren schmutziggrau und schorfig. Dieser Teil der Stadt schien beinahe zu schreien nach Zivilisierung, nach Barmherzigkeit und – ja, ich z�gere nicht, das Wort zu verwenden, wie altmodisch Sie es auch immer finden m�gen – nach Liebe.

Auf halbem Wege einer langen Stra�e – unter bauf�lligen H�usern, die sich wie betrunken gegeneinander lehnten, zwischen einer Schenke und einer Herberge, wo die �rmsten der Armen f�r das Recht, zusammengesackt an Seilwerk gelehnt schlafen zu d�rfen, zwei Pence bezahlten – stand ein Etablissement, das Edward Moon gut bekannt war. Ein alter ostindischer Matrose, ein sogenannter �Laskar�, stand stockbesoffen Wache am Eingang. Moon nickte ihm so h�flich zu, als w�re er T�rsteher des Ritz oder irgendeines vornehmen Klubs, dessen Mitglied man �blicherweise f�rs ganze Leben wird. Der Laskar musterte die beiden Ank�mmlinge mit trief�ugigem Misstrauen, lie� sie aber wortlos passieren – offenbar zu betrunken, um Einw�nde zu erheben.

Sie stiegen eine gewundene, ausgetretene Treppe hinab in den Hauptteil des Geb�udes, sein giftiges Herz, einen riesigen Keller, in dem die Luft nach S�nde stank: die ber�chtigte Opiumh�hle von Fodina Yiangou.

Durch das ganze Gew�lbe zogen sich Wolken fahlgelben Rauches, und auf dem Boden w�lzten sich menschliche K�rper – verkr�mmt, h�sslich und krankhaft. Ein junger Mann sa� da mit h�ngender Unterlippe und weitaufgerissenen Augen, deren Pupillen auf die Gr��e von Stecknadeln geschrumpft waren, und irrte durch irgendwelche Himmel oder H�llen seiner eigenen Sch�pfung – ein Bild v�lligen Verfalls. Zusammengekauert neben ihm hockte ein verlotterter Soldat, der immer noch die nach Jahren der Vernachl�ssigung schmutzige und zerrissene Uniform seines Regiments trug. Die H�nde der M�nner wirkten wie Klauen, die krampfhaft ihre Opiumpfeifen umklammerten – jenes F�llhorn, das Qual und Ekstase zugleich �ber sie aussch�ttete. Schl�frig vom Mohn lehnten sie schlaff und teilnahmslos auf ihrem jeweiligen Lager, die bleichen, teigigen Gesichter vom Schein der �llampen erhellt – hilflose Marionetten, denen der Puppenspieler die F�den gekappt hat. Moon und der Schlafwandler bahnten sich ihren Weg zwischen ihnen hindurch, und jeder der M�nner erschauerte heftig, als die beiden vorbeigingen.

�Nichtsnutzige Tr�umer�, murmelte der Magier. Sein Begleiter warf ihm einen seltsamen Blick zu, aber noch ehe er etwas auf seine Tafel schreiben konnte, tauchte ein krummr�ckiger Orientale vor ihnen auf. Die Haut seines Gesichtes war rissig und wund und sah aus wie von einer ekelhaften Krankheit entstellt.

�Mister Moon?� Seine Stimme klang heimt�ckisch, verschlagen, und er sprach mit einem starken Akzent.

Der Magier verbeugte sich h�flich.

Der spitze Finger des Chinesen stie� w�tend auf den Schlafwandler zu. �Warum er hier?�

Moon – der in seiner Eigenschaft als Detektiv zugegen war – tat sein Bestes, ihn zu beschwichtigen. �Der Schlafwandler ist als mein Gast mitgekommen. Sie haben mein Wort, dass er sich einwandfrei benehmen wird.�

�Er nicht willkommen�, beharrte Yiangou.

�Ach, das sollten Sie nicht sagen!� Moon bedachte ihn mit einem breiten, vers�hnlichen Grinsen. �Damit verletzen Sie seine Gef�hle!�

�Was Sie wollen?�, fauchte Yiangou.

�Was ich will?�, wiederholte Moon abw�gend. Er trat auf den Chinesen zu, packte seine Mopsnase und zerquetschte sie fast zwischen Daumen und Zeigefinger. �Ich will Informationen, Mister Y! Und ich bin �berzeugt, Sie werden meinem Wunsch bereitwillig nachkommen!�

Yiangou jaulte auf und nickte widerstrebend.

�Na, pr�chtig�, sagte Moon und lie� die Nase los. �Und jetzt wollen wir doch sehen, ob wir nicht eine zivilisierte Art der Unterhaltung zustandebringen. Ich untersuche den Mord an Cyril Honeyman.�

Yiangou nickte m�rrisch.

�Ich bin sicher, ein Mann Ihres Intellekts k�nnte einen Tip riskieren, was meine n�chste Frage angeht.�

Der Chinese lachte h�misch auf. �Wenn kommen hierher, dann Sie wissen nicht mehr aus noch ein!�, stellte er fest. �Ich glaube, Sie erfolglos! Sie versagt!�

�Ich versage nie�, entgegnete Moon steif.

�Clapham!�, gackerte der Chinese triumphierend. �Sie versagen dort!�

Der Schatten des Schlafwandlers fiel �ber Yiangou, und der Chinese verstummte augenblicklich.

�Ich will Namen h�ren�, forderte Moon, �und alles, was Ihnen �ber den Fall zu Ohren gekommen ist. Jedes Gemunkel, jeden Fingerzeig, der einem Ihrer umnachteten Kunden herausgerutscht sein k�nnte. Alles, was London an Abschaum beherbergt, kommt fr�her oder sp�ter hier vorbei. Und irgendeiner dieser Halunken wird doch etwas wissen!�

�Ich Ihnen nicht helfen, Mister Moon�, gluckste Yiangou.

�Ich k�nnte Sie dazu bringen.�

�Das ich glaube nicht!�

Moon funkelte ihn w�tend an. �Wissen Sie etwas oder nicht?�

Der Chinese hob umst�ndlich und betont langsam die Schultern und kicherte dazu.

�Sie wissen etwas!�

Yiangou sch�ttelte den Kopf.

�In Anbetracht unserer langen Freundschaft, Mister Yiangou, finde ich, dass Sie es mir schuldig sind, zu sagen, worum es sich handelt.�

Der Chinese grinste albern.

�Andernfalls�, gab Moon ihm sachlich zu bedenken, �m�sste ich meinen Freund hier bitten, Ihnen nacheinander alle Finger zu brechen.�

�Ah ja�, seufzte Yiangou. �Man mir sagte, ich sollte erwarten Ihre Besuch.�

Er klatschte in die H�nde, und zwei st�mmige M�nner erschienen an seiner Seite – nackt bis zum G�rtel, schwei�gl�nzend, �ppig t�towiert und beeindruckend muskul�s. Yiangou schnalzte mit seinen ledrigen Fingern, und auf dieses Signal hin zogen die beiden M�nner be�ngstigend teuflisch aussehende Schwerter hervor und r�ckten gegen Moon und den Schlafwandler vor.

�Man hat es Ihnen gesagt?�, bemerkte der Magier nachdenklich. �Wer, frage ich mich, hat es Ihnen gesagt …�

Einer der beiden halbnackten M�nner st�rzte sich mordl�stern auf ihn und lie� die Klinge eine Handbreit vor Moons Gesicht durch die Luft sausen.

�Sie machen mich nerv�s, Mister Yiangou. Wenn man bedenkt, dass Sie stets ein so gro�z�giger Gastgeber waren …�

Der Mann schwang erneut die Klinge, und Moon tat instinktiv einen Schritt r�ckw�rts. Innerlich schalt er sich, weil er nicht daran gedacht hatte, eine Waffe mitzunehmen. Er schluckte kurz und wischte sich ein Schwei�tr�pfchen von der Schl�fe.

Der andere Muskelprotz schwang sein Schwert drohend vor dem Schlafwandler, der im Gegensatz zu Moon – welcher sich angesichts k�rperlicher Gewalt nie recht wohl f�hlte – keinen Zoll zur�ckwich.

�Gehen weg!�, kreischte Yiangou, w�hrend Moon etwas von Mut und Mameluk murmelte. �Sie herkommen�, fuhr der Chinese fort, �Sie drohen. Sie st�ren meine Kunden. Sie machen �rgerlich f�r viele Jahre!�

�Ich kann diesen Sumpf jederzeit schlie�en lassen!�, entgegnete Moon mit einem Anflug von Zittern in der Stimme. �Der einzige Grund, warum Sie immer noch hier sind, ist der Nutzen, den Sie f�r mich haben!�

Das war offenbar das Falscheste, was er sagen konnte. Yiangou klatschte in die H�nde, und seine Schl�ger gingen, Mordlust in den leuchtenden Augen, aufs Ganze. Moon sprang zur Seite, als einer versuchte, ihn aufzuspie�en, wurde aber gegen die Wand zur�ckgedr�ngt. Ersch�pft kam ihm zu Bewusstsein, dass er nicht mehr lange Widerstand leisten konnte.

Doch der Schlafwandler stand immer noch wie ein Fels in der Brandung. Der zweite Angreifer rannte br�llend auf ihn zu und stie� wie ein ausnehmend grimmiger Speerwerfer, der nicht f�hig oder willens war, seinen Wurfspie� loszulassen, die Klinge tief in den Bauch des H�nen.

Der Schlafwandler blickte hinab auf die Wunde, sein Gesichtsausdruck ein Bild leiser Neugier, blickte wieder hoch und l�chelte. Sein M�chtegernm�rder starrte zur�ck – erst ungl�ubig und dann voll Entsetzen, als der Schlafwandler, ohne das geringste Anzeichen von Schmerz, einen Schritt vorw�rts machte und sich damit noch tiefer ins Schwert st�rzte, um an seinen Angreifer heranzukommen. Dieser erwartete, sein Opfer jeden Moment fallen zu sehen. Er hielt den Griff des Schwerts mit aller Kraft fest, obwohl der Schlafwandler immer noch unbarmherzig auf ihn zukam, w�hrend die Klinge ungehindert in seinen Bauch eindrang, um fleckenlos am R�cken wieder zum Vorschein zu kommen. Der Mann hielt stand, bis der Riese sich fast �ber ihm befand, und erst dann lie� er die Waffe los und st�rmte wie von Teufeln gehetzt davon, wobei er eine endlose Reihe gellender Fl�che ausstie�.

Aufgest�rt vom Tumult hatten einige der Opiumsklaven begonnen, sich zu bewegen, st�hnten und brabbelten verwirrt und erhoben sich wankend auf die F��e. In ohnm�chtiger Wut heulte Yiangou auf und bellte seinem verbliebenen Diener einen Befehl zu. V�llig sinnlos, jedoch in bewundernswerter Nibelungentreue rannte der Mann auf den Schlafwandler zu und stie� im das Schwert in den R�cken. Der Riese schleuderte ihn m�helos zur Seite und zog sich ohne mit der Wimper zu zucken beide Schwerter aus dem Leib. Genau wie im Theater des Unglaublichen waren die Klingen vollkommen sauber.

Moon trat zu ihm. �Ich danke dir.� Sie wandten sich beide zu Yiangou. �Also�, sagte Moon, �wer, zum Teufel, hat es Ihnen zugetragen?�

Wie bet�ubt sch�ttelte der Chinese den Kopf.

Moon versuchte es mit gutem Zureden. �Mister Yiangou, Sie erkl�rten mir, irgendjemand h�tte Ihnen gesagt, mich zu erwarten. Alles, was ich will, ist ein Name!�

Yiangou schien wirklich ver�ngstigt. �Ich kann nicht, Mister Moon! Ich kann nicht!�

�Nun gut. Ich werde den Schlafwandler ersuchen, sanft mit Ihnen zu verfahren. Denn wie Sie gesehen haben, ist er ein Mann, der sich �ber die Grenzen seiner Kr�fte gar nicht im klaren ist.�

Einer der Pfeifenraucher, ein backenb�rtiger Geck, der bislang still dagelegen hatte, taumelte auf die F��e und br�llte etwas Unverst�ndliches in die Luft. Erschrocken drehten sich Moon und der Schlafwandler zu ihm um, und da ergriff Yiangou die Gelegenheit und rannte davon. Fast augenblicklich war er wie vom Boden verschluckt – verschwunden in dem Labyrinth seiner Lasterh�hle.

Der Schlafwandler machte Anstalten, ihm zu folgen, aber Moon hielt ihn zur�ck. �Das hat keinen Sinn. Er kennt sich hier weit besser aus als wir. Ich f�rchte, f�r heute abend ist er uns entwischt.�

Der Riese wirkte entt�uscht.

�Bist du eigentlich wohlauf? Die Sache eben muss selbst von dir ihren Tribut gefordert haben!�

Der Schlafwandler runzelte die Stirn.

�Du siehst nicht gut aus. Ich denke, wir sollten rasch gehen.� Sie verlie�en die Opiumwracks und machten sich voll der Vorfreude auf die Fleischbr�he, die Mrs Grossmith ihnen f�r ihre R�ckkehr versprochen hatte, auf den Weg nach Hause. Doch als die Kutsche auf den Albion Square einbog, sahen sie Inspektor Merryweather bereits auf den Stufen vor dem Eingang zur Wohnung warten. Er stand neben Speight, doch ganz offensichtlich f�hlte er sich in Gegenwart des Landstreichers nicht wohl. Letzterer hingegen erweckte den Eindruck, mitten in einer angeregten Unterhaltung mit dem Inspektor zu sein: er sprach mit lauter Stimme und deutete dabei auf sein Plakat, mit dem er geradezu verwachsen schien.

JA, ICH KOMME BALD
OFFENBARUNG 22.20

�Meine Herren!�, rief Merryweather ihnen entgegen, als sie aus der Kutsche stiegen.

�Inspektor!�

�Was haben Sie denn heute getrieben?�, fragte er und musterte dabei das ramponierte �u�ere der beiden.

�Versucht, Ihren Fall zu l�sen�, entgegnete Moon etwas bissig.

�Ich habe schlechte Neuigkeiten�, sagte Merryweather.

Der Detektiv aus Passion seufzte. �Raus damit!�

Der Inspektor richtete sich zu voller Gr��e auf und machte eine dramatische Pause.

�Nun?� Moon war nicht in Stimmung f�r Spielchen.

Merryweather schluckte. �Es gab einen weiteren Vorfall.�


SIEBEN

W�hrend die Kutsche zur�ck in die Stadt ratterte, erkl�rte der Inspektor alles.

�Wie hie� er?�, fragte Moon. Er schien wieder hellwach und voller Tatkraft, wohingegen sich der Schlafwandler, erm�det von einer Nacht, die ihn arg mitgenommen hatte, in ein wohliges Dahind�sen gleiten lie�.

�Der Name des Opfers ist Philip Dunbar. Wie Honeyman das Einzelkind einer verm�genden Familie, ein M��igg�nger und Verschwender. Und genau wie Honeyman fiel auch er vom Turm.�

�Derselbe Schauplatz?� W�tend ballte Moon die F�uste.

�Dunbar hatte Gl�ck.�

�Gl�ck? Inwiefern?�

�Er hat �berlebt, Mister Moon. Er hat �berlebt.�


Philip Dunbar lag im Sterben. Er mochte einst ein gut aussehender Mann gewesen sein, doch nun war dies nicht mehr feststellbar: Mit eingeschlagenen Z�hnen und zertr�mmertem Gesicht wand und kr�mmte er sich hilflos auf dem Bett, dessen Laken bereits steif war von Blut, Schwei� und Urin. Er glich mehr einem zerschmetterten Tier als einem jungen Menschen, dessen ganzes Leben noch Stunden zuvor angenehm und problemlos vor ihm gelegen hatte.

�Wie lange hat er noch?�, fragte Moon.

�Der Doktor sagt, es k�nnte jeden Moment zu Ende sein�, fl�sterte Merryweather. �Eigentlich ist es ein Wunder, dass er �berhaupt noch am Leben ist.�

Unverst�ndliches vor sich hinmurmelnd b�umte sich Dunbar auf.

�Der arme Teufel ist im Delirium. Soweit wir ihn verstehen konnten, wurde er von irgendeinem Tier angegriffen. Eine Art Affe nannte er es, dessen Gesicht mit Schuppen bedeckt gewesen sei.�

�Mit Schuppen?�

�Die �rzte haben ihm eine ordentliche Dosis Morphium verabreicht. Da kann man es ihm nicht ankreiden, wenn seine Phantasie mit ihm durchgeht.�

�Sonst noch etwas?�

�Er redet immer wieder von seiner Mutter. Sagte, er h�tte sie gesehen.�

�Seine Mutter?� Moon sah den Polizeiinspektor verbl�fft an.

�Der erste Mensch, nach dem ein Mann ruft, wenn er in einer solchen Lage ist, denke ich.�

Dunbar schrie wieder auf, und diesmal kamen seine Worte deutlicher: �Gott sei mit euch!�

�Wie?� Moon schien beunruhigt. �Was war das?�

Zuckend und bebend versuchte der Mann sich aufzusetzen. �Gott sei mit euch�, murmelte er. �Gott sei mit euch.� Ein schwaches St�hnen entrang sich seiner Kehle, und er fiel zur�ck – stumm, aber immer noch atmend. Doch der Faden, an dem sein Leben hing, war ausgefranst und beinahe durchgescheuert.

Merryweather seufzte. �Es ist hoffnungslos, er ist schon fast hin�ber. Aber je fr�her es vorbei ist, desto besser f�r ihn.�

Moon drehte sich um und ging weg. �Ich m�chte es sofort erfahren, wenn er stirbt.�

�Sie sollten das nicht pers�nlich nehmen!�, wandte der Inspektor ein.

�Es gibt da ein gewisses Muster, Inspektor. Weshalb nur kann ich es nicht erkennen?�

Drau�en d�ste der Schlafwandler noch immer in der Droschke. Oben auf dem Bock sa� frierend der Kutscher.

�Fahren Sie uns nach Hause.�

Der Mann nickte.

�Inspektor?�, rief Moon, ehe sich die Kutsche in Bewegung setzte.

�Ja, Mister Moon?�

�Ich m�chte Honeymans Leichnam sehen.�

�Bedaure, die Familie lie� ihn letzte Woche ein�schern.�

�Ein�schern?�

�Tut mir leid.�

Moon runzelte die Stirn. �Ich setze mich demn�chst wieder mit Ihnen in Verbindung.�

�Es ist Ihnen doch klar, dass wir alldem Einhalt gebieten m�ssen!�, f�gte Merryweather eindringlich hinzu. �Es muss ein Ende haben!�

Moon gab dem Kutscher ein Zeichen, dass er losfahren sollte. �Geben Sie mir Zeit�, rief er zur�ck. �Geben Sie mir ein wenig mehr Zeit!�


Etwa eine Stunde, nachdem Merryweather ihm einen raschen Tod gew�nscht hatte, verschied Philip Dunbar unter unertr�glichen Qualen, br�llend bis zu seinem letzten Augenblick. Bedauerlicherweise bestand Moons Reaktion darin, sich wiederum dem Drang nach Verderbtheit zu ergeben, und zwei Tage sp�ter war er in Mrs Puggsleys Freudenhaus zugange.

K�stlich ermattet lag er ausgestreckt auf einem Sofa im Empfangssalon, einen hauchd�nnen Damenmorgenrock gerade so weit �ber sich gebreitet, dass der Sittsamkeit Gen�ge getan war. Mina, das M�dchen mit dem Vollbart und der verk�mmerten Gliedma�e auf der Brust, steckte ihm einen brennenden Zigarillo zwischen die Lippen und flatterte geziert aus dem Salon.

Die Kupplerin selbst rieb sich erfreut die H�nde. �Ich darf doch annehmen, dass Mina sich als zufriedenstellend erwiesen hat, nicht wahr?�

�Ganz au�erordentlich! Sie ist zu meiner Favoritin geworden.�

Im Salon sa�en noch drei weitere. M�dchen – alles fr�here Favoritinnen –, und bei Moons Bemerkung setzten sie betr�bte Mienen auf oder verzogen emp�rt das Gesicht. Eine von ihnen, ein Stecknadelk�pfchen – ein leicht zur�ckgebliebenes Gesch�pf namens Clara –, schlich unterw�rfig zu Moon und fing an, ihm sanft �ber den Nacken zu streichen. Der Magier warf ihr ein paar M�nzen zu, und sie h�pfte gl�cklich davon.

�Heute gehen die Gesch�fte wohl ziemlich schleppend, wenn so wenige Ihrer M�dchen bei der Arbeit sind�, sagte er.

�Ganz recht, Sir, ganz recht! Sie waren unser erster Freier heute Abend! Aber eigentlich geht das Gesch�ft schon die ganze Woche schleppend.�

�Tats�chlich?� Moon machte einen erfolglosen Versuch, Rauchringe zu produzieren – sehr zur Erheiterung einer der Frauen, einem graugesichtigen Wesen mit einem schmerzhaft aussehenden Hautleiden und Flossen statt H�nden. Mrs Puggsley schalt sie leise aus. �Mister Gray� z�hlte zu den Stammkunden und durfte nicht offen verspottet werden.

�Aber ganz gewiss wird bald wieder mehr Betriebsamkeit herrschen.�

Mrs Puggsley sch�ttelte ihre ganze massive Statur, was vermutlich als Achselzucken zu verstehen war. �Erst wenn das Wandervolk wieder weg ist�, seufzte sie, und die M�dchen murmelten zustimmend.

Moon setzte sich auf, zog das Neglig� zurecht und dr�ckte den Zigarillo aus. �Wandervolk?�, fragte er.


Ich machte Moon einmal Vorhaltungen, dass seine Besuche in Mrs Puggsleys Bordell die verwerfliche Entgleisung eines ansonsten mehr oder weniger moralischen Charakters darstellten – dass die perverse Anziehungskraft, die diese armen, ausgesto�enen Missgriffe der Natur auf ihn aus�bten, eine Schw�che war, die g�nzlich unter seiner W�rde lag. Darauf entgegnete er, diese Kontakte w�ren Indiz und Auswirkung eines wissbegierigen Geistes, dem der Sinn nach Erfahrungen mit dem Unbekannten stand, und – als weitaus �berzeugenderes Argument – dass Mrs Puggsleys Haus f�r sich allein genommen nichts Schimpfliches, sondern nur das Symptom einer ungerechten Gesellschaft sei. Mrs Puggsley, so wandte er ein, b�te eine Zufluchtsst�tte f�r diese M�dchen aus einer Welt, die andernfalls nur Hass und Abscheu f�r sie �brig h�tte.

Was die Gesellschaft betraf, so hatte er nat�rlich recht. Es war unsere Gesellschaft und nicht Mrs Puggsley, die diese verletzlichen Frauen in ihre erniedrigende Lage zwang. Mir scheint, ich machte bereits eine Bemerkung des Inhalts, dass ich mein Leben daf�r geben w�rde, diese Gesellschaft zu ver�ndern, sie zu veredeln und zum Besseren zu wandeln. Doch wie auch immer es um Mrs Puggsleys wohlt�tige Menschenliebe bestellt war, eines ist sicher: In jener Nacht lieferte sie den Schl�ssel zu den Morden an Honeyman und Dunbar.


�Erz�hlen Sie mir vom Wandervolk�, sagte Moon.

Eines der M�dchen kicherte.

�Es sind Schausteller�, erkl�rte Mrs Puggsley. �Ein umherziehender Vergn�gungspark. Haupts�chlich Karusselle und Kuriosit�ten. Aber einige ihrer Missgeburten sind einer Nummer nebenbei keineswegs abgeneigt. Und ich verhehle nicht, dass sie meinem Gesch�ft schaden.�

�Wie sehen sie aus?�

Mrs Puggsley �chzte. �Sie haben alles m�gliche da unten – Wassernixen und Zwerginnen und ein M�dchen, das mit den Augen Luftballons aufblasen kann. Wie sollten wir damit konkurrieren k�nnen?�

Mina kam in den Salon zur�ck. �Wir sollten es �berhaupt nicht versuchen�, sagte sie, w�hrend sie sich zerstreut mit einem Kamm durch den Bart fuhr. �Es ist eine wahre Schande, wie sie sich r�cksichtslos in unser Gesch�ft hineingedr�ngt haben.� Sie lie� sich neben Moon nieder, gab ihm einen fl�chtigen, leidenschaftslosen Kuss auf die Wange und fuhr mit der Entwirrung ihres Gesichtsschmucks fort.

Moon bemerkte es kaum. �Wie lange sind diese Leute schon hier?�

�Es wird wohl einen Monat her sein, dass sie angefahren kamen.�

�Gibt es dort auch Akrobaten? Turner? Sprungartisten? M�nner, die in der Lage w�ren, an Geb�uden hochzuklettern?�

�Das w�sste ich nicht�, entgegnete Mrs Puggsley von oben herab. �Ich habe keinerlei Neigung, derartige �rtlichkeiten zu besuchen.�

Clara, das Stecknadelk�pfchen, meldete sich zu Wort. �Aber ich war dort�, gestand sie. �Ich habe auch diesen Mann gesehen, der einen Kirchturm hochklettert und auf der Spitze tanzt! Er kann einfach an allem hochkriechen, sagten sie dort. Deswegen nennen sie ihn auch ›Fliegenmensch‹ – und weil er eben so komisch aussieht.�

�Beschreibe ihn!�

�Er ist schrecklich anzusehen, Sir! Mit diesen Schuppen auf dem ganzen Gesicht …�

�Schuppen? Bist du sicher?�

Clara nickte lebhaft.

Moon sprang auf. Ohne das geringste Schamgef�hl zu zeigen, schleuderte er das Neglig� zur Seite und kleidete sich vor den ausschlie�lich weiblichen Anwesenden an. �Wo befindet sich dieser Jahrmarkt?�

�Ist das wichtig?�, erkundigte sich Clara.

�Wichtiger als du dir vorstellen kannst�, antwortete er, w�hrend er mit den Manschettenkn�pfen k�mpfte.

�Auf der S�dseite des Flusses. Eine Meile oder so hinter Waterloo.�

Moon dankte ihr und rannte in Richtung Ausgang.

Mrs Puggsley erhob sich wackelig. �Es ist uns immer ein Vergn�gen, Mister Gray! D�rfen wir Sie bald wieder erwarten?�

�Darauf k�nnen Sie sich verlassen!�, rief Moon zur�ck. Er lief aus dem Haus, rannte zur�ck zur Goodge Street und hielt die erste Droschke an, die er erblickte, um sich eiligst zum Albion Square bringen zu lassen.


�Nun�, sagte Mrs Puggsley, als sie sich mit feister Schwerf�lligkeit in ihren Lehnstuhl zur�ckbewegte, �zumindest einen Kunden konnten wir zufriedenstellen, nicht wahr?�


Moon sauste zur T�r des Theaters des Unglaublichen, vor der sich g�nstigerweise ein Gassenjunge herumtrieb. �He, B�rschchen!�, rief Moon.

Das Kind, ein zerlumptes, unterern�hrtes Kerlchen, sah hoch. �Ja, Sir?�

�Du bekommst einen Sovereign von mir, wenn du diese Botschaft zu Scotland Yard bringst.� Er kritzelte eine Nachricht auf ein Blatt Papier und reichte es dem Jungen. �Und �bergib es einem Mann namens Merryweather pers�nlich. Hast du das verstanden?�

�Einen Sovereign?�, fragte der kleine Herumtreiber.

�Zwei, wenn du schnell bist. Also los jetzt!�

Es brauchte keine weitere Aufforderung; im n�chsten Moment war der Junge in der Dunkelheit verschwunden.

Speight murrte schlaftrunken, als Moon an ihm vorbei die Stufen zu seiner Wohnung hinabst�rmte.

Mrs Grossmith bereitete sich soeben ihren Schlummertrunk, als Moon in die K�che st�rzte. �Wieder ein wenig spazieren gewesen?� Ihre Stimme troff vor Missbilligung.

Moon ignorierte sie. �Wo ist der Schlafwandler?�

�Er ruht, Sir. Schon seit drei Stunden.�

�Dann m�ssen wir ihn wecken�, rief Moon und lief zum Schlafzimmer.

�Ist etwas passiert?�, fragte die Haush�lterin, war aber nicht �berrascht, als jegliche Antwort ausblieb.

Moon r�ttelte seinen Freund wach. �Wir haben ihn!�, schrie er. �Wir haben unseren Mann!�


Eine halbe Stunde sp�ter standen Moon, Mrs Grossmith und der Schlafwandler im unerbittlich herab st�rzenden Regen vor den Stufen des Theaters. Speight torkelte herbei, um nachzusehen, wodurch diese ganze Aufregung verursacht wurde. �Was ist denn los?�, fragte er. Aber niemand beachtete ihn.

�Das ist keine Nacht, um drau�en zu sein!�, lamentierte Mrs Grossmith.

�Wir haben keine andere Wahl�, entgegnete Moon.

�Wohin wollen Sie denn �berhaupt zu dieser unchristlichen Stunde?�

Doch noch ehe jemand antworten konnte, ratterte eine vierr�drige Kutsche �ber den Albion Square, blieb vor dem Theatereingang stehen und spuckte einen vergr�mt wirkenden Merryweather und zwei bullige Polizisten in Zivil aus.

�Ich hoffe f�r Sie, dass Sie recht haben�, sagte der Inspektor zu Moon. �Sie haben mich aus dem Tiefschlaf geholt!�

Der Schlafwandler nickte voll bleiernem Mitgef�hl.

�Fahren wir los, ehe dieses Wetter noch schlechter wird. Wenn es stimmt, was Sie behaupten, dann wird das der Fang meiner Laufbahn!�

�Habe ich Sie je entt�uscht, Inspektor?�

M�glicherweise war es nicht das schlechteste, dass Merryweathers Antwort von Wind und Regen verschluckt wurde.

W�hrend die Kutsche den Albion Square verlie�, gingen Mrs Grossmith und Speight tr�bselig zur�ck zur Treppe – kopfsch�ttelnd in einem Moment unerwarteter Eintracht. Der Vagabund lie� sich stoisch auf einer Stufe nieder, worauf Mrs Grossmith pl�tzlich Gewissensbisse versp�rte.

�Mister Speight? Es ist eine kalte Nacht. Darf ich Ihnen ein wenig hei�e Fleischbr�he anbieten?�

Er nickte dankbar, rappelte sich m�hsam wieder hoch, und dann zogen sich die beiden in die barmherzige W�rme von Mrs Grossmiths K�che zur�ck.


Als die Kutsche endlich beim Wanderzirkus eintraf, sch�ttete es noch immer in Str�men – und was es noch schlimmer machte, war der dicke Nebel, der sich gerade auf die Stra�en herabsenkte, was selbst der harmlosesten Szenerie einen unheimlichen, bedrohlichen Anstrich verlieh.

Die Schausteller hatten sich etwa eine Meile westlich von Waterloo niedergelassen und bev�lkerten ein kleines St�ck unbebautes Heideland, das sich an eine Reihe Wohnh�user anschloss. Dahinter, in einiger Entfernung, stand eine Kirche.

Der Jahrmarkt selbst bestand aus nicht mehr als einem Dutzend Wohnwagen, die mitten auf dem Gel�nde einen Kreis bildeten. An einigen von ihnen waren Schilder und Tafeln angebracht, die Wettk�mpfe, Spiele und Kuriosit�ten versprachen, aber alles war schon dunkel und fest verschlossen f�r die Nacht. Die meisten Bewohner der Wagen hatten sich zur Ruhe begeben, nur zwei ungepflegte, unrasierte M�nner hockten noch lustlos an einem d�rftigen, funkenspritzenden Feuerchen. Das jammervolle Wehklagen einer billigen Fl�te, nahezu verschluckt vom Regen, zog �ber das Lager.

Als die Detektive auf die beiden zugingen, blickte einer von ihnen hoch; Streitlust blitzte in seinen Augen auf. �Was wollt ihr?�, fragte er. Von seinem linken Ohr baumelte ein gro�er Metallring von der Art, wie sie gemeinhin von Rindern an der Nase getragen wird.

Merryweather – seit langem gewohnt, mit Menschen dieser Schicht umzugehen – zog es vor, seinen Berufsstand unerw�hnt zu lassen, und erkl�rte nur, zwecks �bergabe einer gewissen Summe im Austausch gegen gewisse Informationen den Eigent�mer des Unternehmens sprechen zu wollen. Der Mann mit dem Ohrring warf dem Inspektor einen misstrauischen Blick zu, stand aber dennoch auf und schlurfte in den Nebel davon. Der beherztere der beiden Polizisten in Zivil – Moreland mit Namen – machte den unbedachten Versuch, mit dem verbleibenden Zigeuner ein Gespr�ch zu beginnen, was jedoch mit einer br�sken Handbewegung zur�ckgewiesen wurde.

Nach geraumer Zeit tauchte der Direktor auf und der Nebel musste in der Zwischenzeit noch dichter geworden sein, denn sein N�herkommen k�ndigte sich durch nichts an: Er tauchte aus dem Nichts auf und stand pl�tzlich dicht am rechten Ellbogen des Schlafwandlers. Er musterte den H�nen wie ein Bauer, der einen Bullen auf dem Viehmarkt begutachtet. �Solltest du nicht eigentlich bei uns auftreten?�, fragte er ihn dann.

Ein gerissener kleiner Schurke mit einem Rattengesicht, der sich als Mister King vorstellte. �Was kann ich f�r Sie tun, Herrschaften? Muss ja etwas verteufelt Wichtiges sein, wenn es Sie mitten in der Nacht und noch dazu bei solchem Wetter hier heraus treibt.�

�Wir suchen nach einem Mann�, erkl�rte Merryweather.

�Gibt viele M�nner hier�, wieherte King h�misch.

�Er ist bekannt�, schaltete sich Moon ein, �unter der Bezeichnung ›Fliegenmensch‹.�

Ein schlauer, argw�hnischer Ausdruck legte sich �ber die unangenehmen Z�ge des Mannes. �Aha, hinter der Fliege sind Sie her. Und was hat er diesmal wieder angestellt?�

�Was bringt Sie auf den Gedanken, dass er etwas angestellt haben k�nnte?�, fragte Moon behutsam.

�Oh, er bringt sich immer wieder in Schwierigkeiten. Ein munteres Kerlchen, der Bursche.� Kings Zunge schoss hervor, um seine Unterlippe zu befeuchten. �Sehr aufgeweckt.�

�K�nnen wir ihn sprechen?�

Der Direktor hob die Schultern. �Ich m�chte den Jungen ungern wecken, er hat einen gro�en Tag vor sich. Da er doch eine unserer Hauptattraktionen ist, Sie verstehen.�

Merryweather holte seine Brieftasche hervor und zog eine F�nfpfundnote heraus. �Ich werde verdoppeln, wenn Sie uns zu ihm f�hren.�

King machte eine schleimige Verbeugung. �Folgen Sie mir, meine Herren. Bleiben sie dicht hinter mir, dieser Nebel kann ganz sch�n t�ckisch sein.�

Sie hatten jeden Grund, seine Warnung zu befolgen, denn der Nebel hatte sich zu einer Londoner Spezialit�t entwickelt, welche die Sicht auf kaum mehr als einen Schritt beschr�nkte. Die Feuchtigkeit griff gierig nach ihnen, w�hlte sich hoch und fing sich in den Kleidern, von wo aus sie kalt und klamm bis an die Haut drang. Als der Schlafwandler erschauerte, legte Moon ihm die Hand auf den Arm.

�Ich wei�, mein Alter�, sagte er. �Tut mir leid.�

King f�hrte sie zu einem kanariengelben Wohnwagen, dessen Farbe abbl�tterte und der etwas au�erhalb des Kreises seiner Kollegen abgestellt war – der Paria der Sippe. Als sie n�her kamen, war auf der Seitenwand des Wagens die Aufschrift DER FLIEGENMENSCH zu erkennen und daneben ein seltsames aufgemaltes Symbol: eine schwarze f�nfbl�ttrige Bl�te.

King h�mmerte gegen die T�r. �Besuch!�, rief er. �Besuch f�r dich!�

Ein dumpfes Knurren kam aus dem Inneren des Wagens.

�Sie haben Geld!�, lockte King.

Ein neuerliches Knurren, w�tend und animalisch.

�Wir m�chten Ihnen nur ein paar Fragen stellen�, sagte Moon bes�nftigend. �Wir w�rden uns mit einer erheblichen Belohnung daf�r bedanken.�

Z�gernd �ffnete sich die T�r einen Spalt, und ein bizarres Wesen steckte den Kopf ins schwache Licht. Auf den ersten Blick schien es gar nicht menschlicher Natur zu sein. Es war ein Monster – tierisch, wild, das Gesicht bedeckt mit br�unlichen Beulen und Schuppen; es sah auf die M�nner herab und knurrte.

Merryweather lie� ein nerv�ses H�steln vernehmen. �Sieht er immer so aus?�

King grinste albern. �Wie ich schon sagte, ein aufgewecktes Kerlchen.�

Moon ignorierte die beiden. �Wir haben nicht vor, Ihnen etwas anzutun!�

Die Fliege starrte ihn unsicher an.

�Mein Name ist Edward Moon, und dies ist mein Assistent, der Schlafwandler. Wir untersuchen die Todesf�lle Cyril Honeyman und …�

Noch ehe er weitersprechen konnte, schrie der Fliegenmensch gellend auf. �Moon!�, kreischte er mit gutturaler, schauerlich klingender Stimme. �Moon!�

Der Magier l�chelte. �Ganz richtig!�

�Moon!�

�Genau. Haben Sie meinen Namen schon geh�rt?�

Ohne seine Frage zu beachten, schoss der Fliegenmensch zwischen den M�nnern hindurch und verschwand im dichten Nebel. Er hatte sich so rasch bewegt, dass alle – selbst der Schlafwandler – zu erschrocken und damit zu langsam waren, um ihn aufzuhalten.

�Sieht ganz so aus, als h�tten Sie ihm nicht gefallen�, feixte King und streckte die Hand aus. �Und nun zu meinem Honorar …�

Moon stie� ihn mit der Schulter zur Seite. �Zum Teufel damit�, rief er und rannte hinter der Fliege her in die Nebelsuppe hinein.

Merryweather wandte sich an seine M�nner. �Alles mir nach!�

Begleitet vom Schlafwandler st�rmten sie in die Richtung davon, in die Moon verschwunden war.

Zur�ck blieb King, der sich achselzuckend wieder zu seinem Wagen verzog.


Moon konnte die Gestalt gerade noch als einen grausigen Schatten ausmachen, der irgendwo vor ihm dahinsprang – bald zu erkennen, bald au�er Sicht. Er verfluchte den Nebel. Hinter sich konnte er das Rufen seiner Freunde h�ren, die alle M�he hatten, ihm auf den Fersen zu bleiben.

Der Fliegenmensch floh �ber den Anger und in die anschlie�enden Stra�en. Moon wollte seinen Augen nicht trauen, als er sah, wie der Mann auf die Fassade des erstbesten Geb�udes sprang und mit der Behendigkeit und Eleganz einer Dschungelkatze, die man hier in der Vorstadt freigelassen hatte, daran hochhetzte.

�Bitte!�, schrie Moon in ohnm�chtiger Hilflosigkeit. �Ich m�chte nur mit Ihnen reden!�

Die Fliege zischte etwas zur�ck. Es mochte Einbildung sein, aber Moon h�tte schw�ren k�nnen, dass dieses monstr�se Etwas dort oben immer noch seinen Namen rief.

�Bleiben Sie stehen!�, br�llte Moon. �Kommen Sie herunter!�

Das Wesen beachtete seine Worte nicht und begann stattdessen, das Dach des Geb�udes entlangzujagen. Als es am Ende angelangt war, sprang es ohne innezuhalten auf das angrenzende Haus; offenbar hatte es die Kirche in der n�chsten Stra�e zum Ziel. Es h�pfte, wand und schl�ngelte sich �ber die D�cher hinweg – ein unheimliches Phantom, das sich �ber die kaum auszumachende Silhouette der H�userreihen davonmachte.

Merryweather und die anderen trafen an Moons Seite ein – au�er Atem und zu sp�t.

�Wo ist er?�, keuchte der Inspektor.

Schweigend zeigte Moon nach oben. Der Fliegenmann hockte auf einem Dach, ein paar H�user entfernt. Einen Augenblick lang schwankte er unsicher, doch dann richtete er sich auf und hetzte weiter.

�G�tiger Himmel!� Merryweather bekreuzigte sich. �Ist das da oben leibhaftige Realit�t?�

�Ich f�rchte ja.�

�Sieht so aus, als h�tten wir unseren Mann.�

�Er kennt mich, Inspektor!�, rief Moon. �Irgendjemand legte ihm nahe, uns zu erwarten. Diese Fliege hat nicht allein gehandelt!�

�Erinnern Sie mich, diesen Kerl danach zu fragen�, entgegnete Merryweather aufreizend sarkastisch, �sobald wir ihn in Gewahrsam haben.�

�ber ihnen klapperte ihr Zielobjekt �ber die Schindeln. Als sie in die N�he der Kirche kamen, verloren sie den Fliegenmann aus den Augen, doch gleich darauf hob sich die Nebelwand, und da war er wieder: hoch oben auf dem Kirchturm klammerte er sich an den Wetterhahn und heulte den Mond an.

�Kommen Sie herunter!�, schrie Moon. �Ich bitte Sie!�

Aber das Monster kreischte nur Obsz�nit�ten in die Nacht.

Moon wandte sich an den Schlafwandler. �K�nntest du …�, begann er, aber der Riese unterbrach ihn mit erhobener Hand und kritzelte etwas auf seine Tafel.

H�EN ANGST

�Na wunderbar�, murmelte Merryweather, und Moon warf dem Freund einen entt�uschten Blick zu. Der Inspektor drehte sich hoffnungsvoll zu seinen M�nnern um, aber noch ehe er die Frage stellen konnte, sch�ttelten sie in musterg�ltiger Eintracht den Kopf.

�Wie in Gottes Namen sollen wir ihn da herunterkriegen?�, fragte der Inspektor.

Moon rief erneut nach oben: �Bitte! Wir tun Ihnen nichts! Sie haben mein Wort!�

Wieder ein gellender Schrei von der Kirchturmspitze.

�Was sagt er?�, wollte Merryweather wissen.

�Ich glaube, ich verstehe ihn�, sagte Moreland, der bei seinen Kollegen bekannt war f�r sein au�ergew�hnlich gutes Geh�r. �Es klingt wie … ›Gott sei mit euch‹.�

�Wie?�, machte Moon ungl�ubig.

Die Fliege heulte auf, und Moon schrie nach oben: �Bitte halten Sie ein! Egal, was Sie vorhaben! Wir k�nnen Ihnen helfen!�

Aber es war zu sp�t. Ein weiterer Schrei vom Kirchturm – und diesmal verstanden sie ihn alle: Ein redensartlicher, gedankenlos dahingesagter Satz im Alltag, aber nun irgendwie beunruhigend und grotesk in seiner Ungereimtheit: �Gott sei mit euch!�

Und mit diesem letzten Schrei warf sich der Fliegenmensch in die Tiefe. Der barmherzige Nebel verh�llte seinen Sturz, aber alle h�rten mit gr�sslicher Klarheit das schreckliche Bersten der Knochen, als sein K�rper auf dem Boden aufschlug.

Merryweather rannte zu ihm und f�hlte nach dem Puls. �Tot�, best�tigte er.

Moon stand �ber dem Leichnam des ungl�cklichen Wesens. Im Tode schien es so seltsam zerbrechlich, fast verletzlich. �Das Ende einer menschlichen Fliege�, murmelte er.

�Ganz recht�, gluckste Merryweather vergn�gt. �Sieht ganz so aus, als h�tten wir sie zerquetscht!�

Moon starrte den Inspektor an, Abscheu auf dem Gesicht. �Das ist nicht alles gewesen�, sagte er leise und verschwand im Nebel.


ACHT

Eine Woche darauf, auf der London Bridge, begegnete der Magier und Detektiv wieder dem h�sslichen, unangenehmen Mann.

�Mister Moon!�

Mitten auf der Br�cke stand vorn�bergebeugt ein kurioser Mensch, rief Moons Namen und schwenkte seinen Hut dazu. Sein Gesicht gemahnte an eine dieser Wasserspeierfratzen unter den D�chern der Stadt, die von dort oben herabgeklettert war und sich nun ungestraft in den Stra�en herumtrieb. �Sie sind etwas sp�ter dran als erwartet.�

Moon fasste den Fremden mit den derben Gesichtsz�gen misstrauisch ins Auge. �Kennen wir uns?�

Der andere schien ganz offensichtlich entt�uscht. �Sie k�nnen mich doch auf keinen Fall schon vergessen haben!�

�Mister Cribb?�

Ein promptes Grinsen. �Genau der!� Es war mehr Ausruf als Best�tigung, so als w�rde er meinen, sein Name m�sste jedermann augenblicklich einfallen. Er streckte seine vierfingrige linke Hand aus.

Moon ignorierte es. �Ich meine mich zu erinnern, Sie h�tten versprochen, wir w�rden uns nie mehr wiedersehen.�

Cribb setzte eine aufreizend am�sierte Miene auf. �Ach ja, habe ich das? Nun, zweifellos stimmte das aus meiner Sicht. Aus Ihrer … also sagen wir einfach, dass die Zeit f�r uns beide unterschiedlich abl�uft.�

Der Detektiv schnaubte �rgerlich, wandte sich ab und setzte sich wieder in Bewegung.

�Ich kann Ihnen die Wahrheit �ber die Fliege sagen!�, rief Cribb ihm nach.

Moon erstarrte auf der Stelle, ohne sich umzudrehen. Seine Miene war ausdruckslos und gab keinen seiner Gedanken preis.

Die Andeutung eines L�chelns �berflog Cribbs unsch�nes Gesicht. �Kommen Sie mit mir.�

�Wozu?�

�Weil es das ist, was wir tun. Was wir tun m�ssen, tun werden, schon getan haben. Denn aus einem bestimmten Winkel betrachtet, haben wir es bereits vor Monaten getan.�

�Dazu habe ich keine Zeit�, protestierte Moon, aber schon sp�rte er, wie ihn die Neugier, seine ewige, hartn�ckige Geliebte, am �rmel zog.

�Gehen wir einfach gemeinsam weiter�, sagte Cribb.

Noch ein Moment des Z�gerns, der Unentschlossenheit, und dann ein tiefer Seufzer und ein demonstrativer Blick auf seine Taschenuhr, um einen m�rderisch dicht gedr�ngten Stundenplan anzudeuten. Und dann ein Nicken, ein halbes L�cheln, ein widerstrebendes Einverst�ndnis. Und als sie �ber die London Bridge zur�ckwanderten, begann Cribb zu sprechen.

�Die Wikinger waren hier�, sagte er – irgendwie ins Blaue hinein. �Vor neunhundert Jahren haben sie diese Br�cke zerst�rt.� Er gestikulierte mit weit ausholenden Armbewegungen wie ein eifriger Jungprofessor, der bestrebt ist, bei seiner ersten Vorlesung Eindruck zu machen. Der Klang seiner Stimme wechselte vom Plauderton zum Schulmeisterlichen. �Die Nordm�nner vert�uten ihre Schiffe an den Pfeilern der Br�cke, machten sie mit Seilen und Ketten an den Verstrebungen und St�tzen fest – und dann ruderten sie. Bei ihrer Fahrt flussabw�rts rissen sie die gesamte Konstruktion der Br�cke mit und brachten das herrliche Bauwerk dazu, in die Themse zu st�rzen. ›London Bridge is falling down‹ – das Lied, verstehen Sie? Aber sie wurde wieder aufgebaut, immer wieder, viele Male. Die Stadt hat Bestand.�

�Warum erz�hlen Sie mir das alles?�, fragte Moon, verwirrt von dieser unerwarteten Lektion in Geschichte.

Cribb ignorierte die Frage; offenbar war ihre Beantwortung unter seiner W�rde. Stattdessen sah er Moon an und sagte: �Sie sind kein Mann, der an Fehlschl�ge gew�hnt w�re, nicht wahr?�

�Ganz recht.�

�F�r Sie ist es vielmehr selbstverst�ndlich, Verbrechen nach ein, zwei Stunden im Archiv aufkl�ren zu k�nnen, L�sungen auf knifflige Fragen in Ihrem Lehnstuhl zu finden oder in den Armen irgendeines von Mrs Puggsleys verunstalteten M�dchen auf wesentliche Erkenntnisse zu sto�en.�

�Wie kommt es, dass Sie das alles wissen?� Moon klang beinahe �ngstlich.

Cribb hob die Schultern. �Sie haben es mir selbst gesagt. Oder, besser, Sie werden es mir sagen. Aber es gibt noch so viel, was Sie erfahren m�ssen. Den Honeyman‐Fall haben Sie nie begriffen. Sie wissen auch nicht, wieso die Fliege Ihren Namen gekannt hat. Sie haben so viele Fragen und so ersch�tternd wenige Antworten!�

�Wenn Sie etwas wissen, dann w�rde ich vorschlagen, Sie sagen es mir sofort. Denn sollte es sich als n�tig erweisen, w�re ich in der Lage, das ganze Gewicht des Gesetzes in die Waagschale zu werfen, um mich dabei zu unterst�tzen.�

�Ich bitte Sie.� Cribbs Tonfall war der eines entt�uschten und trotzdem nachsichtigen Lehrmeisters. �Es gibt keinen Grund, mit Drohungen um sich zu werfen. Meine H�nde sind gebunden. Es gibt Regeln.�

�Was wollen Sie also?�

�Jedes Verbrechen hat seinen Hintergrund, Mister Moon. Jeder Mord ist das Ergebnis einer verschlungenen Aufeinanderfolge von Geschehnissen. Gelegentlich kann diese Aufeinanderfolge Stunden, Tage oder Wochen dauern. Doch h�ufiger handelt es sich um eine Sache von Monaten oder Jahren. Und in wenigen, in ganz seltenen, bemerkenswerten F�llen kann ein einzelner Todesfall sogar das Werk von Jahrhunderten verk�rpern. Was Ihnen fehlt, ist die richtige Perspektive. Ich habe einen kleinen Spaziergang vor. Ich m�chte Ihnen die Stadt zeigen.�

�Ich kenne sie.�

�Das bezweifle ich. London liegt so offen vor uns wie ein gro�es Buch. Folgen Sie mir, und ich lehre Sie, es zu lesen.�

Nachdem sie die Br�cke hinter sich gelassen hatten, durchschritten sie flott die Upper Thames Street, danach die Queen Street und stie�en von dort zur Cannon Street, wo sie vor einer einsamen, vernachl�ssigt wirkenden Kirche stehenblieben.

�Saint Swithin�, erkl�rte Cribb im bestimmten Tonfall eines gewerbsm��igen Fremdenf�hrers. Er ging auf das Tor zu, und Moon folgte ihm.

Es war die Zeit zwischen den Gottesdiensten, und die Kirche war fast leer. Die Ger�che von Moder und Weihrauch hingen schwer in der Luft, und eine Handvoll Gl�ubiger sa� verstreut in den B�nken – einige tief in Gebet oder Meditation versunken, die meisten von ihnen jedoch schlafend oder, im Falle einer ganzen Reihe alter Knollennasen, stumpf und halb bet�ubt vom Schnaps. Der Pfarrer war nirgends zu erblicken; eine versprengte Herde, die ihren Hirten verloren hatte.

Moon sah zu, wie sein Begleiter neben den Altar trat, auf die Knie sank und unverwandt auf etwas zu starren schien.

�Edward!� Ein halblautes, heiseres Fl�stern. �Hier her�ben!�

Die allzu vertraute Anrede missfiel Moon zutiefst. �Wozu?�

Cribb zeigte mit dem Finger auf eine Stelle an der Wand. �Dort! Sehen Sie es?�

Hoch �ber dem Altar, im dunklen Mauerwerk unter zwei stockfleckigen Cherubim, war etwas zu erkennen, das aussah wie eine gro�e Steinmetzarbeit, bedeckt mit feuchten, por�sen Stellen und von Alter und D�sternis gebleicht – ein Fremdk�rper im �brigen Bauwerk. Kalkstein vielleicht, dachte Moon, oder Sandstein.

�Und was soll ich da sehen?�

�Den Stein von London�, hauchte Cribb, einen Anflug von Ehrfurcht in der Stimme.

Der Detektiv starrte ihn gereizt an.

�Es gibt viele Geschichten �ber die Urspr�nge der Stadt�, begann der h�ssliche Mann und ignorierte die missbilligenden Blicke jener Gl�ubigen, die ihrer Sinne immer noch m�chtig waren. �Nach der Legende waren ihre Begr�nder Kinder der Antike. Brutus soll hierhergesegelt sein, geleitet durch einen Traum von der G�ttin Diana, in welchem sie ihm die ganze Geschichte Londons voraussagte. ›Jenseits des Sonnenunterganges‹, verk�ndete sie ihm –�, und an dieser Stelle der Schilderung machte Cribb sich eine peinliche Ann�herung an die Stimme einer Frau zu eigen –, �›jenseits des Reiches der Gallier, liegt eine Insel, die, einst von Riesen bev�lkert, nunmehr unbewohnt und leer ist. Ich habe sie als Zufluchtsst�tte f�r dein Volk vorgesehen. In k�nftigen Zeiten wird sie sich als zweites Troja erweisen. Dort wird deinem Stamm ein K�nigsgeschlecht entspringen, und das ganze Erdenrund wird seiner Herrschaft untertan sein.‹�

Moon g�hnte.

Cribb spann sein Garn weiter, und die alte Geschichte floss ihm m�helos �ber die Lippen. �Die G�ttin gab Brutus diesen Stein. Sie versprach, dass die Stadt bl�hen und gedeihen werde, so lange es ihn gibt. Aber ihre Warnung war klar: wenn der Stein verlorengeht, wird die Stadt untergehen.� Er blickte um sich und musterte das sch�bige Innere der Kirche. �Ehrlich gesagt, finde ich, dass wir bessere Sorge f�r ihn tragen sollten.�

�Ein h�bsches M�rchen�, bemerkte Moon und warf noch einen Blick auf den Stein.

�Dies hier war immer schon ein heiliger Ort. Wo wir jetzt stehen, machte Boudicca einst alles dem Erdboden gleich; in ein paar Jahren werden die Arch�ologen die Spuren ihrer Rache in Form einer Schicht roten Erdreichs entdecken, eines scharlachroten Fadens, der durch Londons Geschichte l�uft. Selbst jetzt f�hlt man eine gewisse … D�nnheit hier. K�nnen Sie sie nicht sp�ren?�

Moon verzog das Gesicht. �H�ren Sie�, sagte er so verst�ndnisvoll wie nur m�glich, �sollten wir nicht das alles vergessen und uns irgendwo zu einem Glas zusammensetzen?�

�Sie m�ssen das Wesen der Stadt begreifen lernen�, sagte Cribb und erhob sich. �Kommen Sie. Es gibt noch mehr zu sehen.�

�rgerlich �ber den Mann, aber unwillk�rlich beeindruckt, folgte Moon ihm �ber die Cannon Street und ins Zentrum des B�rsenviertels. Dies war kein Teil der Stadt, den zu durchwandern er je das Bed�rfnis gehabt h�tte: Ungeachtet des Geruchs nach Wohlstand hatte die Gegend etwas unbestimmt Bedr�ckendes an sich, etwas Graues, Beklemmendes. Scharen schwarzgekleideter M�nner schritten entschlossen durch die Stra�en – aufgeblasene Kr�hen, die keinen Blick f�r den Magier und seinen absto�enden Begleiter hatten. Ein ausgepr�gter Geruch, den Moon kaum kannte, war allgegenw�rtig: das durchdringende Aroma des Kommerzes – der satte, trockene, sch�bige Gestank nach Geld.

Sie bogen in die King William Street ein und gingen �ber die kurze Change Alley zur Threadneedle Street.

�Ein Gro�teil dieses Viertels wird zerst�rt werden�, stellte Cribb sachlich fest.

�Zerst�rt?�

�In Tr�mmer gelegt, ausradiert von Bomben aus der Luft.�

�Unm�glich!�

�Saint Swithin etwa wird in vierzig Jahren in einen Schutthaufen verwandelt. Sie bauen eine Bank obendrauf. Nichts bleibt �brig, was darauf hinweisen w�rde, dass die Kirche je existiert hat.�

�Und wie sollten Sie imstande sein, das zu wissen?�

Cribbs absto�endes Gesicht verd�sterte sich einen Augenblick lang. �Ich habe es gesehen. Mehr als einmal. Die ersten Bomben fallen in ein, zwei Jahrzehnten.�

Moon lachte auf. �Sie scherzen!�

Als Antwort l�chelte Cribb nur aufreizend milde und ging weiter, was Moon zu ein paar raschen, albern weiten S�tzen zwang, um aufzuholen. Sie kamen zur Threadneedle Street, wo die beiden Herzst�cke der Stadt vor ihnen aufragten: das gro�e Rathaus von London und die Bank von England.

�Ich frage mich immer, was es mit diesen beiden auf sich hat�, bemerkte Moon beil�ufig und zeigte hinauf auf zwei Statuen, die Wind und Wetter trotzend �ber dem Tor des Rathauses Wache standen – zwei steinerne Giganten in Tierfellen, die h�lzerne Keulen schwangen.

�Sollten Sie demnach doch lernwillig sein?�

�Ich bin neugierig.�

Mit der unbeirrbaren Autorit�t eines Lexikons, das irgendwie zu Stimme gekommen war, ratterte Cribb die Auskunft hervor.

�Es handelt sich um Gog und Magog, die letzten Riesen Englands, hierhergebracht von Brutus, um die Stadttore zu bewachen. Die Legende besagt, dass sie nach einem blutigen Streit von K�nig Lud aus London verbannt wurden.�

�Wie kommt es, dass Sie so viel Wissen �ber die Stadt angesammelt haben?�

�Weil ich nicht von hier fort kann. Die Grenzen dieser Stadt stecken auch meine Grenzen ab. Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich Sie hierhergef�hrt habe.� Cribb deutete mit dem Kinn auf die Bank von England. �Sehen Sie doch.�

�Dort habe ich vor ein paar Jahren einen Bankraub unterbunden�, sagte Moon im Plauderton. �Der Schlafwandler und ich, wir lachen von Zeit zu Zeit immer noch dar�ber. In der Hoffnung, auf die Goldreserven zu sto�en, versuchte ein Galgenvogel, sich in die unterirdischen Stahlkammern durchzugraben und endete bis zum Bauch in den Abw�ssern. H�chst am�sante Sache damals.�

Die Abschweifung schien Cribb zu irritieren. �Ich m�chte, dass Sie richtig hinsehen! Dass Sie sie wirklich anschauen! Und versuchen, ihr wahres Wesen zu sehen, den kn�chernen Sch�del unter der Haut. Begreifen, was sie verk�rpert!�

Eine Sekunde des Schweigens.

�Das Giftherz Londons!�, sprudelte Cribb, pl�tzlich in Rage gebracht, hitzig hervor. �Ein widerliches Krebsgeschw�r im Herzen der Stadt! Wir werden unterdr�ckt, Mister Moon, und �berall rundum befinden sich Zeichen und Symbole unserer Unterwerfung!�

�Wenn Sie meinen.�

�Nur damit es zu keinem Missverst�ndnis kommt: die Stadt selbst ist der Lebensnerv dieser Gesch�fte, die treibende Kraft hinter diesen Verbrechen! Und nun habe ich noch etwas, das ich Ihnen zeigen will.�

Er setzte sich wiederum abrupt in Bewegung, und Moon folgte ihm. Sie gingen denselben Weg zur�ck, den sie gekommen waren: durch die King William Street und weiter zum �Monument�, einem Turm in Form einer riesigen dorischen S�ule aus dem siebzehnten Jahrhundert, errichtet im Gedenken an das Gro�e Feuer.


(Ich bitte um Vergebung, falls das unmittelbar Vorangegangene herablassend oder belehrend klingen sollte: es richtet sich allein an Ignoranten oder Touristen, denn ich m�chte doch hoffen, dass meine Leser ausreichend gebildet sind, um auch ohne Erkl�rung die Bedeutung von Christopher Wrens Meisterwerk zu kennen. Dennoch bleibt man bedauerlicherweise mit dem Umstand konfrontiert, dass man stets auch die Existenz von Banausen in Betracht ziehen muss. Ich habe keinen Einfluss auf die Zusammensetzung meines Leserkreises, und es ist eine triste und tragische Tatsache, dass es mir noch nie gelungen ist, die Intelligenz der �ffentlichkeit zu untersch�tzen.)


Direkt neben dem Monument auf der King William Street waren irgendwelche Bauarbeiten im Gange.

�Z�ge�, stellte Cribb kurz fest, als sie daran vorbeikamen. �Die Untergrundbahn wird renoviert.�

An dem kleinen Stand zahlten die beiden M�nner f�r den Besuch des Monuments und betraten das Bauwerk. Sie k�mpften sich die Wendeltreppe bis nach oben und traten schlie�lich schwitzend und kurzatmig hinaus in die kalte Herbstluft. Ein d�nnes Metallgel�nder schien die einzige Barriere zwischen ihnen und der schwindelerregenden Tiefe.

Die letzten Besucher des Tages gingen gerade (es war bereits auf der Treppe zu einigen unangenehmen Momenten gekommen, als sich die verschiedenen Gruppen bem�hten, aneinander vorbeizulavieren und vorbeizudr�ngen), und ein paar Minuten lang hatten Cribb und Moon die Aussicht ganz f�r sich allein.

Sie blickten hinaus �ber London. Es hatte wieder zu regnen begonnen – ein d�nnes, farbloses Nieseln, das wie ein Schleier wirkte, der sich tr�be und trostlos �ber das Panorama legte.

�Ist sie nicht h�sslich, diese Stadt?�, fragte Cribb. �Jetzt sehen Sie sie, wie sie wirklich ist, ohne ihre Schminke, ohne ihr Wangenrouge. Nach der gro�en Feuersbrunst wollte Wren eine neue Stadt erbauen – das London seiner Tr�ume, ein neues Jerusalem, eine strahlende Metropole, entworfen auf rein mathematischen Linien.�

�Und was geschah?�

�Die Stadt durchkreuzte seine Pl�ne. Sie weigerte sich einfach, die von Wren angestrebte Gestalt anzunehmen, und wucherte halsstarrig und s�ndhaft weiter. Das sagte sie ihm sogar: Als er durch die Reste der alten Saint‐Pauls‐Kirche wanderte, stolperte er und fiel �ber einen gr��eren Schuttbrocken – einen Grabstein. Als er wieder auf die F��e gekommen war und sich den Staub aus den Hosen klopfte, sah er, dass auf dem Stein das lateinische Wort RESURGAM stand – ›ich werde wiedererstehen‹.�

�Versuchen Sie gerade, mir irgendetwas zu sagen?�

�Ich tue mein Bestes. Aber es gibt eine Grenze f�r das, was ich sagen kann. Nur so viel: Unter uns liegt ein Albtraumreich.� Er sah Moon mitleidig an. �Und es wird zu Ihrem Albtraum werden.�

Sein Gegen�ber brummte gereizt. �Sprechen Sie eigentlich immer in R�tseln?�

Cribb grinste nun breit. �Das Monument ist zweihundert und zwei Fu� hoch. Zuf�lligerweise die genau gleiche H�he wie jene der Nelsonstatue auf dem Trafalgar Square.�

�Ist das von Bedeutung?�

�Geheime Geometrie, Mister Moon. Die Stadt ist voll davon.�

Ein F�hrer tauchte auf und wies sie pedantisch darauf hin, dass die �ffnungszeit vorbei war und sie beide sich augenblicklich zum Ausgang zu begeben hatten.

�Und wohin jetzt?�, fragte Moon.

�Tee und Geb�ck, denke ich.�


Trotz seiner vielen zweifelhaften und irritierenden Eigenschaften hatte Thomas Cribb etwas Fesselndes, ja Faszinierendes an sich. Das versicherte mir jedenfalls Edward Moon, denn ich selbst konnte dies nie beurteilen. Wie auch immer, bei Tee und Geb�ck in einem Kaffeehaus in Cheapside entdeckte Moon, dass er sich trotz allem f�r den Mann zu erw�rmen begann; er stellte ihm endlose Fragen �ber die Geschichte Londons und machte dar�ber hinaus den Versuch, aus Cribb herauszupressen, was der �ber den Fliegenmenschen und die Honeyman/ Dunbar‐Morde wusste, aber sich weigerte zu sagen. Im Laufe seiner zweiten Tasse Earl Grey stellte Moon ihm eine Frage, von der er nicht recht wusste, wie er sie in Worte fassen sollte, ohne t�richt zu klingen. Er entschloss sich f�r Geradlinigkeit. �Warum erz�hlen Sie den Leuten, dass Sie in der Zeit reisen?�

Cribb spielte mit seinem Kaffeel�ffel herum. �Ich erz�hle nichts dergleichen. Ich r�ume lediglich ein, dass ich in der Zukunft gelebt habe.�

�Das glaube ich Ihnen nicht.�

�Was Sie glauben, ist Ihre Sache. Aber ich kann Ihnen dies sagen: In neun Jahren wird der K�nig tot sein. In dreizehn Jahren werden wir Krieg haben – und rund zwei Jahrzehnte danach schon wieder. Im Jahre neunzehnhundertzweiundf�nfzig werden Hunderte Londoner durch giftigen Nebel ums Leben kommen. Zehn Jahre sp�ter wird sich die Silhouette der Stadt f�r immer ver�ndern: Neue Geb�ude werden so hoch aufragen, dass sie an den Wolken kratzen. Und in einem Jahrhundert erstehen gro�artige und unheimliche Tempel dort, wo in unseren Tagen Schiffswerften und Docks bl�hen und gedeihen.�

In aufrichtiger Bewunderung f�r seine Dreistigkeit starrte Moon den Mann an. �Wie k�nnen Sie nur behaupten, all das zu wissen?�

�Ich habe es durchlebt�, antwortete Cribb schlicht.

Moon lachte – etwas unsicher. �Eines muss man Ihnen lassen: Ihre Schauergeschichten sind gut.�

Noch ehe Cribb zu einer Entgegnung ansetzen konnte, tauchte eine unwillkommene Gestalt an ihrem Tisch auf und h�stelte artig.

Mister Skimpole, der Albino, stand vor den beiden M�nnern und begr��te sie mit einem Neigen des Kopfes. �Meine Herren!�

Moon ignorierte ihn.

�Skimpole�, stellte Cribb verhalten fest.

�Kennen wir uns?�, fragte der Albino verunsichert.

Cribb wischte die Frage mit einer Handbewegung beiseite. �Sie erinnern sich nicht an mich.�

�Nein.� Skimpole starrte ihn an. �Nein, da haben Sie recht. Hier, meine Karte.� Er reichte Cribb ein leeres K�rtchen aus d�nnem Karton, das dieser mit merkbarem Abscheu ansah.

Skimpole �ugte �ber seinen Kneifer hinweg, w�hrend ein gek�nsteltes L�cheln auf seinen Lippen gerann – der ganze Mann die personifizierte Unaufrichtigkeit. �Es tut mir unendlich leid, dass ich gezwungen bin, Sie zu st�ren, Mister Moon, aber ich muss Sie dringend darum bitten, mir eine Minute lang Geh�r zu schenken.�

Moon durchbohrte ihn mit seinem Blick. �Sind Sie mir gefolgt?�

�Ich danke Ihnen f�r den Stadtrundgang. �u�erst lehrreich.�

�Was wollen Sie?�, schnauzte Moon ihn an.

�Das, worum ich Sie seit Wochen ersuche: Ihre Hilfe. Nicht mehr und nicht weniger. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass man Sie daf�r gro�z�gig belohnen wird.�

�Sie haben meine Antwort bereits!�, entgegnete der Detektiv, kaum mehr in der Lage, seinen �rger zu z�hmen.

�Ich bitte Sie!�, flehte Skimpole. �Die ganze Stadt ist in Gefahr!�

�Das kann jeder sagen.�

�Ich h�tte eigentlich gedacht, dass Sie nach Clapham schon in den Startl�chern stehen w�rden. Zwingen Sie mich nicht dazu, drastische Ma�nahmen zu ergreifen.�

�Ein f�r allemal: nein!�, fauchte Moon, dessen s�mtliche Nackenhaare sich angesichts dieser Drohung aufgestellt hatten.

Skimpole seufzte ausgiebig und melodramatisch. �Dann, f�rchte ich, lassen Sie mir keine Wahl.� Er verbeugte sich und schlenderte zur T�r. �Wir sehen uns bald wieder.�

�Unangenehmer Geselle�, bemerkte Cribb, als Skimpole drau�en war, und kaute gedankenverloren an einem kleinen Kuchen. �Ich darf doch annehmen, dass Sie beide nicht befreundet sind?�

Moon sch�ttelte den Kopf. �Skimpole schl�gt Kapital aus den Schw�chen der Menschen�, erkl�rte er geradeheraus. �Er lebt von kleinlichen Eifers�chteleien und den wunden Punkten der Leute. Aber ob Sie es glauben oder nicht, er hat die geballte Macht von K�nig und Land hinter sich. Er arbeitet f�r ein Amt der Regierung, das sich absurderweise ›Direktorium‹ nennt.�

�Hatten Sie in der Vergangenheit schon miteinander zu tun?�

�Noch bevor ich den Schlafwandler kennenlernte�, sagte Moon mit d�sterer Stimme.

�Davor?� Cribb wirkte einigerma�en �berrascht. �Man hat den Eindruck, als w�ren Sie beide immer schon zusammen gewesen.�

�Davor … Vor Jahren hatte ich einen Partner.� Moon stockte. �Einen jungen Mann. Er besa� die gleichen kritischen F�higkeiten wie ich, nur in noch gr��erem Ausma�. Fr�her oder sp�ter h�tte er mich mit Leichtigkeit �berfl�geln k�nnen. In einer g�tigeren, freundlicheren Welt h�tte er das wohl auch getan. Und dar�ber hinaus war er sch�n. Von einer umwerfenden, herzzerrei�enden Sch�nheit.�

Cribb trank h�flich seinen Kaffee in kleinen Schl�ckchen – sprachlos ob dieses unerwarteten Gef�hlsausbruches.

�Ich m�chte nicht auf Einzelheiten eingehen, aber Skimpole entdeckte seine Achillesferse. Ein ungl�cklicher Zufall, eine kleinere Indiskretion, ein Augenblick der Schw�che, nichts weiter. Aber das Direktorium brachte ihn durch Erpressung dazu, f�r es zu arbeiten. Der liebe Junge folgte den Anordnungen des Albinos nur, um einen Skandal zu vermeiden – um meinetwillen ebenso wie um seiner selbst willen.� Moon schloss vor Gram die Augen. �Das Opfer, das er brachte, kostete ihn schlie�lich alles. Im Verlauf seiner T�tigkeit f�r das Direktorium verlor er …� Ein weiteres Stocken. Ein verlegenes H�steln. �Er verlor seine Empfindungen f�r mich. Daher werden Sie verstehen, weshalb ich niemals f�r Skimpole arbeiten kann, ja weshalb ich M�he habe, mich soweit zu z�geln, dass ich ihn nicht auf der Stelle erschie�e, sobald ich ihn zu Gesicht bekomme.�

�Mich beunruhigt ein wenig, was er damit wohl meinte … mit den drastischen Ma�nahmen.�

Moon zuckte die Achseln. �Ich bin durchaus in der Lage, auf mich aufzupassen.�

�Hat mich der Schlafwandler Ihnen gegen�ber eigentlich erw�hnt?�

�Nein. Warum? Sollte er?�

�Ich k�nnte mich irren�, r�umte Cribb ein, �aber ich dachte, er h�tte mich wiedererkannt.�

�Sie wiedererkannt?�

�Ausgeschlossen, nat�rlich. Ich bin sicher, ich w�rde mich daran erinnern. Dennoch bin ich neugierig – wie haben Sie beide sich kennengelernt?�

�Aber Sie haben doch in der Zukunft gewiss jegliches Wissen �ber uns zur Verf�gung, oder?�, wandte Moon sarkastisch ein. �Besch�ftigen sich die Universit�ten der Zukunft denn nicht mit Studien meiner Person? Stehen nicht an jeder Stra�enecke Statuen von mir?�

�Man wird Sie vergessen, f�rchte ich. Sie werden eine Fu�note sein, Edward. Einer von denen, die die Geschichte nicht einmal unter ›ferner liefen‹ vermerkt.� Cribb �bersah offenbar, wie sehr seine Worte Moon zu treffen schienen. �Aber wir sind vom Thema abgekommen. Sie wollten mir gerade vom Schlafwandler erz�hlen.�

�Das wollte ich nicht!�, widersprach Moon scharf. �Sie haben mich nach ihm gefragt.�

�Bitte …�

�Er kam zu mir. Eine Weihnacht, vor etlichen Jahren.�

�Schnee auf den Stra�en?�, half Cribb ihm weiter. �Weihnachtslieder auf dem Albion Square? Gassenkinder, die Schneem�nner bauen?�

�Ja, zuf�llig war es so�, best�tigte Moon verdutzt. �Warum?�

�Ach, ich male mir nur den Hintergrund der Szene aus. Fahren Sie fort!�

�Es gibt nicht viel zu berichten. Ich h�rte ein Klopfen an der T�r und fand ihn drau�en vor, zitternd vor K�lte.�

�Wie ein K�tzchen, das sich verlaufen hat.�

�Ich ziehe es vor, ihn als Findelkind zu betrachten. Aber ich habe keine Ahnung, warum ich Ihnen das alles erz�hle. Ich darf mich doch auf Ihre Diskretion verlassen?�

Cribb nickte.

Moon stand auf. �Ich muss mich jetzt verabschieden. Die Abendvorstellung wartet.�

Drau�en auf der Stra�e winkte der Detektiv eine zweir�drige Droschke herbei. �Ich danke Ihnen f�r unsere Unterhaltung�, sagte er zu Cribb, als die Droschke abrupt vor ihnen anhielt. �Ich bin mir nicht sicher, wie viel davon ich richtig verstanden habe, aber es war zweifellos recht vergn�glich.�

�Das Vergn�gen war ganz auf meiner Seite.�

Moon bestieg die Droschke und trug dem Kutscher auf, ihn schnellstm�glich zum Albion Square zu bringen.

�K�nnen wir uns wieder einmal treffen?�, fragte Cribb, w�hrend Moon sich f�r die Fahrt zurechtsetzte.

Moon �berlegte einen Augenblick lang. �O ja, gern.�

Als sich das Gef�hrt in Bewegung setzte, schien sich Cribb pl�tzlich noch an etwas zu erinnern. �Mister Moon! Ich habe es ganz vergessen! Ich muss Sie warnen! Treffen Sie sich keinesfalls mit …�

Aber was der Mann auch immer noch gesagt haben mochte – es ging unter im Rattern und Klappern der R�der, als die Droschke den Finanzdistrikt hinter sich lie� und Moon im Galopp in heimatliche Gefilde zur�ckbrachte.


Detektiv‐Inspektor Merryweather befand sich an diesem Abend unter den Zuschauern; er brach in Beifallsrufe aus und spendete Applaus wie alle anderen, obwohl er die Vorstellung schon ein Dutzend mal gesehen haben musste. Hinterher, im �Gew�rgten Bengel�, begl�ckw�nschte er Moon und den Schlafwandler, lachte dr�hnend und ohne Unterlass, dr�ckte den beiden die H�nde und dankte ihnen �berschw�nglich f�r die Kl�rung der Honeyman/Dunbar‐Morde. �Damit ist die Sache doch vom Tisch, oder?�, fragte er zuversichtlich.

Moon wirkte schon den ganzen Abend lustlos und geistesabwesend. �Ich glaube nicht.�

�Aber wir haben unseren Mann doch gefunden!�, protestierte der Polizeiinspektor. �Er liegt im Leichenschauhaus und f�ngt an zu stinken!� Er wandte sich an den Schlafwandler. �Geben Sie mir doch Hilfestellung, Junge! Sagen Sie, dass ich recht habe!�

Der Riese sa� an der Theke auf einem Barstuhl, der sich geradezu winzig unter ihm ausnahm, und hatte einen halb geleerten Krug Milch vor sich stehen. Er sch�ttelte tr�bsinnig den Kopf und widmete sich wieder seiner Milch.

�Es fehlt das Motiv�, sagte Moon unvermutet. �Er war nichts als die Zugnummer eines herumziehenden Vergn�gungsparks. Warum h�tte er es tun sollen? Er hatte keinen Vorteil davon.�

Merryweather wischte diese Einw�nde beiseite. �Sollte mich nicht wundern, wenn er aus irgendeiner Anstalt geflohen w�re, und solche Leute brauchen keine Motive. Er w�re nicht der erste von dieser Sorte, das wissen Sie so gut wie ich.�

�Es gibt da irgendeine Verbindung. Der Fliegenmensch kannte meinen Namen. Er erkannte mich wieder!�

Was Merryweather wenig �berzeugte. �Sie waren sehr m�de. Wir waren alle ein wenig durcheinander. Vielleicht haben Sie da etwas missdeutet … Etwas gesehen oder geh�rt, was nicht vorhanden war.� Zufrieden mit sich und seinen Ausf�hrungen trank der Inspektor den Rest seines Bieres auf einen Zug aus. �Entschuldigen Sie mich bitte�, sagte er und verschwand hinter der Theke.

Der Schlafwandler zog Moon am �rmel, aber der Magier schien �rgerlich �ber die St�rung. �Was ist los?�

WO WARS DU

Moon z�gerte mit der Antwort. �Bei einem Freund�, sagte er dann.

CRIBB

�Bist du mir gefolgt?�

Der Schlafwandler sch�ttelte nachdr�cklich den Kopf.

�Wei�t du, er glaubt, du h�ttest ihn wiedererkannt.�

SCHLECHT

�Eigentlich ist er ein recht interessanter Mensch, wenn man sich l�nger mit ihm unterh�lt. Du solltest dich wirklich bem�hen, nicht so rasch mit einem Urteil zur Hand zu sein.�

Der Schlafwandler setzte zum Schreiben einer Entgegnung an, aber Moon legte pl�tzlich eine ungewohnte Gereiztheit an den Tag und schlug ihm die Kreide aus der Hand.

�Sp�ter�, murmelte er.

Der Inspektor kehrte zur�ck, das Glas in seiner Hand randvoll mit einer �ligen, gef�hrlich aussehenden Fl�ssigkeit.

�Ich bin zu einer Entscheidung gekommen�, erkl�rte Moon. �Unsere Untersuchungen sind noch nicht zu Ende.�

�Ich bitte Sie!�, sperrte sich Merryweather. �Ich verstehe schon, dass Sie sich t�dlich langweilen, aber das geht zu weit, das ist einfach l�cherlich! Es wird nicht lange dauern, und wir haben einen neuen Fall!�

Der Detektiv ging nicht auf seine Worte ein. �Wir ben�tigen die Beurteilung eines Fachmanns.�

Merryweather runzelte die Stirn. �Was meinen Sie damit?�

�Es gibt nur einen Mann in London, der �ber ein noch gr��eres Ma� meiner F�higkeiten verf�gt als ich selbst.�

Der Inspektor war die Sache langsam leid und hob eine Braue. �Wer soll das sein?�

Moon verzog das Gesicht, als h�tte er versehentlich etwas Bitteres verschluckt. �Barabbas.�

Der Schlafwandler sah ihn mit einem fragenden Blick an, aber der Name hatte eine v�llig andere Wirkung auf den Inspektor. Entgeistert stellte er sein noch unber�hrtes Getr�nk auf die Theke. �Das kann nicht Ihr Ernst sein!�

Aber Moon war bereits auf dem Weg zur T�r. �Ich m�chte ihn noch heute Nacht sprechen!�

Merryweather und der Schlafwandler tauschten gottergebene Blicke aus.

�Das ist nicht m�glich!�, rief der Inspektor.

�Dann machen Sie es m�glich!�, bellte Moon zur�ck. �Fordern Sie jeden Gefallen ein, den Ihnen jemand schuldig ist! Zahlen Sie, was immer es kostet, die R�dchen zu schmieren! Ich treffe Sie beide in einer Stunde.� Mit einer majest�tischen Handbewegung verabschiedete er sich und war auch schon verschwunden.

Der Schlafwandler kritzelte eine Botschaft an den Inspektor:

WO SOLLN WIR HIN

Merryweather �chzte. Er wirkte mit einem Mal schwerm�tig, ja verh�rmt; seine gute Laune war dahin. �Nach Newgate�, seufzte er.


NEUN

Newgate hockte direkt im Herzen der alten Stadt – die Hauptfiliale der H�lle auf Erden.

Zu dieser Zeit, in den letzten Jahren seiner Geschichte, bevor es abgerissen und durch etwas nicht so augenf�llig Infernalisches ersetzt wurde, beherbergte das Zuchthaus ausschlie�lich Verbrecher, die bereits zum Tode verurteilt wurden und auf ihre Hinrichtung warteten – S�nder, f�r die alle Einspr�che Vergangenheit und alle Hoffnungen verloren waren und deren einzige Chance auf Gnade bei einem h�heren Gericht lag. Es war ein Ort ohne Mitleid und Liebe, ein urbanes Krebsgeschw�r, durchpulst und durchsetzt vom Tod.

Sie trafen kurz nach Mitternacht ein. Der Himmel war schwarz von Sturmwolken, und es hatte wieder zu regnen begonnen – ein k�mmerliches graues Nieseln.

�Warum regnet es blo� immerzu?�, klagte der Inspektor, als sie aus der Droschke stiegen.

�Hatte ich gar nicht bemerkt�, fertigte Moon ihn barsch ab. Er schritt auf die ebenholzschwarzen Tore des Gef�ngnisses zu, Merryweather und den Schlafwandler widerstrebend an den Fersen. Der Riese musterte den gewaltigen, bedrohlichen Bau und erschauerte. Zwei Wachen verfolgten mit aufs�ssiger Miene ihr N�herkommen.

Merryweather machte den Wortf�hrer. �Ich bin Polizeiinspektor Merryweather�, sagte er. �Dies sind Mister Moon und der Schlafwandler. Wir werden erwartet.�

Einer der M�nner nickte kurz und unfreundlich; sein Gesicht hatte die gleiche Farbe wie seine verschmutzte Uniform.

Nach ausgiebigem Schl�sselgerassel und dem Zur�ckziehen zahlreicher Riegel und Schieber war es den dreien gestattet, ein kleineres T�rchen zu passieren, das sich wie eine Katzenklappe im unteren Teil des Haupttors befand. Dahinter lag ein leerer, nur vom sp�rlichen Mondschein erhellter Hof, wo in jedem Winkel, jeder Ecke dunkle Schatten lauerten. An seinem Rand wartete ein Mann – eine einigerma�en groteske Erscheinung: Elegant und gut gekleidet, jedoch geschlagen mit weit fortgeschrittener Kahlk�pfigkeit, trug er das wenige Haar, das er noch besa�, zu einem Zopf geflochten, der ihm bis �ber den halben R�cken hing – ausgehend von einem fettigen, unansehnlichen Zottelkranz, der unerkl�rlicherweise an seinem blanken Sch�del festgeheftet schien. Er begr��te sie mit einem freundlichen Winken.

�Mister Moon!� Er sch�ttelte die Hand des Magiers mit einem so warmen, klebrigen Nachdruck, dass Moon unwillk�rlich zur�ckzuckte. �Was f�r eine Freude, Sie wiederzusehen!� Er wandte sich an die anderen beiden. �Mein Name ist Meyrick Owsley. Ich bin entz�ckt, Ihre Bekanntschaft zu machen. Barabbas erwartet Sie bereits.� Er drehte sich um und schritt energisch voran; die drei Besucher folgten ihm – Moon an seiner Seite, leise und eindringlich auf ihn einsprechend, Merryweather und der Schlafwandler ein paar taktvolle Schritte dahinter.

Owsley f�hrte sie vom Hof ins Geb�ude und dort immerzu abw�rts bis in das unterirdische Labyrinth von Newgate. Jede T�r und jede Schranke auf ihrem Weg musste aufgeschlossen werden – und an jeder wachte ein schwer bewaffneter Aufseher mit der steinernen Miene desjenigen, der Tag f�r Tag mit den schlimmsten Ausw�chsen menschlicher Verderbtheit konfrontiert ist. Owsley geleitete sie durch Korridore und Durchg�nge, deren schmuddelige W�nde vor N�sse, Schimmel und altem Schmutz trieften, vorbei an unz�hligen Zellen mit jeweils nur einem Insassen; St�hnen und Jammern erf�llte die Luft und raubte einem den Atem wie giftige Rauchschwaden. Einige der H�ftlinge starrten zwischen den Gitterst�ben ihrer K�fige hindurch auf die Eindringlinge, andere wimmerten lauthals oder zischelten Obsz�nit�ten hinaus, aber die meisten lungerten reglos in ihrem eigenen Unrat, zu schamlos und abgestumpft, um darauf zu achten: Sie hatten sich einfach abgefunden mit ihrem unmittelbar bevorstehenden Rendezvous mit dem Galgen. Die Luft war feuchtkalt und dumpf, und je weiter die vier M�nner ins Innere der Gew�lbe vordrangen, desto �fter flitzten kleine Pelzdinger mit spitzen Z�hnen zwischen ihren F��en hindurch.


Zweifellos denken Sie jetzt, ich �bertreibe und male die Wahrheit in grelleren Farben um der dramatischen Wirkung willen –, denn selbst damals, so vermuten Sie vielleicht, k�nnen die Zust�nde in unseren Zuchth�usern nicht ganz so mittelalterlich gewesen sein. Aber so sehr es mich schmerzt, ich muss bekennen, dass Obengesagtes eine durch und durch ehrliche und in allem zutreffende Schilderung des Zustands von Newgate w�hrend der letzten Jahre seines Bestehens darstellt. Wenn �berhaupt, so habe ich meine Beschreibung abgemildert, um die Empfindsamkeit von Damen zu schonen, welche vielleicht diese Niederschrift unbesonnenerweise zur Hand nahmen, sowie f�r all jene von Ihnen, die unter einer nervenschwachen oder hysterischen Veranlagung leiden.


Der Schlafwandler gab Merryweather einen nachdr�cklichen Sto� in die Rippen und deutete mit dem Kinn auf Owsley, der vor ihnen hermarschierte, wobei sein langer Zopf bei jedem Schritt neckisch auf und ab h�pfte.

�Meyrick Owsley�, erl�uterte der Inspektor. �Ehemaliger Anwalt – und ein guter noch dazu. Am Kanzleigericht war er der Beste, bevor er Barabbas kennenlernte. Und nun ist er, soweit man es beurteilen kann, zu seinem Diener abgesunken.�

Owsley musste es geh�rt haben, denn er drehte sich um und warf Merryweather einen gerissenen Blick zu. �Mehr noch, Inspektor�, sagte er, Inbrunst und �berzeugung in den weit aufgerissenen Augen, �ich bin sein J�nger!�

Merryweather r�usperte sich verlegen. �Verzeihung, mein Fehler.�

Am hintersten Ende des Korridors blieben sie vor der letzten Zelle stehen. Sie war winzigklein, kahl und nur schwach erhellt von einem Kerzenstumpf. Die Gestalt darin war kaum auszumachen – ein formloses, schwarzes Etwas, zusammengesackt in einem Winkel. Und dann h�rten sie die Stimme – halb Kr�chzen, halb Fl�stern: �Meyrick?�

Owsley machte eine kleine Verbeugung. �Sir, ich habe Ihnen eine Zigarette mitgebracht.� Er reichte etwas zwischen den Eisenst�ben hindurch. Schmutzstarrende Finger tappten im Halbdunkel danach, und dann wurde die Zelle vom Aufflammen eines Streichholzes erhellt, bevor das schwache Gl�hen der Zigarette dem Dunkel ein zweites Lichtp�nktchen bescherte.

Besuchszeit im Zoo, dachte Merryweather, der erst in der vorangegangenen Woche mit seiner Frau und den f�nf Kindern das ruhelose Hin‐ und Herwandern eines bengalischen Tigers hinter den Gitterst�ben seines K�figs beobachtet hatte.

Wieder die Stimme – rauh und heiser, und dennoch mit einer letzten un�berh�rbaren Andeutung, dass sie einst einem durchaus vern�nftigen, normalen, zivilisierten Mann geh�rt hatte. �Ist er hier?�

�Jawohl, Sir�, fl�sterte Meyrick Owsley zur�ck.

Es lag etwas beinahe Liebevolles in der Art, wie Owsley mit dem Gefangenen sprach, bemerkte der Inspektor – beinahe wie eine Mutter mit ihrem Kind oder eine Frau mit ihrem Liebsten.

Der Mann in der Zelle kr�chzte wieder etwas, aber so leise, dass es niemand verstand. Ausgenommen Owsley, nat�rlich.

�Barabbas will nur Sie sprechen, Mister Moon. Die anderen Herren werden ersucht, am Tor zu warten.�

�Ausgezeichnet�, sagte Moon rasch.

Merryweather f�hlte sich bem��igt, zumindest so etwas wie den Anschein eines Protests einzulegen. �Als Polizeibeamter sollte ich dabei zugegen sein.�

�Bitte, Inspektor! Dies ist wichtig!�, beharrte Moon.

�Verdammt vorschriftswidrig, das alles.�

�Aber nur auf diese Weise will er mit mir reden!�

Erleichtert gab Merryweather sich geschlagen. �Ich verstehe.�

Mit sorgenvoller Miene ber�hrte der Schlafwandler Moon am Arm.

�Mir wird nichts geschehen. Warte drau�en auf mich.�

Owsley holte einen Schl�sselbund aus seiner Jackentasche und schloss die Zellent�r auf. �Ich kann Ihnen f�nfzehn Minuten zugestehen, nicht l�nger.�

Forsch betrat Moon die Zelle, und die T�r schlug hinter ihm zu.

Owsley wandte sich an die anderen. �Meine Herren, kommen Sie mit mir.�

Dankbar folgte Merryweather ihm zur�ck durch den Korridor und nach oben, hinaus in die Sicherheit des Hofes. Gar nicht gl�cklich trottete der Schlafwandler hinterher.


Barabbas lag wieder zuhinterst in einer Ecke der Zelle – feist, nackt bis zum G�rtel, das fleischige Gesicht umrahmt von altr�misch gekringelten L�ckchen. Sein Bauch war bedeckt mit kunstvollen T�towierungen, die verschlungenen Muster aufgebl�ht und unkenntlich gemacht von den gewaltigen wei�en Fettw�lsten. Seit seinem Einzug in den Kerker hatte er sich einen ungepflegten Bart wachsen lassen, und so durchfuhr Moon bei seinem Anblick ein blitzartiger, unangenehmer Gedanke an Mina.

Barabbas saugte begierig an der Zigarette. �Edward�, kr�chzte er, �du vergibst mir doch, dass ich nicht aufstehe. Ich w�rde dir ja gern einen Stuhl anbieten, aber wie du siehst� –, eine tr�ge Armbewegung rundum –, �bin ich gegenw�rtig ein wenig in Verlegenheit.� Er knetete eine m�chtige Rolle Bauchfett zwischen Zeigefinger und Daumen, um sie nach einer Weile beil�ufig loszulassen und mit glasigem Blick gebannt zuzusehen, wie sie unter die Fleischberge zur�ckschl�pfte, die sich um seinen Leib w�lzten.

�Wie ich sehe, haben sie dir das Haar gelassen�, bemerkte Moon sanftm�tig.

�Owsley hat das f�r mich in die Wege geleitet. Eine kleine Verg�nstigung. Eine von vielen. Er bringt mir auch diesen h�bschen Tand, diese kleinen Prisen Sch�nheit, und legt sie mir als Tribut zu F��en. Wie Opfergaben f�r irgendeinen Gott der Wilden.�

�Er scheint hier alles im Griff zu haben.�

�Er hat eine �berzeugende Art, ja. Au�erdem ist er unanst�ndig reich. An einem Ort wie diesem verschaffen solche Dinge Einfluss.� Ein qu�lender Hustenanfall begleitete den Rest seiner Zigarette. ��brigens habe ich von Clapham geh�rt.�

Der Detektiv zuckte zusammen.

�Warum bist du gekommen?�, fragte der Dickwanst, sichtlich zufrieden mit Moons Reaktion.

�Ich brauche deinen Rat.�

�Ein Fall?�

�Nat�rlich.�

�Du hast mich noch nie zuvor konsultiert.�

Moon wandte die Augen ab. �Aber diese Sache jetzt … macht mir Kopfzerbrechen.�

Barabbas dr�ckte die Zigarette aus und lie� den Stummel achtlos zu Boden fallen. �Gib mir noch eine�, sagte er, �und dann kannst du mir alles erz�hlen.�

Moon griff in seine Westentasche, zog sein Zigarettenetui hervor und reichte es dem Verurteilten. �Hier�, sagte er, �behalte es.�

Barabbas packte es gierig. �Wieder eine Prise Sch�nheit�, stellte er fest, �eine Zierde f�r meine Sammlung.� Er starrte das Etui an und seufzte. �Du wirst es selbstverst�ndlich zur�cknehmen, wenn ich nicht mehr bin.�

�Selbstverst�ndlich.�

Mit ungeschickten Fingern zw�ngte Barabbas eine Zigarette aus dem Etui. �Feuer�, fl�sterte er.

Moon riss ein Streichholz an, und wieder erhellte das Aufflackern der Flamme kurzzeitig die Zelle, was Barabbas’ monstr�se Gestalt eine Sekunde lang ins Licht zerrte.

Der Gefangene lachte zufrieden gackernd und f�llte seine Lunge ausgiebig mit Rauch. �Und nun rede, mein lieber Freund.�

�Wir beginnen mit Cyril Honeyman�, sagte Moon. �Er war ein feister, schwerf�lliger Mensch, der andauernd schwitzte und dessen H�ngebacken beim Gehen bebten und flatterten …�


Der Magier und Detektiv berichtete Barabbas alles �ber die Morde und seine eigenen Ermittlungen, beginnend mit Merryweathers Einladung zur Mitarbeit und schlie�end mit dem zerschmetterten K�rper des Fliegenmenschen. Als er geendet hatte, seufzte Barabbas. Ein L�cheln wollte sich aus seinen Mundwinkeln stehlen, wurde jedoch umgehend zur�ckgescheucht und verschwand so rasch, wie es sich angedeutet hatte.

�Nun?�

�Du sagst, er kannte dich?�

�Sogar beim Namen�, best�tigte Moon steif.

Barabbas unterdr�ckte ein R�lpsen – mit teilweisem Erfolg. Er schielte boshaft hoch zu seinem Besucher und entbl��te zwei Reihen gelber Pferdez�hne, umkr�nzt von wildem Bartwuchs. �Du l�ufst Gefahr, dich heillos in diese fixe Idee zu verrennen. Ich habe dich noch nie so erregt gesehen. Du solltest dich beruhigen. Unternimm etwas zu deiner Entspannung.� Ein schleimiges Husten. Ein Grinsen. �Ach, wie geht es �brigens Mrs Puggsley?�

�Du bist doch wohl der Letzte, der mir eine moralische Standpauke halten d�rfte!�

�Denk daran, was ich dir gesagt habe�, mahnte Barabbas in vertraulichem Tonfall. �Ich stehe nunmehr �ber jeglicher Moral, jenseits von Gut und B�se!� Seine rauhe, honigtriefende Stimme wanderte unabl�ssig auf und ab entlang der seidenweichen Modulationen des routinierten L�gners.

�Der Fall�, unterbrach ihn der Detektiv.

�Wei�t du, ich glaube nicht, dass diese elenden Morde das wahre R�tsel sind.�

�Nein?�

�Ich glaube, sie sind ein Symptom. Da drau�en existiert eine zersetzende Macht, Edward. Es gibt eine Verschw�rung gegen die Stadt, und diese Morde sind nur die Spitze des Eisberges.�

�Was wei�t du dar�ber?�

Barabbas bewegte sich langsam voran, wobei sich seine unf�rmige Gestalt �ber den Boden schob wie eine riesenhafte Schnecke. �Lass mich hinaus, Edward! Hilf mir zu fliehen, und gemeinsam werden wir die Wahrheit herausfinden!�

Moon machte einen erschrockenen Schritt zur�ck und krachte gegen die Eisenst�be des Gitters, worauf Owsley hinter ihm aus den Tiefen der Dunkelheit auftauchte.

�Die Zeit ist um�, sagte er und holte mit amtlich wirkendem Schwung den Schl�sselbund aus der Tasche.

�Edward!� Barabbas stie� einen Klagelaut aus und hob flehend die H�nde. �Edward!�

Die T�r wurde aufgeschlossen, und Moon trat rasch hinaus auf den Korridor.

�Ihre Freunde warten schon auf Sie�, sagte Owsley.

Barabbas presste das Gesicht zwischen die Gitterst�be und starrte hinaus in die Dunkelheit. �Edward?�

Moon drehte sich um.

�Wirst du wiederkommen?�

�Vielleicht.�

�Ich hoffe, ich konnte dir ein wenig weiterhelfen.�

Moon war auf der Hut. �M�glicherweise.�

�Jegliche Farbe ist aus meinem Leben gewichen! Bring mir n�chstes Mal Scharlachrot! Bring mir Violett und Zinnoberrot und Gold!�

�Ich komme wieder�, beschwichtigte ihn Moon.

Barabbas grinste triumphierend. �Dann brauchst du mich also immer noch!�, zischte er. �Selbst jetzt noch!� In seiner �berm��igen Erregung erlitt er einen heftigen Hustenanfall. �Edward�, sagte er in sanfterem Tonfall, nachdem die Attacke vorbei war, �Edward, wenn ich du w�re, w�rde ich jetzt zusehen, dass ich nach Hause komme.�

�Wie bitte?�

�Ich w�rde mich beeilen, Edward. Dein Albtraum hat begonnen.�

Moon erstarrte. �Was meinst du damit?�

�Es geschieht gerade etwas Furchtbares�, sagte Barabbas einfach. �Geh jetzt.� Das Gesicht des Gefangenen verschwand von den St�ben, und seine Gestalt verschmolz mit dem Halbdunkel dahinter.

Moon versp�rte pl�tzlich Panik in sich aufsteigen. �Rasch, gehen wir!�, rief er, und sie setzten sich im Laufschritt in Bewegung.


Sie waren noch etliche Stra�en vom Albion Square entfernt, als sie erkannten, wie recht Barabbas gehabt hatte.

Blutroter Lichtschein flackerte zum Himmel, und dichter schwarzer Rauch str�mte an der Droschke vorbei wie eine zur Erde gezogene Sturmwolke. Als der Kutscher merkte, dass da vorn irgendeine Katastrophe wartete, weigerte er sich, seine Passagiere noch weiter zu bef�rdern, und so sprang Moon aus dem Fahrzeug und rannte allein zum Albion Square weiter. Ungeachtet der sp�ten Stunde schien das ganze East End vollz�hlig dort versammelt zu sein, und Moon musste sich durch das Gew�hl m��iger Gaffer k�mpfen, um sein Ziel zu erreichen. Als er schlie�lich aus der glotzenden Masse hervorst�rzte, war er mit der Wahrheit konfrontiert: Das Theater des Unglaublichen stand in Flammen.

Mit grausamer Klarheit sah er, dass hier nichts mehr zu retten war. Das Feuer musste kurz nach ihrem Aufbruch zum Gef�ngnis entstanden sein, und nun brannte nur mehr das Skelett des Geb�udes; all sein Fleisch und sein einnehmendes �u�eres waren l�ngst verkohlt. Seine Fenster waren geschw�rzte, leere Augenh�hlen, sein Tor ein Haufen Schlacke. Von dem Schild, auf dem gestanden hatte:

DAS THEATER DES UNGLAUBLICHEN
zeigt
MISTER EDWARD MOON UND DEN SCHLAFWANDLER
Es erwarten Sie:
STAUNEN! NERVENKITZEL! FASZINATION!

hatte nur ein winziger Teil �berlebt, auf dem nicht mehr als ein halbes Wort zu lesen war: FASZI.

Eine Menschenkette hatte sich formiert, in der Wassereimer von einer Hand zur n�chsten bis zum Brandherd weitergereicht wurden, aber ihre heldenhaften Bem�hungen waren vergebens. Das Theater war vernichtet, und als die Flammen sich ausbreiten wollten und gefr��ig an den angrenzenden Geb�uden zu lecken begannen, waren die M�nner gezwungen, ihre Aufmerksamkeit anderen Gefahrenherden zuzuwenden.

Ein Mann stand neben Moon in der Menge. �Schade drum, nicht wahr?� Er verzog den Mund zu einem Grinsen, welches mehr L�cken als Z�hne sehen lie�. �Hab das Programm dort einmal gesehen. Bin fast eingeschlafen vor Langeweile, ehrlich.�

�Was hat denn den Brand entfacht?�

�Warum fragen Sie? Sind Sie aus der Nachbarschaft?�

Mit einemmal stie� Moon ihn zur Seite und rannte auf die Ruine zu, immer wieder aufgehalten von Wogen gl�hender Hitze, stechenden Rauch in der Lunge und halb blind vom Wasser in den triefenden Augen.

Schlie�lich taumelte er hilflos zur�ck und schrie: �Mrs Grossmith! Speight!�

Doch pl�tzlich vernahm er selbst �ber das Tosen und Knistern der Flammen hinweg ein wohlbekanntes Ger�usch – ein Ger�usch, das ihm so verhasst war, dass er in diesem Moment alles gegeben h�tte, um es gerade jetzt nicht zu h�ren: ein diskretes, trockenes, nerv�ses H�steln.

�Mister Moon?�

Er fuhr herum.

�Einen guten Abend w�nsche ich�, sagte Skimpole.

�Was haben Sie nur getan!�, stie� der Detektiv w�tend hervor.

�Drastische Ma�nahmen, ich habe Sie gewarnt.� Flammen spiegelten sich in den Gl�sern seines Kneifers, was seinen Augen einen teuflischen Ausdruck verlieh. Moon st�rzte sich auf den Albino, doch dieser sprang gewandt zur Seite. �Ihre Unbeherrschtheit gereicht Ihnen nicht zur Ehre�, tadelte er Moon. �Ihre Freunde sind beide wohlauf. Man hat sie in Sicherheit gebracht, bevor Feuer gelegt wurde. Der Affe jedoch weigerte sich leider mitzukommen. Ich f�rchte, er ist mittlerweile gut durchgebraten.�

�Sie geben es also zu�, stie� Moon zornentbrannt hervor, �dass dies hier Ihr Werk ist?�

�Ich sagte Ihnen doch, wir sind v�llig verzweifelt. Von Rechts wegen sollten Sie sich geschmeichelt f�hlen.�

Moon hatte es die Rede verschlagen; er erstickte fast an seiner Wut. �Sie sind zu weit gegangen�, knirschte er schlie�lich.

Mit einem kurzen L�cheln sagte Skimpole: �Mit dieser Reaktion war zu rechnen. Also habe ich Ihnen dies hier mitgebracht.� Er holte einen dicken Ordner aus seiner Aktentasche. �Werfen Sie einen Blick hinein.�

Moon riss dem Albino die Akte aus der Hand und bl�tterte sie durch. Als ihm ihre ganze Bedeutung bewusst wurde, fehlten selbst ihm vor�bergehend die Worte. �Wie lange haben Sie das alles schon?�, fragte er dann.

�Schon seit Jahren f�hren wir ein Dossier �ber Sie�, antwortete Skimpole k�hl. �Nat�rlich hoffte ich, es nie benutzen zu m�ssen – aber Sie k�nnen nicht behaupten, dass wir nicht artig gebeten haben.�

�Sie w�rden das hier doch nicht benutzen!�

�Es k�nnte schon sein. Das Puggsley‐Material ist jedenfalls darin enthalten und einige andere Dinge … Allein die Ver�ffentlichung meiner Aufzeichnungen �ber unseren gemeinsamen Freund in Newgate w�rde schon Ihren Ruin bedeuten und Schimpf und Schande �ber Sie bringen.�

Moon fluchte, laut und lange. Doch dies ist nicht der Ort, um eine so plastische Ausdrucksweise w�rtlich wiederzugeben.

�Und so frage ich Sie ein letztes Mal�, sagte Skimpole, �werden Sie uns helfen?�

Das Feuer hatte seinen H�hepunkt �berschritten und schoss hungrige Flammenzungen hoch in seiner unb�ndigen Gier, auch noch den letzten brennbaren Rest zu verschlingen. Moon geriet unter dem Feuersturm ins Taumeln und schlug wild mit den Armen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Er war benommen und einer Ohnmacht nahe.

�Mister Moon?� Der Albino lie� nicht locker. �Werden Sie uns helfen?�

Der Detektiv nickte kraftlos.

Skimpole l�chelte. �Sehr gut�, bemerkte er forsch. �Wir bleiben in Verbindung.� Drei Schritte, und er war in der Menge verschwunden.

Um Atem ringend, w�hrend das Theater des Unglaublichen vor seinen Augen den Tod erlitt, versuchte Moon, sich an die Verfolgung seines Peinigers zu machen, nur um zu straucheln und zu Boden zu st�rzen. Starke Arme halfen ihm auf, und als er schwankend auf die F��e kam, blickte er ins Gesicht des Schlafwandlers.

�Wir haben verloren�, murmelte er.

Mit ernster Miene betrachtete der Riese die Reste seines Zuhauses, und – ganz ungew�hnlich f�r ihn – ein paar Tr�nen rannen ihm �ber die Wangen. Aus dem Gew�hl hinter ihm tauchte Merryweather zusammen mit Mrs Grossmith und Speight auf.

Moon packte den Schlafwandler am Arm. �Barabbas hatte recht!�, keuchte er. �Es ist vorbei! Wir haben verloren. Schachmatt.�

Und dann wurde Edward Moon zum ersten und letzten Mal in seinem Leben bewusstlos; ohnm�chtig sank er in die Arme des H�nen.

Mrs Grossmith, Speight und der Inspektor rannten herbei. �Mister Moon!�

Speight hatte immer noch seine ewige Tafel bei sich; ihre hintergr�ndige Botschaft war nun das einzige, was vom Theater �brigblieb:

JA, ICH KOMME BALD
OFFENBARUNG 22.20

Die Ereignisse der Nacht schienen ihn zu einem ann�hernd n�chternen Zustand wachger�ttelt zu haben. �Herr im Himmel�, sagte er und starrte auf das Werk der Zerst�rung. �Was werden wir jetzt nur machen?�


ZEHN

Unter der Stadt, tief unter dem Alltag auf den Stra�en und B�rgersteigen, liegt der alte Mann und tr�umt.

Eingesponnen in die Unterwelt, hat die Zeit keine Bedeutung f�r ihn, und so fehlt ihm jede Vorstellung f�r die Dauer seines Schlummerns: Jahre m�gen in der Welt da oben vergangen sein – oder kaum ein paar Stunden.

Die Tr�ume dieses unterirdischen Rip van Winkles unterliegen keiner Logik, keiner Gesetzm��igkeit. Manchmal glaubt er, von der Vergangenheit zu tr�umen, dann wieder von etwas wie Schatten, zur�ckgeworfen von der Zukunft. Gelegentlich zeigen sich ihm Dinge, die keinerlei Bezug zu seinen eigenen Erlebnissen zu haben scheinen – blo�e Bruchst�cke, Fetzen aus den Erinnerungen fremder Menschen.

Ein schwacher, pfeifender Schnarchton entweicht seiner Kehle; er dreht sich auf die andere Seite und kehrt zur�ck in die Vergangenheit.

Es sind wieder seine letzten Tage in Highgate; die Vision ist so lebendig und real, dass er selbst den Geruch seines alten Zimmers einfangen kann, den dumpfen, muffigen Gestank nach Schwei�, Schnupftabak, ungewaschenen Bettlaken und kalten Furzen. Gillman ist da; das Arzneifl�schchen in einer Hand, den Nachttopf in der anderen, macht er wie immer viel zuviel Aufhebens um ihn. Eine weitere Gestalt, eine zwergenhafte Silhouette, die sich gegen das Fenster abhebt und deren Gesicht unsichtbar bleibt. Der Alte versucht krampfhaft, sich daran zu erinnern, doch noch ehe er in der Lage ist, den Fremden zu identifizieren, l�st sich die Szene auf und l�sst eine andere, viel fr�here Zeit zutagetreten. Er ist wieder jung und in Syrakus – seine hochschwangere Frau ist schon lange den ungewissen Gnaden von Familie und Freunden zu Hause ausgeliefert. Zuf�llig st��t er auf eine Ausgrabung, bleibt stehen und verfolgt hingerissen viele hei�e Stunden lang, wie die M�nner die kopflose Statue der Venus von Landolina behutsam freilegen und aus der Erde holen – ein St�ck Sch�nheit, das aus dem Staub zur�ckkehrt in die Welt der Lebenden. Er sieht zu, wie sie Sand und trockenen Schlamm aus den feinen Linien der Marmorb�ste b�rsten, und betrachtet den fleckigen Stumpf, auf dem ihr Kopf einst sa� – mit einem Gesicht, das, wie er h�rte, von erlesenem, makellosem Liebreiz gewesen sein soll. Wortlos erlebt er mit, wie dieses vollkommene Wesen, diese steinerne G�ttin, aufersteht.

Unter �rgerlicher Missachtung der zeitlichen Abfolge kippt der Traum, und er ist wieder alt, wieder zur�ck in diesem �belriechenden Raum, wo Gillman noch immer mit Arzneifl�schchen und Nachttopf um ihn herumschwirrt und der Zwerg am Fenster sich noch immer im Halbdunkel verbirgt. Ungeachtet der N�chternheit des Rahmens versp�rt der Tr�umer die Gewissheit, dass er an einem Angelpunkt seines Lebens angelangt ist, an einem zentralen Moment, dessen wahre Bedeutung sich ihm erst offenbaren wird.

Der Fremde am Fenster dreht sich um, tritt ins Licht und beginnt zu sprechen.

Der alte Mann st�hnt leise auf und bewegt sich im Schlaf. �ber ihm tost die Stadt unbek�mmert weiter, blind und taub gegen die Bedrohung, die unter ihr schlummert.


In neuneinhalb Meilen Entfernung bekam der Gefangene Nummer W578 Besuch.

�Meister?�

Barabbas watschelte ans Gitter seiner Zelle. �Bringst du es mir?�

�Es ist hier, Sir.� Meyrick Owsleys kurze, dicke Finger fuhren pfeilschnell zwischen die St�be, um ein kleines purpurnes K�stchen in die H�nde des Insassen zu �bergeben. Barabbas packte es mit der uners�ttlichen Raffgier eines verzogenen Kindes und verschwand damit in die Ecke seines Verlieses. Owsley erhaschte einen fl�chtigen Blick auf etwas Glitzerndes, auf das kurze Schimmern von etwas metallisch Gl�nzendem und sehr Teurem. Barabbas klappte das K�stchen zu und f�gte es seinen mageren Sch�tzen hinzu, die er sonst, in einen �ligen Lumpen geh�llt, hinter einer losen Wandplatte versteckt aufbewahrte.

�Ein kleiner Blick nur noch�, zischte er, wabernd vor Erregung, �ein kurzer Hauch von Sch�nheit.� Er schlug das K�stchen ins Tuch ein, steckte alles zur�ck in die Wand und lie� sich zu Boden fallen, ersch�pft von dieser kurzen Anstrengung. Ein Zittern durchlief schauerartig seinen gepeinigten K�rper.

�Ich denke, Sie sollten wissen, Sir … Moon und der Schlafwandler …�

�Ja?� Pl�tzlich schien Barabbas hellwach und neugierig; seine geheime Ansammlung von Sch�nheit war vor�bergehend vergessen.

�Sie arbeiten f�r Skimpole, Sir. Gezwungen durch Erpressung, wenn wahr ist, was man so h�rt. Das Direktorium hat ja einen entsprechenden Ruf. Und ich f�rchte, Sir, er ist schon dicht dran.�

Der Gefangene lachte auf – es war ein scharfes, unnat�rliches Lachen.

�Sir? Darf ich zur Vorsicht raten?�

Barabbas schien in sonderbar ausgelassener Stimmung. �Das d�rfen Sie nicht! Ich glaube, wir k�nnen auf einen weiteren Besuch von Edward z�hlen. Oder?�

Owsley antwortete nicht; sein Missfallen war offensichtlich.

Der unf�rmige Mann entbl��te grinsend seine halb verfaulten Z�hne. �Und das Wiedersehen wird mir eine wahre Freude sein!�


Das Hotel, das Skimpole f�r Moon und den Schlafwandler bestimmt hatte, wurde allgemein als das vornehmste der Stadt angesehen und befand sich zweifellos unter den teuersten H�usern. Die Unterkunft der beiden M�nner bestand aus einem kleinen Netzwerk von R�umen, die in Stil und Ausstattung geradezu �bertrieben geschmackvoll wirkten: Schlafzimmer, Empfangszimmer, Salon, Herrenzimmer – alles prunkvoll und �ppig eingerichtet und weit �ber alles hinausgehend, was die beiden bisher kennengelernt hatten. Ein ganz besonderer Duft durchwehte das Geb�ude, eine bes�nftigende Mischung aus brennenden Kerzen, Bohnerwachs und dem fruchtigen Nachgeschmack einer wirklich guten Flasche Wein – die alten Ger�che nach Reichtum und Luxus. Bei ihrer Ankunft erhielt jeder Gast einen pers�nlichen Butler zugeteilt, der beflissen daranging, alle seine W�nsche zu erf�llen; die kleinste Chance, zu verw�hnen oder gef�llig sein zu k�nnen, versetzte ihn in wahre Wonneschauer.

Ihr neues Heim war, kurz gesagt, ein gr�sslicher goldener K�fig.

In den drei Wochen, die seit der Zerst�rung des Theaters des Unglaublichen verstrichen waren, hatte man Moon nur viermal gestattet, das Hotel zu verlassen – und das ausschlie�lich in Begleitung seines Butlers, der, wie verlautete, Mister Skimpole treu ergeben war. Niedergeschlagen und gedem�tigt, f�hlte Moon sich so gefangen in diesem vornehmen Zwinger, dass der Schlafwandler sich langsam Sorgen um den Verstand seines Freundes machte. So versp�rte der Detektiv also eine merkw�rdige Erleichterung, als ihnen am dreiundzwanzigsten Tag des Hausarrests ihr Plagegeist einen Besuch abstattete.


Der Albino lie� sich ganz behutsam auf dem Diwan nieder, griff in die Jackentasche und holte ein erlesenes flaches Silberk�stchen heraus.

�Zigarre?�

Die beiden lehnten mit einem verdrie�lichen Kopfsch�tteln ab.

�Nun ja.� Nahezu ehrf�rchtig w�hlte Skimpole eine Zigarre aus und z�ndete sie an, w�hrend ein Ausdruck der Zufriedenheit �ber sein Gesicht huschte. �Ich hoffe sehr, dass Sie sich hier wohl f�hlen. Was mich betrifft, so habe ich dieses Haus immer als zauberhaften R�ckzugsort betrachtet.�

Moon zog die Mundwinkel herab. �Ich werde Ihnen das nie vergessen!�

�Ich bitte Sie.� Skimpole entlie� d�nne Rauchb�nder aus den Nasenl�chern. �Ich bin gekommen, Sie um Hilfe zu bitten. Es tut mir sehr leid, dass ich nicht fr�her in der Lage war, Sie zu besuchen, aber die letzte Zeit war wirklich wahnsinnig hektisch. Sie verstehen zweifellos.�

Moon und der Schlafwandler schleuderten ihm hasserf�llte Blicke zu.

�Also zum Gesch�ftlichen. Ich bitte inst�ndig um Vergebung f�r Ihren erzwungenen Aufenthalt hier. Ich wei�, dass Sie Ihren au�erplanm��igen Aktivit�ten nicht nachkommen konnten, aber wir mussten sicherstellen, dass Sie sich unserer Vereinbarung nicht entziehen w�rden.�

�Was wollen Sie?� Moons Stimme klang m�hsam beherrscht; die drohende Note darin war kaum wahrnehmbar.

Skimpole f�llte die Lunge kr�ftig mit Rauch. �Meine Kollegen und ich sind im Besitz von Informationen, die sehr eindeutig darauf hinweisen, dass eine Verschw�rung gegen die Stadt im Gange ist.� Er sprach ganz unverbl�mt, sachlich, als handelte es sich um eine gew�hnliche Unterhaltung, als w�re Unheil ein allt�gliches Geschehnis und Desaster der Normalfall seines Lebens. �Wir denken, dass Sie im Zuge Ihrer Nachforschungen anl�sslich der Honeyman‐ und Dunbar‐Morde durch Zufall �ber ein Element dieser Verschw�rung gestolpert sein k�nnten – �ber irgendeinen losen Faden im Geflecht. Und m�glicherweise k�nnte es uns noch gelingen, diesen Faden ganz herauszuziehen.�

Dem Schlafwandler schien ein pl�tzlicher Einfall zu kommen, und er kritzelte etwas auf seine Tafel:

FLIEGE

Skimpole bedachte ihn mit dem Schatten eines L�chelns. �Ich glaube nicht, mein Freund, dass auch nur einer von uns annimmt, der Fliegenmensch h�tte allein gehandelt. Soviel ich geh�rt habe, war der Mann geistig anormal.�

Skimpole hielt inne. Beunruhigt von dem Gedanken, er k�nnte dem Schlafwandler unabsichtlich eine Kr�nkung zugef�gt haben, lie� er den Blick an der Gestalt des Riesen auf und ab wandern. �Nein�, fuhr er bestimmter fort, �die Meinung geht dahin, dass er im besten Fall eine Marionette war. Ein blo�er Mitl�ufer. Dessenungeachtet m�chte ich Ihnen zu diesem Treffer gratulieren. Wie schade nur, dass er so pl�tzlich verstorben ist. Aber sein Ableben ist eben ganz typisch f�r alles, was wir von Ihnen beiden erwarten k�nnen; wie eine Seite, herausgerissen aus einem Groschenroman. Selbstredend w�re dies nie geschehen, h�tten Sie f�r uns gearbeitet. Wir sind stolz auf unsere rein sachliche Vorgangsweise, unsere Leidenschaftslosigkeit, unseren Sinn f�r das praktisch Durchf�hrbare. Im Direktorium, meine Herren, ist kein Platz f�r Melodramatik.�

Moon und der Schlafwandler tauschten einen Blick aus.

�Was ich Ihnen nun sagen werde, ist nur einem halben Dutzend M�nner unseres Landes bekannt, die s�mtlich an der Spitze unserer Organisation stehen. Es ist ein Staatsgeheimnis, also w�rde ich vorschlagen, Sie behalten es f�r sich. Es ist gewiss eine platte Phrase – und ich w�rde mir w�nschen, ich m�sste sie nicht aussprechen –, aber Menschen sind schon f�r weniger zu Tode gekommen. Seit f�nf Monaten erh�lt meine Organisation h�chst bedeutsame Informationen aus – wie soll ich es ausdr�cken? Aus einer unkonventionellen Quelle. Von einer Frau. Seit einer meiner M�nner sie letztes Jahr aufgetan hat, verlassen sich meine Kollegen in Whitehall immer st�rker auf sie. St�rker jedenfalls, als man f�r zutr�glich halten w�rde. In gewissen Angelegenheiten der Politik wird ihr Rat bereits als so entscheidend erachtet, dass man ohne �bertreibung sagen k�nnte, der letzte Krieg, an dem dieses Land teilnahm, h�tte ohne die Empfehlungen dieser Frau weitaus weniger gl�cklich geendet.� Skimpole senkte den Blick auf seine F��e, verlegen wie ein ungezogener Schuljunge, den man beim �pfelstehlen erwischt hatte. �Gleichwohl f�rchte ich, wir lie�en die Dinge ein wenig ausufern.�

�Ihr Name?�, fragte Moon kurz angebunden.

Skimpole holte tief Atem. �Madame Innocenti.�

Moon tat sein Bestes, ein L�cheln zu unterdr�cken.

�Sie ist ein Medium�, erkl�rte Skimpole abschlie�end; seine kreidebleichen Wangen hatten sich pl�tzlich absonderlich scharlachrot gef�rbt. �Eine Hellseherin. Sie wohnt in Tooting Bec. Und behauptet, Botschaften aus dem Jenseits zu erhalten.�

Moon legte die Fingerspitzen seiner H�nde aneinander und sah den Albino an; er genoss den Augenblick. �Kurz gesagt, Mister Skimpole, Sie setzen uns soeben in Kenntnis, dass sich der britische Geheimdienst seit f�nf Monaten von den �u�erungen einer Hinterhofwahrsagerin leiten l�sst.�

Vor Moons schroffer Geradlinigkeit zuckte Skimpole etwas zur�ck. �Sind Sie schockiert?�

�Keineswegs. Es liegt etwas ungemein Beruhigendes in der Erkenntnis, dass sich unsere schlimmsten Ahnungen bewahrheiten.�

Der Schlafwandler feixte, und Moon nutzte seinen Vorteil weiter aus. �Wie weit reicht der Einfluss dieser Frau? Wie hoch hinauf geht diese Sache?�

Skimpole seufzte. �Bis zu den h�chsten Spitzen, Mister Moon.�

�Und nun verraten Sie mir …� Moon kostete Skimpoles Unbehagen voll aus. �Was hat sie mit uns zu tun?�

�Seit einiger Zeit warnt uns Madame Innocenti vor einem Komplott, das sich gegen den Staat richtet.�

�Einzelheiten?�

�Nichts Konkretes. Das, was man in diesem Fall erwarten k�nnte – unbestimmte, dunkle Warnungen, formuliert auf h�chst bombastische, weitschweifige Weise. Wir m�chten, dass Sie sie pers�nlich kennenlernen und die Wahrheit herausfinden.�

�Ich f�rchte, ich sehe immer noch nicht ein, weshalb das alles f�r uns von Interesse sein sollte.�

Mit kummervoller Miene dr�ckte Skimpole den Stummel seiner Zigarre aus. �Madame Innocenti hat im Laufe ihrer Weissagungen drei Namen erw�hnt: Cyril Honeyman. Philip Dunbar.�

Moon nickte gleichm�tig, denn das hatte er erwartet.

Skimpole schluckte. �Und Edward Moon�, murmelte er.


F�r den Wohnsitz einer modernen Kassandra wirkte Madame Innocentis Haus entt�uschend farblos. Es war zwar auf seine Weise solide und ansehnlich – ein bescheidenes, halb freistehendes H�uschen, das als Heim etwa einer Lehrerin, eines Beamten oder eines Buchhalters mehr als annehmbar gewesen w�re, doch f�r eine Prophetin von Madame Innocentis Macht und Einfluss mutete es, um ehrlich zu sein, beinahe verd�chtig an. Es sah abgewohnt und vernachl�ssigt aus, und erweckte den Anschein von Herrenlosigkeit und Verfall.

Moon trat an die morsch wirkende Eingangst�r und klopfte mit dem alten Messingring, der unerwarteterweise nicht unter seiner Hand zerfiel, so sanft es nur ging dagegen.

Der Schlafwandler sah sich um, betrachtete das trostlose Grau in Grau, die finstere Eint�nigkeit von Tooting Bec, und r�mpfte die Nase vor Abscheu. Der Albion Square, das Theater des Unglaublichen, ja selbst Yiangous Opiumh�hle – alle waren, so unerfreulich sie im einzelnen auch sein mochten, wenigstens erf�llt von Farbe; sie verf�gten �ber einen Glanz, eine Buntheit, die an Lustbarkeit und Kurzweil gemahnte. Nichts davon gab es in Tooting Bec, dem M�chtegern‐Delphi von London; daf�r war es zu fahl, zu trist – zu langweilig und gew�hnlich.

Die T�r ging auf, und ein schlaksiger, nerv�ser Mensch starrte heraus – erschrocken und argw�hnisch. Ungeachtet seiner offensichtlich jungen Jahre hatte sein Haaransatz schon angefangen zur�ckzuweichen; dazu war er geschlagen mit allzu dicken Brillengl�sern, die ihm ein eulenhaftes Aussehen verliehen.

�Ich bin Edward Moon, und dies ist mein Assistent, der Schlafwandler. Wir werden erwartet, glaube ich.�

�Nat�rlich.� Der Mann nickte wiederholt und mit so zwanghafter Nachdr�cklichkeit, dass Moon sich fragte, ob er nicht an den fr�hen Symptomen einer scheu�lichen degenerativen Krankheit litt. �Treten Sie ein. Meine Frau wird gleich bei uns sein.�

Er f�hrte die beiden Besucher durch eine schmuddelige Diele in einen verdunkelten Empfangssalon, der von einem runden Dutzend zuckender Kerzenflammen nur schwach erhellt wurde. Ein langer, schmaler Tisch stand in der Mitte des Raums, umgeben von neun leeren St�hlen.

�Hier wird es stattfinden�, sagte der Mann mit unheilschwangerer Stimme. �Tee?�

Moon antwortete f�r sie beide; der Gastgeber verbeugte sich und verschwand.

�Reicht es dir jetzt schon?�, fragte Moon, doch noch ehe der Schlafwandler eine Antwort aufschreiben konnte, kehrte der Hausherr gesch�ftig zur�ck.

�Tee und Milch sind bereits auf dem Weg. In der Zwischenzeit erlauben Sie mir, Ihnen meine Gattin vorzustellen.�

Er machte den Weg frei, und eine Frau trat – oder, besser, glitt – durch die T�r. Sie war gut und gern in mittleren Jahren, sah aber bemerkenswerter, eleganter und unendlich aparter aus als jede junge Dame, die nur halb so alt war wie sie. Ihr Gesicht wurde umrahmt von einem Kranz kastanienbrauner Locken, und ihre katzenhaft geschmeidige Figur war in ein eng anliegendes helles Kleid geschn�rt, was die sanft wogende W�lbung ihres Busens erfreulich betonte.

Moon war sich nicht sicher, was er erwartet hatte – eine zahnlose Zigeunerin vielleicht, eine billige, auf den ersten Blick als solche erkennbare Schwindlerin mit vulg�ren Ohrringen und unechtem Schmuck –, aber ganz gewiss nicht einen so vortrefflichen Anblick wie diesen.

Sie l�chelte, wobei sie zwei Reihen makelloser Perlenz�hne entbl��te. �Mister Moon. Schlafwandler. Es ist mir eine Ehre. Sie m�ssen verzeihen, wenn ich etwas aufgeregt bin, aber ich muss gestehen, dass ich so etwas wie Ehrfurcht versp�re.�

�Vor mir?�, begann Moon sichtlich geschmeichelt, nur um von einem diskreten, jedoch grausamen Rippensto� seines Begleiters zum Verstummen gebracht zu werden. Dann verbesserte er sich: �Vor uns?�

�Ich habe Ihre Darbietung schon mindestens f�nfmal gesehen. Mein Mann und ich waren jedes Mal voller Bewunderung.� Sie wandte sich an ihren kahl werdenden Gemahl. �Nicht wahr, mein T�ubchen?�

Er m�mmelte etwas Zustimmendes.

�Es ist so furchtbar, was Ihrem Theater widerfahren ist�, bemerkte Madame Innocenti teilnahmsvoll. �Was f�r eine Tragik! Sie haben mein aufrichtiges Mitgef�hl.�

�Ich danke Ihnen, Madam.� Moon verneigte sich, und beachtlicherweise schien sich bei ihm der Anflug eines Err�tens anzudeuten.

�Se�or Corcoran hat von Ihnen gesprochen. Wie ich h�re, kommen Sie im Auftrag Mister Skimpoles.�

�Ganz richtig.�

Sie r�mpfte geringsch�tzig die Nase. �Sind Sie Freunde?�

�Nicht direkt Freunde, Madam�, antwortete Moon; er w�hlte seine Worte mit Bedacht. �Man k�nnte sagen, wir arbeiten zusammen. Wir sind sozusagen unfreiwillig Kollegen.�

�Das freut mich, denn mein Gatte und ich k�nnen ihn nicht ausstehen. Ein schrecklicher Mensch, dieser k�sewei�e kleine Mann. Doch jetzt sollten Sie mich entschuldigen, ich muss mich vorbereiten. Sie sind etwas fr�h dran, aber auch die anderen G�ste werden in K�rze eintreffen. Es macht Ihnen doch nichts aus, ein Weilchen zu warten?�

�Keineswegs.�

�Wir erwarten heute abend sieben Personen – Sie, meine Herren, und f�nf weitere G�ste. Haben Sie schon einmal an einer S�ance teilgenommen?�

�Noch nie, Madam.�

�Nun, f�r uns alle muss es ein erstes Mal geben�, sagte Madame Innocenti und wandte sich zum Gehen. �Selbst f�r Sie, Mister Moon.�

Sie schwebte hinaus und lie� die Besucher wieder mit ihrem Ehemann allein – zusammen mit einem Gef�hl pl�tzlicher Ern�chterung: so als w�re die Kaiserin aus dem Thronsaal gerauscht, um ihre Untertanen in der d�rftigen Gesellschaft eines blo�en Lakaien stehen zu lassen.

�Warten Sie hier�, brummte der Gatte m�rrisch. �Ich hole Ihren Tee.�

Dieser wurde in Begleitung eines Tellers wenig verlockender staubtrockener Kekse serviert, und w�hrend Moon und der Schlafwandler lustlos ein paar Kr�mel davon nahmen, trafen die anderen G�ste ein. Es war eine sonderbare Schar; alle rochen schon von weitem nach Leid und Verzweiflung und sahen so aus, als w�ren sie bereit, jeden Preis zu bezahlen, um in den Genuss von Madame Innocentis Art von Weisheit zu gelangen.

Als erstes kam ein Ehepaar, Mister und Mrs Salisbury, beide fest eingebettet in die korpulente Beschaulichkeit des gesetzten Alters. Gefolgt wurden sie von einer au�ergew�hnlich h�sslichen jungen Frau, die sich als Dolly Creed vorstellte; ihre schlaffen, farblosen Gesichtsz�ge wurden zus�tzlich verunstaltet von vier gleich gro�en braunen Warzen, die sich um ihr linkes Nasenloch dr�ngten. Nach ihr traf eine Mrs Erskine ein – vom Alter gekr�mmt und auf einen Gehstock gest�tzt, aber trotz allem irgendwie leichtf��ig wirkend, bewegte sie sich mit spr�der, flotter Grazie. Der Keksteller war leergegessen und die Teekanne trocken, als endlich der letzte Gast auftauchte, ein rotblonder, scheuer junger Mann, der s�mtlichen Anwesenden seine Visitkarte �berreichte: Mister Ellis Lister, Bachelor der philosophischen Fakult�t (Oxfordshire). Was seinen Beruf betraf, so wich er dem Thema aus und erkl�rte nur, dass er in einem Bereich des Staatsdiensts t�tig sei. Moon und der Schlafwandler erkannten ihn jedoch augenblicklich als einen Mann des Direktoriums.

Schlie�lich dr�ckte sich Madame Innocentis Ehemann wieder in den Salon. �Nehmen Sie Platz. Meine Frau ist da.�

Gehorsam n�herten sich alle den St�hlen, wobei Moon und der Schlafwandler bedacht waren, zu beiden Seiten des Platzes am Kopfende des Tisches zu sitzen, der f�r Madame Innocenti vorgesehen war.

Angek�ndigt vom seidigen Rascheln ihres Kleids betrat die Hellseherin den Raum, noch reizender anzusehen als zuvor, und sonnte sich in der anbetenden Bewunderung ihrer Kunden. Der Ehemann zog sich in einen Winkel des Salons zur�ck, nachdem er die T�r behutsam geschlossen und so den Raum wiederum ins tr�be Licht der Kerzenflammen zur�ckversetzt hatte.

�Herzlich willkommen�, sagte Madame Innocenti.

Taktvoller Applaus, und nach einem anmutigen Knicks und kurzem, etwas m�hsamem H�ndesch�tteln und Wangenk�ssen rundum nahm sie Platz am Kopfende des Tisches.

�Der Tod ist nicht das Ende�, erkl�rte sie sachlich. �Unser Lebenslicht wird nicht ausgeblasen mit dem Entschlafen unseres verg�nglichen Leibes. Es gibt eine andere Welt neben unserer eigenen, ein Reich, das von den Toten bewohnt wird, Daseinsebenen, die von M�chten jenseits unseres Begriffsverm�gens beherrscht werden. Glauben Sie mir, ich wei� es. Ich wei�, dass die Seele weiterlebt. Ich wei� es, weil ich den Schleier gel�ftet habe. Ich habe mit den Verstorbenen gesprochen, und sie haben mich als ihr geistiges Werkzeug gew�hlt, als ihre Stimme in der Welt der Lebenden.� Madame Innocenti lachte leise auf. �Genug davon, ich habe nicht vor, Sie zu langweilen. Ich bin sicher, Sie haben all das schon irgendwo einmal geh�rt.�

�Fassen Sie einander an den H�nden�, wies ihr Gatte die Anwesenden an, und sie gehorchten alle, schnappten nach den Fingern ihrer Nachbarn und bildeten rund um den Tisch eine Kette aus verschwitzten Handfl�chen und zuckenden Daumen. Moon und der Schlafwandler tauschten Blicke aus und achteten sorgf�ltig darauf, die jeweilige Hand des Mediums fest zu umklammern.

�Sie haben jedes Recht, vorsichtig zu sein�, sagte Madame Innocenti. �Wir verstehen Ihr Widerstreben, Ihre Weigerung zu glauben. Die Geister werden Ihnen vergeben.�

�Wie beruhigend�, bemerkte Moon.

�Ich werde Sie jetzt verlassen�, erkl�rte sie w�rdevoll. �Ich werde mich aus der Ebene der Sterblichen l�sen und aufsteigen ins sonnenerhellte Reich der Toten. Wenn ich wieder zu Ihnen spreche, werde ich nicht allein sein. Mein K�rper wird zur H�lle eines anderen, meines geistigen F�hrers. Eines Spaniers aus der Zeit Elisabeths. Er ist uns allen als Se�or Corcoran bekannt.�

Ernstes, zustimmendes Gemurmel rund um den Tisch.

�Haben Sie keine Angst.� Und nach diesen Worten seufzte das Medium tief und sank auf dem Stuhl in sich zusammen.

Mrs Erskine, die alte Dame, schrie erschrocken auf.

�Unterbrechen Sie den Kreis nicht!�, zischte Madame Innocentis Gatte.

Eine Minute Stille, und dann nahm die Hellseherin wieder eine kerzengerade Haltung ein. Ihre Augen blieben geschlossen, und w�hrend sie in jeder Hinsicht dieselbe Frau wie zuvor schien, hatte sich irgendetwas an ihr fast unmerklich gewandelt – eine feine Ver�nderung ihres Gesichtsschnittes, eine kleine Verschiebung ihrer Z�ge. Als sie ihr Schweigen brach, war ihre Stimme tief und voll und ihre Aussprache mit einem fremden Akzent gef�rbt, der �rgerlicherweise nicht einzuordnen war. �Ich f�hle, dass Sie viele Fragen haben. Wer von Ihnen m�chte als erstes das Wort an die Reihen der Dahingegangenen richten?�

Mister Salisbury meldete sich begierig. �Mein Sohn! Ist er bei euch?�

Ein gequ�ltes L�cheln des Mediums. �Ich ben�tige einen Namen�, sagte sie, nach wie vor in Corcorans pseudo‐spanischem Akzent.

�Albert�, murmelte der Mann. �Albert Salisbury.�

�Albert?� Eine lange Pause. Madame Innocenti verzog das Gesicht, als m�sste sie mit einem �u�erst schwierigen Problem fertigwerden. �Albert?� Sie stie� h�rbar die Luft aus. �Ja, da ist eine Person namens Albert.� Einen schrecklichen Augenblick lang wurde der K�rper des Mediums in heftige Zuckungen versetzt, kr�mmte und wand sich, als st�nde er unter elektrischem Strom. W�hrend all dies vor sich ging, waren Moon und der Schlafwandler sorgf�ltig darauf bedacht, Mrs Innocentis H�nde festzuhalten. Als sie wieder sprach, geschah es im hohen Singsang eines Kindes. �Papa?�, fl�sterte sie. �Papa, bist du das?�

Mister und Mrs Salisbury schluchzten gemeinsam auf. Letztere begn�gte sich damit, ihre Tr�nen diskret zu vergie�en, doch ihr Gatte schrie mit sich �berschlagender Stimme halb lachend, halb weinend: �Ja, mein Junge! Ja, ich bin es!� Es lag etwas Mitleiderregendes in diesem Anblick: ein rundsch�deliger Glatzkopf mit dem Aussehen eines pensionierten Oberlehrers – die Sorte Mann, der mit Freuden einer ganzen Schulklasse noch vor dem Fr�hst�ck den Hintern versohlt h�tte – und f�hrte sich heulend und z�hneknirschend auf wie ein hysterisches Weib!

Madame Innocenti stie� ein kindliches Kichern hervor. �Papa!�, piepste sie. �Ich bin gl�cklich hier! Die Geister sind so freundlich zu mir. So lieb und freundlich! Es ist warm hier, Papa, weich und warm, und es gibt so viele Pelztierchen und kleine flaumige Dinger!�

Die Augen der Salisburys gl�nzten nass. Moon unterdr�ckte ein G�hnen.

�Gro�mama ist bei mir!�, fuhr das Medium fort. �Gro�papa auch! Jeden Tag ist Weihnachten, und alles ist so sch�n! Ich schwebe, Papa, ich schwimme in Milch und Honig! Ich hab dich lieb! Ich hab dich sehr lieb, aber jetzt muss ich wieder gehen. Bitte, bitte, komm bald zu mir!�

Die Stimme verstummte. Madame Innocenti sackte nach vorn, und als sie wieder sprach, war sie in ihrer Rolle als Corcoran. �Ich bitte um Vergebung�, sagte sie schroff. �Wir haben die Verbindung verloren. Wer ist der n�chste?�

Moons Augen sahen in die des Schlafwandlers, und sie tauschten ein skeptisches L�cheln.


Zu diesem Zeitpunkt bin ich fast sicher schon tot, und Ihre Identit�t ber�hrt mich nicht im geringsten. Aber wer Sie auch sind, so halte ich Sie im besten Fall f�r einen Zyniker und schlimmstenfalls f�r einen wackeren, aufrechten Misanthropen. Schlie�lich w�re keiner au�er einem unheilbaren Zyniker imstande, sein Interesse an einer solchen Parade von Dieben, Gaunern, L�gnern und Betr�gern, welche die Seiten des vorliegenden Werkes f�llen, bis zu diesem Punkte wachzuhalten. Daher bezweifle ich, dass jemand mit Ihrer, wie ich annehme, sarkastischen Sicht des Lebens seine Zeit mit dem tischchenr�ckenden, okkulten Unsinn wie Medien und S�ancen vergeudet. Habe ich recht? Dachte ich’s doch.


Nat�rlich h�tte Moon mit seiner gleichfalls schwer misanthropischen Ader, die nur gelegentlich durch mildt�tige Anwandlungen gem��igt wurde, gewiss all dem eben Gesagten beigepflichtet. Bevor sein Heim und Broterwerb Mister Skimpole zum Opfer gefallen waren, hatte er seinen Lebensunterhalt damit verdient, die Leute so lange zu narren, bis sie das Unm�gliche tats�chlich glaubten. Wie es aussah, tat Madame Innocenti mehr oder weniger das gleiche, nur weitaus gewinnbringender, sowie (falls man den Behauptungen des Albinos �ber die H�ufung der Direktoriumsbesuche in Tooting Glauben schenken durfte) mit weitaus mehr Einfluss.

Wenn nichts anderes, dann war sie zumindest eine meisterhafte Schauspielerin. Das Aneignen verschiedener Stimmen – jene von Corcoran, dem verstaubten Spanier, und die Kleinkindert�ne des Salisbury Sohns –, dazu ihre eigene bet�rende, so gar nicht den �blichen Vorstellungen entsprechende Erscheinung, das alles war erstklassiges Theater; unverkennbar besa� sie die F�higkeit (zweifellos mit Feinschliff versehen durch die jahrelange Inszenierung von Hokuspokus und mystischem Getue), ihren Zuh�rern genau das zu sagen, was sie h�ren wollten, und in ein paar S�tzen verschwommenen, tr�stlichen Gew�schs all das zu best�tigen, was sie sich immer schon erhofft und ertr�umt hatten.

Nachdem die Salisburys mit ihrem Sohn gesprochen hatten, bedachte Corcoran Mrs Erskine mit dem Geist ihres Gatten (seit zwanzig Jahren auf See verschollen) und Miss Dolly Creed mit der hohen, n�rgelnden Stimme ihres verblichenen Br�utigams. Moon fragte sich, was f�r eine Sorte Mann sich zur Heirat mit einer solchen Schreckschraube bereit erkl�ren k�nnte, und schloss, dass dieser seinen eigenen Tod wohl inszeniert haben musste, um dem Altar zu entgehen. Schon unangenehm genug, sinnierte Moon, im Leben mit der Aussicht auf ein solch pferdegesichtiges Weibsbild geschlagen zu sein, aber noch schlimmer, wenn man dann selbst noch beim fr�hlichen Herumtollen auf den elysischen Feldern von selbigem gest�rt wird.

Als Ellis Lister an der Reihe war, ersuchte er nicht wie alle anderen mit einem toten Verwandten, einem fr�heren Liebchen oder seinem verendeten Lieblingshund zu sprechen, sondern verlangte nach Corcoran selbst.

�Mister Lister?� Madame Innocenti sprach mit der eingerosteten Stimme des Spaniers. �Ich denke, wir haben uns bereits kennengelernt.�

�Das haben wir tats�chlich, Se�or. Ich f�hle mich geschmeichelt, dass Sie sich meiner entsinnen.�

�Vom Geheimdienst, nicht wahr?�

Lister l�chelte schmallippig. �Das m�chte ich nicht an die gro�e Glocke h�ngen.�

�Nat�rlich nicht. Auch ich selbst habe mich nebenbei mit den R�nkespielen dieser geheimen Welt befasst. Ich erinnere mich noch gut an ihre Anstandsregeln.�

Mit einem Male fiel Moon auf, dass er angefangen hatte, Madame Innocentis Schauspielkunst zu vergessen, und dabei war, ihre Corcoran‐Stimme als eine eigene, unabh�ngige Person zu akzeptieren. Er gebot sich mit aller Strenge, diese l�cherlichen Torheiten zu lassen.

�Womit kann ich Ihnen dienen?�

�Ich brauche einen Namen. Wir haben den Verdacht, einer der jungen M�nner, die f�r uns t�tig sind, k�nnte sich in den Dienst fremder M�chte gestellt haben.�

Madame Innocenti nickte wissend. �Ochrana? Der russische Geheimdienst?�

Lister beeilte sich, ihr das Wort abzuschneiden. �Psst! Wir sind nicht allein!�

�Allerdings.�

�K�nnen Sie mir sagen, wer es ist?�

�Geben Sie mir alle Namen.�

Sichtlich verlegen nannte Lister dem Medium die Vornamen der f�nf Hauptverd�chtigen.

Madame Innocenti h�rte zu und blieb stumm. Nach einer Weile sagte sie: �Der Mann, den Sie suchen, ist …� Und in der leicht herablassenden Art eines �rtlichen W�rdentr�gers, der bei der Pfarrtombola das Los f�r den Hauptpreis zieht, wiederholte sie den dritten in der Reihe der genannten Namen. �Er hat sich schon vor Monaten mit der anderen Seite arrangiert.�

�Ich stehe in Ihrer Schuld, Se�or Corcoran.�

�Behandeln Sie den Mann nachsichtig. Er ist jung und unerfahren, man sollte ihn nicht allzu sehr verdammen.� Sie seufzte. �Ich bin m�de. Aber es ist jemand hier, der sich noch nicht gemeldet hat. Mister Moon? Gibt es jemanden, mit dem Sie ein Gespr�ch w�nschen? Ein Mensch, dem Sie zugetan waren? Ein Verwandter oder eine Liebste, die uns bereits verlassen haben?�

Der Schlafwandler erschrak sichtbar, als Moon antwortete: �Ja.�

�Der Name?�

�Seinen richtigen Namen kenne ich nicht, aber im Leben nannte er sich ›Fliegenmensch‹.�

Eine angespannte Pause, und dann: �Es ist jemand hier, der sich als solcher zu erkennen gibt. Aber ich muss Sie warnen, Sir, der Fliegenmensch hat seinen Seelenfrieden noch nicht gefunden. Er ist ein zorniger, unruhiger Geist.�

�Ich m�chte ihn trotzdem sprechen.�

Ein Schatten �berflog das Gesicht Madame Innocentis. �Wie Sie w�nschen.� Sie tat einen schrillen Schrei, ihr Kopf ruckte nach hinten, und sie wand sich auf ihrem Stuhl, als hielte eine unsichtbare Kraft sie gepackt. Ganz pl�tzlich verzerrte sich ihr Gesicht und verschrumpelte, und sie verwandelte sich vor aller Augen in ein geiferndes Scheusal – die Bestie von Tooting Bec. Zum Schrecken ihrer versammelten Anh�nger war keine Spur ihrer fr�heren Beredtheit mehr vorhanden, sondern, wahrhaftig: Madame Innocenti knurrte!

�Hallo�, sagte Moon mit einer Nonchalance, die er nicht wirklich empfand, �erinnerst du dich an mich?�

�Moon�, murmelte das Medium mit rasselnder, kehliger Stimme. �Moon.�

�Woher kanntest du meinen Namen?�

�Teil des Ganzen.�

�Des Ganzen? Welches Ganzen?�

�War ganz leicht. Ein Spa�. Wie K�fer zertreten. Ein Sto�, ein Schubs, und sie flogen durch die Luft. Leicht. Ganz leicht.�

Nur sehr wenig konnte Moon noch �berraschen, aber die Vorstellung, die Madame Innocenti hier gab, verschlug ihm die Sprache. Aschfahl im Gesicht und mit abgesacktem Kinn fragte er: �Wer bist du?�

�Prophet!�, gurgelte das Medium. �T�ufer! Wegbereiter!�

Moon gewann seine Haltung wieder. �Erz�hl mir mehr dar�ber.�

Madame Innocenti grinste. In dem Halbdunkel sah es so aus, als bef�nden sich viel zu viele Z�hne in ihrem Mund. �Hab eine Warnung.�

�Eine Warnung? F�r mich?�

�Zehn Tage, bis die Falle zuschnappt. Bis der Albtraum beginnt. Bis London brennt, die Stadt f�llt.�

Moon beugte sich vor. �Erkl�re mir das!�

Eine lange Pause. Dann: �Schei�e.� Madame Innocenti schien sich das Wort auf der Zunge zergehen zu lassen, rollte es im Mund herum wie den ersten Schluck eines unvorstellbar teuren Weins.

Moon traute seinen Ohren nicht. �Wie bitte?�

�Schei�e.� Madame Innocenti klang durchaus besonnen und �berlegt. �Schei�e. Pisse. M�se.� Das letzte Wort spuckte sie mit ganz besonderem Genuss aus.

Die Salisburys waren entsetzt, Dolly Creed nur verwirrt, w�hrend Mister Lister sich nach Kr�ften bem�hte, ein nerv�ses Kichern zu unterdr�cken.

�Mister Moon!� Das war Madame Innocentis Ehemann. �Das geht zu weit!�

�Schei�e�, sagte seine Frau im Plauderton. �M�se M�se M�se.�

�L�sen Sie den Kreis! H�nde loslassen!�

Sofort rissen sich alle von ihren Nachbarn los, und Madame Innocenti richtete sich abrupt auf, w�hrend ihr ein dicker Speichelklumpen ungehindert vom Mund fiel. Die Salisburys schwankten auf die F��e, und Mrs Erskine stach mit dem Zeigefinger zornig in Moons Richtung. �Sie sind ein sch�ndlicher �belt�ter!�, rief sie. �Man sollte Sie einsperren!�

Madame Innocenti �ffnete die Augen und strahlte. �Ich bin wieder zur�ck�, sagte sie mit ihrer normalen Stimme und wischte den Speichel weg, der ihr immer noch in z�hen F�den von den Lippen hing.

Alle starrten sie verbl�fft an.

�Hoffentlich habe ich nichts getan, was mir jetzt peinlich sein m�sste�, l�chelte sie freundlich in die Runde.


Am n�chsten Morgen waren sie kaum aufgestanden, als der Albino auftauchte.

�Irgendetwas?�

Moon durchbohrte ihn mit seinem Blick. �Ich bin nicht Ihr Lakai.�

�Sagen Sie mir einfach nur, was geschehen ist.�

Nicht mehr ganz so hochfahrend erstattete Moon Bericht, etwas abgewandelt und ohne den Fliegenmenschen zu erw�hnen, w�hrend Skimpole, offenbar beunruhigt von den Neuigkeiten, mit seinen schlanken Fingern ungeduldig auf die Tischplatte trommelte.

�Zehn Tage�, sagte er nachdenklich, als Moon geendet hatte, und fragte dann unvermittelt: �Halten Sie die Warnung f�r echt?�

Der Magier und Detektiv w�hlte seine Worte mit Sorgfalt. �W�ren Sie gestern Nachmittag mit dieser Frage gekommen, h�tte ich gesagt, mit Sicherheit nicht. Meiner Erwartung nach geh�rte Madame Innocenti in die Reihe der �blichen Scharlatane wie alle anderen auch.�

�Und Sie haben Ihre Auffassung ge�ndert?�

Der Schlafwandler kritzelte etwas auf seine Tafel.

FLIEGE

Skimpole schien irritiert durch die Unterbrechung. �Was will er denn damit sagen?�

�Ich bat sie, mit dem Geist des Fliegenmenschen sprechen zu d�rfen�, gestand Moon.

�Und? Sprachen Sie mit ihm?�

Moon wurde blass. �Ja�, nickte er. �Ich glaube wirklich, dass ich das getan habe.�

Skimpole trug ihnen auf, sich bei erster Gelegenheit wieder nach Tooting Bec zu begeben, nuschelte eine Art wortlosen Dank f�r ihren Dienst an der Krone und stapfte zur T�r. Gerade, als er hindurchtreten wollte, drehte er sich noch einmal um. �Ach ja – beim Empfang wartet eine �berraschung auf Sie.�

Moon und der Schlafwandler machten sich auf den Weg nach unten, wo sie eine alte Freundin vorfanden. Sie quiekte entz�ckt, als sie die beiden erblickte. �Mister Moon!�

Selbst der Detektiv gestattete sich ein kleines L�cheln, als er sie wiedersah. �Mrs Grossmith!�

Der Schlafwandler hingegen erlegte sich keine Zur�ckhaltung auf, und er und die Haush�lterin fielen einander innig in die Arme.

�Skimpole hat mich gefunden�, erkl�rte sie, als die beiden sich voneinander gel�st hatten. �Ich soll ab jetzt hier f�r Sie arbeiten.�

�Aha.�

�Freut Sie das nicht?�

�Ich habe momentan den Kopf voll mit Dingen, die mich besch�ftigen.�

Jemand h�stelte. Ein Fremder stand ein halbes Dutzend Schritte hinter Mrs Grossmith, ein unordentlich wirkender, hochgewachsener Mann, der ein paar Jahre �lter schien als sie. Mit seiner langen Nase und den unverh�ltnism��ig gro�en Ohren erinnerte er stark an eine Teekanne mit zwei Henkeln. Er wollte n�herkommen, verfing sich jedoch in seinen Schn�rsenkeln und lag im n�chsten Moment flach auf dem Boden. Nachdem er sich wieder hochgerappelt und den Staub von den Kleidern geklopft hatte, fragte er mit leiser, nerv�ser Stimme: �Also, Mrs Grossmith, wollen Sie uns jetzt vorstellen oder nicht?�

Mrs Grossmith err�tete. �Oh, Verzeihung�, kicherte sie ungewohnt kleinm�dchenhaft. �Das ist Arthur Barge. Mein Hauswirt. Und jetzt …� Wieder entschl�pfte ihr ein Kichern, und sie fuhr in einem leicht schrillen Tonfall fort: �Ein ganz besonders lieber Freund.�

Ein langes, peinliches Schweigen folgte. Moon musterte den Mann herablassend und sch�ttelte halbherzig seine Hand.

Arthur Barge stieg verlegen von einem Fu� auf den anderen. Gl�cklicherweise wurden sie vom N�hertreten des Hotelportiers unterbrochen.

�Mister Moon?�, fragte der Mann diskret und unterw�rfig wie immer. �Sie haben noch einen Besucher. Er ist leider �u�erst hartn�ckig.�

�Wer?�

Bevor der Portier noch antworten konnte, marschierte ein komischer Kauz in den Raum. Er fing sofort an zu reden und stolperte in seiner Hast, sich Geh�r zu verschaffen, dabei �ber jedes zweite Wort. �Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen. Es w�re mir �u�erst unangenehm, ein Freundestreffen zu st�ren. Doch in Anbetracht dessen, was passiert ist, sehen Sie alle sehr gut aus.� Er streckte Moon die Hand hin. �Edward! Wie sch�n, Sie wiederzusehen. H�tten Sie Lust auf einen Spaziergang?�

Es war nat�rlich Thomas Cribb.


ELF

Unter der Stadt tr�umt der alte Mann.

Ein Satz taucht aus den Tiefen des Nichts auf und formt sich in seinem Kopf.

�Alle Dichter kommen in die H�lle.�

Eine seltsame Aussage, aber der Alte ist sicher, dass er sie schon irgendwo geh�rt hat. Oder gelesen, vielleicht. Oder sogar selbst geschrieben.

Er tr�umt, dass er sich wieder in seinem Schlafzimmer in Highgate befindet. Doktor Gillman ist da – und noch jemand, eine zwergenhafte Gestalt dr�ben in den �belwollenden Schatten, die in den �u�ersten Winkeln des Zimmers lauern. Dann tritt der Fremde ins Licht, die dunkle Gestalt zeigt sich – und der Tr�umer lacht erleichtert auf: Es ist ein kleiner Junge, nicht �lter als zehn Jahre. Er erkennt ihn jetzt wieder. Das Kind hat einen Namen, der im Traum zielstrebig auf ihn zuschwebt. Ned. Aber der Zuname des Jungen entzieht sich seiner Kenntnis, und der Traum wechselt erneut.

Er ist an einem Strand und bohrt die nackten Zehen in den Sand, den er rund um seine F��e hochkriechen und in jede Hautfalte eindringen sp�rt. Die B� fasst spielerisch nach ihm, f�ngt sich in seiner Jacke wie in einem Umhang, und dann gl�ckt es ihr fast, ihm den Hut vom Kopf zu rei�en. Er sieht eine �ltliche Frau am Rande eines Holzstegs stehen, den man in die Brandung geschoben hat. Arthritisch zuckelt sie die kurze Treppe hinab ins Seichte und quiekt nach Altweiberart, als sie mit dem kalten Wasser in Ber�hrung kommt. Der alte Mann lacht dazu, und mit einem Mal steht Ned neben ihm, die hei�e kleine Kinderhand in der seinen. Ned lacht auch, und keiner von beiden wei�, warum. Der Junge packt seine Hand ganz fest und sie gehen weiter.

Die Jahre laufen zur�ck, aber der Schauplatz ist derselbe. Der Tr�umer steht wieder am Strand, aber er ist jetzt nicht mehr alt. Der Junge ist verschwunden (er muss zweifellos erst geboren werden), stattdessen ist ein anderer Mann an seiner Seite, jemand, den der Tr�umer als wichtig erachtet, als bedeutsam f�r viele Leben, nicht nur f�r sein eigenes. Sie planschen gemeinsam im Wasser. Ihre Schuhe liegen im trockenen Sand, und sie haben die Hosenbeine aufgerollt bis �ber die Knie; ihre �ngstliche Begleitung l�sst sie nicht aus den Augen. Das Wasser leckt gierig an ihren Waden, und der Tr�umer grinst seinem Gef�hrten zu. Pl�tzlich kommt es ihm zu Bewusstsein: der Premierminister! K�nnte das sein? Zu unwahrscheinlich, entscheidet er und bewegt sich unruhig im Schlaf. K�nnte es wirklich sein, dass er einst in Ramsgate mit dem Premierminister im Wasser geplanscht hat?

Ramsgate? Wann hat er sich nur daran erinnert?

Vermutlich gar nicht. Tr�ume l�gen.

Wieder das Zimmer in Highgate. Gillman und der Junge. Wie �blich plappert der alte Mann pausenlos vor sich hin, und sein unaufh�rlicher Redestrom windet sich umst�ndlich durch eine weitere Anekdote. �Alle Dichter kommen in die H�lle�, sagt er, und das Kind lauscht gebannt; Gillman hingegen wirkt gelangweilt – er hat es ja alles schon geh�rt, und das mehr als einmal. Selbst in seinem Traum ist sich der Alte seines Rufes der Geschw�tzigkeit bewusst.

Dann erinnert er sich. �Alle Dichter kommen in die H�lle.� Irgendetwas sagte das irgendwann zu ihm. Etwas nicht vollkommen Menschliches, etwas nicht ganz Lebendiges – etwas, dessen Stimme heimt�ckisch raschelte wie der Wind in trockenen Bl�ttern.

Und dann ist er wieder jung, immer noch Student, in seiner Unterkunft allein mit diesem Ding, das ihm – um einen bestimmten Preis – versprochen hat, ihn in gewisse Geheimnisse einzuweihen. �Alle Dichter kommen in die H�lle�, sagt es mit Augen wie gl�hende Kohlen, und der alte Mann wei�, dass dies alles ist, was es je sagen wird – immer nur denselben verwirrenden Satz, bis zum �berdruss und in alle Ewigkeit.

Vierzig Jahre sp�ter erz�hlt er die Geschichte, und Gillman lacht, als w�rde er nur wieder irgendein Garn spinnen, irgendein unversch�mt ausgeschm�cktes Geschichtchen zum Besten geben; aber der Junge, dieser seltsame, ernsthafte, ganz besondere kleine Junge lacht nicht, und der Alte denkt – der Alte wei� –, dass dies, genau dies die eine, einzige Geschichte ist.

Und w�hrend er schl�ft, dr�hnt und l�rmt �ber ihm die Stadt weiter.


Ein leichter Geruch umgab Mister Cribb, den Moon nie zuvor bemerkt hatte und der keineswegs unangenehm war – kein Geruch nach menschlichen Ausd�nstungen oder der muffige, dumpfe Gestank eines ungewaschenen K�rpers, sondern etwas Ungew�hnlicheres, Erquicklicheres, das an Reife, Moder und Dunst gemahnte. Cribb roch wie Bl�tter im Oktober. Er roch nach Herbst.

Sie waren schon ein ganzes St�ck vom Hotel entfernt, als sie bemerkten, dass ihnen jemand folgte.

�Ein Freund von Ihnen?�, fragte der h�ssliche Mann und deutete unauff�llig mit dem Kopf auf einen Mann im grauen Anzug, der gleichm�tig einen halben H�userblock hinter ihnen hertrottete.

�Mein Kammerdiener�, erkl�rte Moon. �Mein Bewacher. Skimpole l�sst mich ohne ihn nicht aus dem Haus.�

Cribb winkte dem Mann mit seiner vierfingrigen Linken zu, und dieser erwiderte den Gru�, indem er etwas z�gernd die Krempe seiner Melone ber�hrte.

�Wie gef�llt Ihnen Mister Skimpole?�, fragte Cribb.

Moon verzog das Gesicht.

�Eines sage ich Ihnen voraus: Wenn all dies vorbei ist, wird er Ihre Achtung erlangt haben.�

Moon �berraschte sich selbst mit seinem lauten Auflachen. �Ich nehme an, Sie haben es alles schon gesehen. In der Zukunft.�

�Vergessen Sie nicht�, entgegnete Cribb mit komischer Ernsthaftigkeit, �ich wei�, wie die Geschichte weitergeht!�

Der Detektiv verdrehte die Augen.

�Nat�rlich gibt es gewisse Regeln bei derartigen Dingen�, fuhr Cribb fort. �Aber das eine kann ich Ihnen verraten: Skimpole findet keinen gl�cklichen Tod.�

�Wie schade�, sagte Moon; es klang keineswegs ersch�ttert, worauf Cribb sich unerwarteterweise zur Verteidigung des Albinos aufraffte.

�Er ist kein schlechter Mensch. Er handelt aus, wie er zu wissen vermeint, ehrenwerten Motiven.�

Moons Mundwinkel zogen sich ver�chtlich herab. �Das tun auch Folterknechte.�

�Er ist kein Monster!�

Moon blickte sich um und sah, dass er sich in dieser Gegend nicht mehr zurechtfand. Die bekannten Stra�en lagen alle hinter ihnen, und nun erstreckte sich in alle Richtungen fremdes Terrain. �Wohin gehen wir?�

�Ins Hafenviertel�, antwortete Cribb und marschierte weiter. �Fragen Sie mich nicht, warum. Ich sage es Ihnen, wenn wir dort sind.�

�Gibt es irgendeinen Grund, weshalb wir keine Droschke nehmen k�nnen?�

�Um die Stadt zu verstehen, muss man ihr Fundament unter den F��en sp�ren, ihre Luft atmen, ihre unendliche Vielschichtigkeit hautnah erleben.�

�Sie wissen, dass Sie ein bemerkenswert irritierender Mensch sind?�

�Ja, das h�re ich nicht zum ersten Mal.�

Sie gingen weiter, seltsam zufrieden in der Gesellschaft des anderen, obwohl Skimpoles Vertrauter ihnen unabl�ssig auf den Fersen blieb.

�Welche ist Ihre allererste Erinnerung?�, fragte Cribb unvermittelt nach langem Schweigen.

Moon warf der schlaff dahintrottenden, schief gewachsenen Gestalt an seiner Seite einen scharfen Seitenblick zu. �Warum?�

�Es k�nnte wichtig sein.�

�An meinen Vater�, antwortete Moon, �der mich mitten in der Nacht weckt, um mir zu sagen, dass meine Mutter verstorben ist.�

Wie es aussah, fehlte nicht viel, und Cribb h�tte sich freudig die H�nde gerieben. �Wunderbar!�, lachte er leise in sich hinein.

�Und Sie?�, fragte Moon, leicht befremdet von der Reaktion seines Begleiters. �Welches ist Ihre erste Erinnerung?�

Cribb runzelte die Stirn. �Ich bezweifle sehr, dass Sie mir glauben werden.�

�Bitte!�

�Ich erinnere mich an die Stra�en in Flammen. An die Stadt, heimgesucht von Feuer und Pestilenz. Den gro�en Stein, der zersprang. Ich bin alt und sterbe.�

�Sie sind alt?�

�Es ist … kompliziert.�

�Das bemerke ich gerade�, sagte Moon mit sarkastischem Unterton.

�Tats�chlich?�

�Sie glauben das alles wirklich, nicht wahr?�

Aber Cribb hatte nur ein L�cheln als Antwort und sie gingen weiter.

�Ich nehme an, Sie haben mittlerweile auch Madame Innocenti kennengelernt�, bemerkte er nach einer Weile.

�Wer hat Ihnen das gesagt?�

Mit einer matten Handbewegung wischte Cribb die Frage beiseite. �Ich stecke nicht mit dem Direktorium unter einer Decke, falls Sie das denken.�

�Es kam mir schon in den Sinn.�

�Nun, dann verscheuchen Sie diesen Gedanken f�r immer�, riet Cribb. �Was halten sie von ihr?�

Moons Kehle wurde pl�tzlich trocken und fing an zu kitzeln; er schluckte, nicht willens, Cribbs Frage zu beantworten.

�Sie haben mit der Fliege gesprochen, nicht wahr?�

�Habe ich das tats�chlich? Ich bin wirklich au�erstande zu sagen, mit wem ich gesprochen habe. Es war unheimlich.�

�Sie werden sie wiedersehen�, stellte Cribb fest. �Und n�chstes Mal werden Sie die Wahrheit erkennen.�

�Wie weit ist es noch?� Moon warf einen Blick zur�ck. �Ich glaube, unser Freund wird langsam m�de.�

�Wir sind gleich da.�

Bald kamen die wohlbekannten T�rmchen der Tower Bridge in Sicht, und dahinter die Kaianlagen, Lagerh�user und Schiffswerften des Hafenviertels. Das alles lie� Moon an so etwas wie ein industrielles Bagdad denken – mit seinen geschw�rzten T�rmen, den ru�igen Zikkuraten und im Smog erstickenden Minaretten. Die Themse schl�ngelte sich mitten durch, ein weggeworfenes schmutziggraues Band, das von irgendwoher in die Landschaft geflattert war.

�Bleiben Sie dicht bei mir.�

Sie ignorierten eine Reihe von Zutrittsverboten und hievten sich �ber zahllose Absperrungen und Z�une. So erreichten sie schlie�lich recht m�hsam das Ufer der Themse. Moon r�mpfte die Nase wegen des allgegenw�rtigen F�ulnisgeruchs und setzte seine Schritte so vorsichtig wie m�glich; trotzdem quoll der Schmutz und Schlick des Flusses von allen Seiten �ber seine Schuhe.

�Schlamm!�, begann Cribb und klang dabei genauso wie auf der London Bridge: als w�rde er zu einer Predigt ansetzen. �Herrlicher Schlamm …�

�Haben Sie Feuer?�, fragte Moon, w�hrend er in seinen Taschen erfolglos nach einer Zigarette suchte.

Cribb beachtete ihn nicht. �Wir haben die Eingeweide der Stadt passiert; nun durchwandern wir die L�nge ihres Ged�rmes.�

�Bezaubernder Vergleich.�

�In einem Jahrhundert wird all das hier niedergerissen, dieses Verm�chtnis des Flei�es, der Plackerei und des Schwei�es. An seiner Stelle werden gro�e Tempel erbaut, Monumente des Reichtums, der Habsucht und der Macht.�

Moon starrte geradeaus; er h�rte nicht wirklich zu. �ber ihnen schrie eine M�we.

Cribb schnatterte weiter. �London ist ein Hemmschuh. Verstehen Sie? Es beengt und schw�cht seine Einwohner. Die Stadt ist eine Falle.�

�Was geht dort vor sich?�, fragte Moon und zeigte auf so etwas wie ein gro�es Zelt, das aus unerfindlichen Gr�nden ein paar Schritte vom Fluss entfernt am Ufer thronte.

�Also wirklich, Edward! Sie k�nnen einen manchmal rasend machen! Ich versuche gerade, Ihnen etwas �u�erst Wichtiges zu erkl�ren!�

Cribb schnalzte missbilligend mit der Zunge, aber Moon hatte bereits seine Schritte beschleunigt, und so war er gezwungen, sich in Trab zu setzen, um seinen Begleiter einzuholen. Es am�sierte ihn, Skimpoles Mann zu bemerken, der hinter ihnen herwatschelte, Schuhe und Hosen durchn�sst und matschig vom schleimigen Auswurf des Flusses.

Moon erreichte das Zelt. Das leinene Vordach flatterte ger�uschvoll im Wind, so als w�re ein gro�er Vogel darunter gefangen, der beim Versuch freizukommen verzweifelt mit seinen gigantischen Fl�geln schlug. Der Magier und Detektiv lugte ins Innere des Zeltes und sah, dass man das Erdreich dort sorgf�ltig ausgehoben hatte. Der Boden war von Gruben und Trichtern durchzogen und von Markierungspfl�cken �bers�t; das Gel�nde war abgesteckt und eingeteilt.

Eine Gruppe von M�nnern – umgeben von einer Aura schlampiger Vornehmheit, gesteckt in schlammbespritzte, verschmutzte Kleider – erregte Moons Aufmerksamkeit; sie dr�ngten sich um ein gro�es, rundes Objekt auf einem Tisch in der Mitte des Zeltes. Moon ging n�her heran – und ben�tigte einen Moment, um die schiere Absonderlichkeit des Anblicks in sich aufzunehmen: zu akzeptieren, dass das, was er sah, Realit�t war.

Er betrachtete etwas, das anscheinend einen gewaltigen Kopf aus Stein darstellte – zu gro� und unhandlich, um von einer einzelnen Person hochgehoben zu werden, verkrustet mit Sand und Schlick, aber ansonsten unversehrt. Kichernd und durcheinandergackernd wie eine Schulklasse, die vom Lehrer kurz alleingelassen wurde, waren die M�nner viel zu aufgeregt, um von Moons Eindringen viel Notiz zu nehmen.

�Wer seid ihr?�, fragte er.

�Vom Britischen Museum�, zischte einer von ihnen. �Sind Sie von der Presse?�

�Ja�, log Moon skrupellos, und der Mann nickte ihm zerstreut einen Gru� zu.

Endlich traf auch Cribb ein – au�er Atem und mit einen Hauch Farbe auf den Wangen, die sich mit seinem r�tlichen Haar so gar nicht vertrug.

Moon schenkte ihm keine Beachtung, sondern wandte sich an einen anderen aus der Gruppe: �Was ist das?�

Der Angesprochene schien beinahe trunken vor Gl�ck. �Ein �u�erst bedeutsamer Fund�, antwortete er. �Es muss ganz zweifellos …� Er drehte sich zu einem Kollegen um, der �ber den riesigen Kopf gebeugt am Tisch stand: �Was denkst du? Vorr�misch, sicher vorr�misch, wie?� Jetzt sah Moon, dass der Kopf aus irgendeinem br�unlichen Metall bestand.

�Muss es wohl sein, bei dieser Tiefe�, antwortete der Kollege.

�Sehen Sie nur diese Kunstfertigkeit!�, hauchte Moons Gespr�chspartner. �Diese anspruchsvolle Ausf�hrung!�

�Und wer soll das sein?�

Der Mann ging daran, sanft die Verschmutzungen von dem Kopf zu wischen. �Gef�hrliche Sache, mit Theorien daherzukommen, wenn noch keine Fakten vorliegen�, sagte er. �Aber falls ich eine Mutma�ung �u�ern d�rfte, dann … ein hiesiger Anf�hrer vielleicht? Stammesh�uptling?�

�Zu beeindruckend daf�r�, erkl�rte der �lteste der Gruppe. �Viel zu imposant.�

�Warte mal�, mischte sich ein anderer ein. �Da steht ein Name!�

Als der trockene Schlamm vom Sockel des Kopfes entfernt war, erschien ein Wort aus drei Buchstaben.

Der junge Mann las es laut. �Lud!�, schrie er auf. �Der Gr�nder Londons! Der K�nig der Stadt!�

�Unm�glich!�, rief einer der M�nner.

�Ich kann es nicht glauben!�, ein anderer.

�Lud?� Aufmerksam verfolgte Moon, wie der Rest des harten Erdreiches weggeb�rstet wurde, und gewann das sichere, schwindelerregende Gef�hl, bereitwillig in eine Falle getappt zu sein. Die Gesichtsz�ge des Kopfes traten deutlicher hervor – etwas Beklemmendes, wenngleich Wohlbekanntes, das unerbittlich immer klarer sichtbar wurde. Als sich das Antlitz schlie�lich zu erkennen gab, schnappten einige der Anwesenden nach Luft.

�Ach ja�, erinnerte sich der Alte mit versp�tetem Misstrauen. �F�r welche Zeitung, sagten Sie, schreiben Sie?�

Moon ignorierte ihn. �Das kann nicht sein�, murmelte er.

Der Bronzekopf war jetzt sauber, die Schleier der Geschichte waren weggewischt, um – voller Kalkablagerungen zwar, doch ansonsten perfekt erhalten – ein Bildnis des ersten K�nigs von London zu zeigen. Lud war enth�llt.

Und Edward Moon konnte nur hilflos darauf hinabblicken; er biss sich heftig auf die Unterlippe, um nicht laut aufzuschreien, als die unverwechselbaren, h�sslichen Gesichtsz�ge Thomas Cribbs ausdruckslos �ber die Jahrhunderte hinweg zur�ckstarrten.


Als Moon zum Hotel zur�ckkehrte, traf er Mister Speight auf der Stra�e davor an, der dort schon auf ihn wartete. Der Vagabund war wie gewohnt in seinen schmutzigen Anzug gekleidet, aber sein Gesicht war mit frischen wunden Stellen bedeckt, die sich nur zum Teil unter seinem struppigen Bart verbargen. Eine Flasche mit etwas Gelbem darin lugte aus seiner Jackentasche hervor, und vor sich hatte er sein Markenzeichen aufgestellt, das Schild mit der Aufschrift:

JA, ICH KOMME BALD
OFFENBARUNG 22.20

�Tag, w�nsche ich!�, sagte er – gut gelaunt, aber noch nicht ganz betrunken. Der T�rsteher des Hotels warf ihm einen giftigen Blick zu, was Speight mit einem Nicken quittierte. �Der versucht schon stundenlang, mich da wegzuscheuchen.�

�Was wollen Sie denn hier?� Moon war immer noch wie vor den Kopf geschlagen und nahezu �berzeugt, dass es sich bei dem Mann vor ihm um ein Trugbild handelte.

�Ich habe Sie aufgesp�rt!�, sagte Speight stolz.

Moon kniff kurz die Augen zusammen, immer noch etwas im Zweifel, dass dieser Dialog tats�chlich stattfand. �Was kann ich f�r Sie tun?�

�Um ehrlich zu sein … es ist das Geld. Seitdem das Theater … Jetzt habe ich kein Pl�tzchen zum Schlafen mehr. Alles ist viel schwieriger geworden. Sie waren immer so freundlich zu mir …�

Moon unterbrach ihn mit einer Handbewegung, griff in die Jackentasche und hielt dem Mann eine Pfundnote hin. �Hier. Investieren Sie es mit Bedacht.�

�Eigentlich�, gab Speight unumwunden zu, �werde ich es nur f�r Schnaps ausgeben.�

Moon ging langsam an ihm vorbei die Treppe zum Hoteleingang hoch. �Offen gesagt, Mister Speight, w�rde ich mich Ihnen dabei im Moment liebend gern anschlie�en.�

�Geht’s Ihnen nicht gut?� Speight schien aufrichtig besorgt.

�Ist es Ihnen je widerfahren, dass alles, woran Sie zeitlebens geglaubt haben, in ein paar Stunden zusammenf�llt wie ein Kartenhaus?�

�K�nnte ich eigentlich nicht sagen, nein, Sir.�

�Haben Sie je zugesehen, wie sich alle Vernunft und Logik vor Ihren Augen in Luft aufl�sen?�

�Wiederum nein, Sir. K�nnte ich nicht behaupten.�

�Wurden Sie je durch die schiere Unm�glichkeit der Wahrheit in eine akute Lebenskrise gest�rzt?�

Der Bettler betrachtete Moon mit einem langen, verlegenen Blick. �Vielleicht sollten Sie sich nur mal aufs Ohr legen, Sir. Danke vielmals f�r das Geld.�

Mit einem schweren Seufzer trat Moon durch die T�r.


Sechs Stunden sp�ter, als er zusammengesunken an einem Tisch im hintersten Winkel der Hotelbar sa�, sah Moon mit getr�btem Blick Arthur Barge friedlich vorbeispazieren. Der Detektiv kr�mmte den Finger und winkte ihn n�her. �Mister Barge?�

Die menschliche Teekanne mit den zwei Henkeln strahlte. �Einen guten Abend w�nsche ich!� Er eilte auf Moon zu, wobei er �ber einen aus der Reihe tanzenden Barhocker stolperte.

�Ich w�nsche�, sagte Moon mit jenem gewichtigen, w�rdevollen Ernst, der so charakteristisch ist f�r einen Mann, der schwer geladen hat, �ein W�rtchen mit Ihnen zu reden.�

�Ich nehme an, es ist wegen Mrs Grossmith und mir. Sie ist eine prachtvolle Frau, Sir. Eine echte Dame. Aber lustig und munter, wenn es angebracht ist.�

Moon legte die Fingerspitzen gegeneinander. �Mister Barge. Ich verdanke Mrs Grossmith jahrelange treue Dienste. Ich bin nicht v�llig gef�hllos und w�rde mir nicht w�nschen, zusehen zu m�ssen, wie Sie ihr – um es volkst�mlich auszudr�cken – das Herz brechen.�

Barge gluckste leise. �Wollen Sie mich damit fragen, ob meine Absichten ehrenhaft sind?�

�Allerdings�, antwortete Moon ohne den Anflug eines L�chelns. �Wie haben Sie das blo� erraten?�

Barge plusterte sich auf. �Seien Sie ganz beruhigt. Ich werde sie immer in Ehren halten.�

Moon leerte sein letztes Glas. �Das m�chte ich Ihnen auch empfehlen. Wenn ich draufkomme, dass Sie sie in irgendeiner Weise schlecht behandeln, dann …� Er unterbrach sich, weil ihm keine ausreichend gef�hrliche Drohung einfallen mochte. �Verlassen Sie sich darauf�, schloss er lahm, �ich kriege Sie!�

Barge starrte ihn an, verbl�fft �ber diesen so lauwarm versandeten Ausbruch von Angriffslust. �Tut mir leid, wenn ich Sie irgendwie erz�rnt haben sollte. Ehrlich. Ich wei� nicht, wie das geschehen konnte.�

�Ich werde Sie im Auge behalten�, knurrte Moon ungehalten.

�Ich liebe sie eben�, f�gte Barge kleinlaut hinzu; er schritt zum Ausgang und konnte es dabei sogar vermeiden, die Gl�ser der G�ste umzuwerfen. Doch dann hatte er gro�e M�he mit der T�r, weil er erfolglos versuchte, sie aufzurei�en, wo sie doch dem leichtesten Druck nachgegeben h�tte. Erst das Eintreten des Schlafwandlers bot ihm die Gelegenheit zu entkommen. Er blieb einen Moment stehen, um dem Riesen seinen Dank auszusprechen, aber dieser trampelte m�rrisch an ihm vorbei, ohne ihn auch nur anzusehen.

Als Moon seinen Freund erblickte, �chzte er und schob in dem vergeblichen Versuch, den Umfang seines Getr�nkekonsums zu verschleiern, einige der leeren Gl�ser beiseite, die aufgereiht vor ihm standen. Der Schlafwandler war jedoch nicht zu irgendwelchen Spielchen aufgelegt. Er zog sich einen Barstuhl an den Tisch, senkte seine h�nenhafte Statur darauf und schrieb wie wild auf seine Tafel; das grimmige Rattern der Kreide �ber den Schiefer klang f�r Moon wie entfernter Kanonendonner.

WO WARS DU

Moon wand sich. Der Schlafwandler deutete w�tend auf das Geschriebene.

�Ausgegangen�, sagte Moon und stand unsicher auf. Einen Moment lang schwankte er hin und her, bis die Beine wieder unter ihm nachgaben und er hart auf den Stuhl zur�ckfiel. Der Schlafwandler nahm keine Notiz davon.

CRIBB?

�Ja�, gestand Moon mit dem Anflug einer Gef�hlsregung in der Stimme.

TRAU IM NICH

Moon blickte auf. �Du kennst ihn, stimmt’s?�

BLEIB WEG VON IM

�Das begreife ich nicht. Warum willst du mir nicht sagen, was du wei�t? Warum will mir niemand sagen, was er wei�?�

FERTRAU MIR

Moon seufzte.

BITTTE

Aufgeregt unterstrich der Schlafwandler das Wort.

Moon presste die H�nde an den Kopf. �Also gut. Wenn’s dich gl�cklich macht. Ich werde ihn nicht wieder treffen.�

Der Schlafwandler nickte gewichtig.

�Aber du versprichst mir, dass du mir eines Tages sagen wirst, weshalb.�

Der Riese hob die Schultern.

�Na sch�n�, stie� Moon hervor. �Wenn es f�r mehr nicht reicht.� Er rappelte sich hoch und wankte aus dem Raum.

In seiner Suite angelangt, zwang er sich – in dem m��igen Versuch, den Auswirkungen des Alkohols zu begegnen –, drei Gl�ser Wasser hinunterzust�rzen, bevor er willenlos auf sein Bett fiel. In den wenigen Sekunden, bevor er das Bewusstsein verlor, sah er, unf�hig, sich zu r�hren, wie Skimpoles Mann ins Zimmer lugte, seinen Zustand erkannte und die T�r leise wieder schloss. Moons letzter Gedanke galt der trunkenen Gewissheit, dass die merkw�rdigen Vorf�lle, die seit Cyril Honeymans Sturz vom Turm sein Leben ausf�llten, einem bestimmten Plan folgen mussten, dass irgendein noch unentdeckter Zusammenhang sie alle miteinander verwob und dass sie wie mit einem unsichtbaren Band verkn�pft waren. Er konnte nur einen winzigen Teil davon sehen – so als w�rde man den einzelnen Faden eines Spinnennetzes unter dem Mikroskop betrachten –, aber er hatte das sichere Gef�hl, er m�sste nur einen Schritt zur�cktreten und w�rde aus dieser Entfernung einen aufschlussreichen �berblick �ber das Gesamtbild erhalten. Er gab sich alle M�he, diese Idee festzuhalten, aber er war zu benebelt vom Schnaps, und so h�pfte und zappelte sie wie eine Makrele am Haken und schl�ngelte sich davon; schlie�lich gab er auf, sodass die Dunkelheit ihn umfangen konnte, um ihn nicht mehr loszulassen.


In Newgate kam der Schlaf nicht so leicht.

Barabbas stank, und das wusste er. Die Lage eines Menschen ist wirklich ziemlich verfahren, wenn der infernalische Gestank der eigenen Ausd�nstungen so schlimm wird, dass er seinem Tr�ger Brechreiz verursacht. Owsley hatte Barabbas zahlreiche Beg�nstigungen verschafft, aber es schien, dass ein anst�ndiges Bad selbst �ber seine M�glichkeiten hinausging.

Barabbas g�hnte, kratzte sich den zottigen Bart und schlurfte unter seiner m�chtigen K�rpermasse die paar Schritte, die die Ausma�e seiner Zelle zulie�en. Jetzt, zu tiefster n�chtlicher Stunde, war alles ruhig – es war die einzige Zeit, in der das Gejohle und Gejammere der Insassen erstarb. Die Nachbarzelle wurde gegenw�rtig vom Mitglied einer fundamentalistischen Methodistensekte bewohnt, einem Mann, der sich die Zeit mit dem endlosen Hersagen des Vaterunsers vertrieb, gew�rzt nur gelegentlich, zwecks Abwechslung, mit einer kleinen Auswahl der bekannteren Psalmen. Der Mann musste kurz vor Mitternacht eingeschlafen sein, ersch�pft und heiser von den M�hen des Tages, denn Barabbas hatte seit fast einer Stunde nichts mehr von ihm geh�rt.

�Meyrick?�, zischte er. �Bist du da?�

Owsleys Gesicht tauchte zwischen den St�ben auf. �Wie immer�, murmelte er im Tonfall einer geduldigen Mutter, die ein besonders widerspenstiges Kind zu beruhigen sucht.

Barabbas seufzte – ein knatterndes, knochentrockenes Ger�usch. �Ich �de mich schrecklich an. Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, wie es mir hier drinnen ergeht? Diese elende, l�hmende Langeweile!�

Owsleys Stimme klang so unterw�rfig wie immer. �Ja, Sir. Das kann ich Ihnen nachf�hlen.�

�Ein Mann von Geist und Verstand, gefangen in einem K�fig, der nicht mal Tieren zugemutet werden kann! Ein funkelnder Intellekt, der zusammengepfercht ist mit Verbrechern und der au�er Warten nichts zu tun hat! Es ist eine der gro�en Trag�dien unserer �ra.�

�In der Tat, Sir.� Lag da eine Spur von Resignation in Owsleys Stimme? Ein kurzes L�ften der Maske des J�ngers? Das fl�chtige Zutagetreten eines seit langem leidenden Mannes, ausgenutzt und voller Groll? Vielleicht.

�Wann kommt Edward wieder?�

�Ich habe keine Ahnung.�

�Wenn er kommt, werde ich …�

�Ja, Sir? Was werden Sie tun?� Nicht mehr als eine Nuance von Sarkasmus, kaum wahrnehmbar.

�Ich werde ihm alles sagen.�

Dies hatte eine unerwartete Wirkung auf Owsley; eine abw�gende Pause, und dann die sorgf�ltig formulierte Entgegnung: �Ich w�rde eine solche Vorgangsweise nicht empfehlen.�

�Ich habe dich nicht um Rat gefragt!�, stie� Barabbas hervor. �Zerbrich dir nicht meinen Kopf!�

Owsley, unbewegt und nachdr�cklich: �Sie w�rden es bereuen.�

�Du bist mein Gesch�pf, mein Werkzeug! Vergiss das nie!�

Aber sein J�nger antwortete nicht, und der Gefangene vernahm nur die ged�mpften Schritte, nachdem Owsley unauff�llig seinen Posten verlassen hatte und leise durch den Gang davontappte.

�Meyrick!�, schrie Barabbas, aber zu seinem ohnm�chtigen �rger entschwanden die Schritte in der Ferne. �Meyrick!�, br�llte er, verst�rt und gebrochen angesichts dieser unerkl�rlichen Pflichtverletzung. �Komm zur�ck!�

Zu sp�t. Er h�rte das entfernte Klappern der Schl�ssel und den lauten gleichg�ltigen Hall des Eisentors, als Owsley das Innere des Gef�ngnisses verlie�, um in die Au�enwelt zur�ckzukehren.

�Meyrick!� Barabbas r�ttelte in ohnm�chtiger Verzweiflung an den Gitterst�ben der Zelle und warf sich dann, den Tr�nen nahe, auf den Steinboden. Er vernahm ein lautes Rascheln aus der Nachbarzelle – danach ein �chzen, unbeholfene Schritte und gleich darauf die ersten, wohlbekannten Worte von Psalm 130: �Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir …�


In Madame Puggsleys Etablissement entschloss man sich nach zw�lfst�ndigem anstrengendem Gesch�ftsgang, es f�r heute gut sein zu lassen. Das fahrende Volk war zusammen mit seinen Karussells und menschlichen Kuriosit�ten weitergezogen (wie man zuletzt h�rte, irgendwo in die N�he von Darlington, wo die Ortsans�ssigen ihr Eintreffen mit einigem Misstrauen quittiert hatten), mit sp�rbaren Auswirkungen auf Mrs Puggsleys Haus, das zu ihrer gro�en Freude nun wieder voll war. Nach Mina – dem erkl�rten Liebling aller – hatte den ganzen Tag lebhafte Nachfrage geherrscht, und nachdem sie den letzten Freier des Abends zufriedengestellt hatte, tat es wohl, nach unten in den Empfangssalon zu gehen und sich darauf zu freuen, mit den anderen M�dchen noch ein wenig zusammenzusitzen und bei ein, zwei Gl�sern Wein ein Schw�tzchen zu halten und den neuesten Klatsch zu vernehmen. So war sie ziemlich �berrascht, kein einziges der M�dchen vorzufinden, sondern nur Mrs Puggsley auf ihrem gewohnten Stuhl, �ber dessen Sitzfl�che ihre gewaltigen Hinterbacken hinausquollen. Ein pedantisch gekleideter, bleichgesichtiger Mann stand steif neben ihr.

Mrs Puggsley sah auf und l�chelte matt. �Mina, meine Liebe.� Sie hustete, und ihre ganze Leibesf�lle wogte aus Sympathie mit; dann entrang sich ein Pfeifen ihrer Brust, das sich anh�rte wie eine ausrangierte Dampflokomotive auf dem Weg zum Schrottplatz. �Ich habe die anderen M�dchen weggeschickt.�

�Weg?�

Mrs Puggsley f�hlte sich sichtlich nicht wohl in ihrer Haut. �Zu ihrer eigenen Sicherheit.�

�Wohin?�

Keine Antwort. Mina wandte ihre Aufmerksamkeit dem blassen Mann zu. �Ich habe Sie schon gesehen�, sagte sie unverbl�mt. �Sie sind ein Freund von Mister Gray, nicht wahr?�

�Oh ja, wir sind alte Kumpel�, antwortete er und l�chelte wie Brutus an dem Tag, als er die Klinge aus der Toga gezogen hatte.

Mina begann, zerstreut an ihrem Bart herumzuzupfen – eine nerv�se Angewohnheit, die bis in ihre Kindheit zur�ckreichte und die sie einfach nicht ablegen konnte. �Was ist hier eigentlich los?�

Mrs Puggsley sah zu ihr auf. �Bitte�, sagte sie leise. �Geh jetzt.�

�Sagen Sie mir, was geschehen ist!�, beharrte Mina, �rgerlich �ber den weinerlichen Tonfall ihrer eigenen Stimme.

�Ich f�rchte, es gibt schlechte Nachrichten f�r Sie, Mina�, antwortete der bleiche Mann gewandt. �Ihre N�tzlichkeit hat ein Ende gefunden.�

Mrs Puggsley gab ein ungewohntes Schn�ffeln von sich.

�Ich habe beschlossen, dieses Haus zu schlie�en. Jammerschade. Doch was sein muss, muss …�

Mina starrte ihre Arbeitgeberin an und hoffte auf einen Einwand, einen Funken Hoffnung, aber die unf�rmige Frau war nicht einmal f�hig, ihrem Blick zu begegnen.

�Sie erwiesen sich als eine gro�e Hilfe. Mrs Puggsley sagt, Sie w�ren seine Favoritin gewesen. Gewisse Einzelheiten, die Sie lieferten, waren von allergr��tem Wert.� Er unterbrach sich, um den Kneifer zurechtzur�cken, der l�cherlich weit unten auf seiner Nase sa�. �Man k�nnte ohne �bertreibung sagen, dass man sogar in h�chsten Regierungskreisen dankbar f�r Ihre Unterst�tzung ist.� Mit einem �ligen L�cheln fuhr er fort: �Kopf hoch. Sie sehen, dass selbst ein armseliges Gesch�pf wie Sie auf seine Weise K�nig und Vaterland dienlich sein kann.�

�Geh jetzt�, fl�sterte Mrs Puggsley zu Mina gewandt; ihre Stimme war heiser, und sie gab sich keine M�he, die Verzweiflung darin zu verbergen oder gegen die anrollende Woge von Hysterie anzuk�mpfen.

�Ich w�rde Ihnen vorschlagen, den Rat Ihrer Herrin anzunehmen�, sagte der bleiche Mann, �denn in ein paar Minuten wird hier alles in Flammen stehen. Das Direktorium hat das Haus zur Abtragung bestimmt.�

Mrs Puggsley r�hrte sich nicht.

�Meine Referenzen als Brandstifter sind untadelig. Man k�nnte sagen, ich habe es auf Katastrophen abgesehen.� Er feixte wieder, aber Mrs Puggsley sa� nach wie vor schweigend und reglos da. Voll Entsetzen starrte Mina auf diese Szene.

�Also wissen Sie�, fuhr er im Plauderton fort, �ich bilde mir ein, ich kann den Rauch schon riechen.�

Mina drehte sich um und rannte aus dem Haus und auf die Stra�e, vorn�bergekr�mmt und heftig schluchzend, w�hrend ihr bittere Tr�nen �ber die Wangen liefen und in den Bart sickerten.

Sie verlie� die Goodge Street und war auf dem Weg zur Tottenham Court Road, als sie den Rauch sah und �berlegte umzukehren. Gerade wollte ihre treue Gesinnung �ber den Selbsterhaltungstrieb siegen, als ein Rudel Rabauken aus einer nahen Kneipe quoll und anfing, lachend mit dem Finger auf sie zu zeigen. Auf diese Weise wurde ihr die Entscheidung aus der Hand genommen; sie bem�hte sich nach Kr�ften, den Spott der M�nner zu �berh�ren und hastete weiter in der Hoffnung, irgendwo in der Stadt Zuflucht zu finden. W�hrend sie ihren Weg rasch fortsetzte, �berkam sie die kalte, unerbittliche Gewissheit, dass Mrs Puggsley, w�hrend der bleiche Mann vermutlich l�ngst auf dem Heimweg war, ihren Stuhl nicht verlassen hatte; sie sa� immer noch dort, w�hrend die Flammen um ihre F��e spielten und daran hochz�ngelten, ihr m�chtiger Leib bebte und in Erwartung des unabwendbaren Feuertodes langsam dahinzuschmelzen begann.


Moon erwachte drei Stunden nachdem er das Bewusstsein verloren hatte, wankte auf die F��e und erbrach sich ausgiebig ins Waschbecken. Er sp�lte das Gr�bste weg, und als die gelbliche Fl�ssigkeit durch den Abfluss gurgelte, war ihm, als w�rde sie leise und sp�ttisch glucksend in sich hineinlachen. Er sank wieder aufs Bett und �berlie� sich dem Schmerz, denn das Innere seines Sch�dels wurde mit Rammb�cken bearbeitet; seine Glieder bestanden aus einer gummiartigen Masse, und sein Mund war eine trockene W�stenei.

Als er die Augen wieder �ffnete, hatten sich die k�rperlichen Qualen zwar einigerma�en gelegt, aber das Gewitter in seinem Kopf war schlimmer als zuvor. Mit einem Mal schienen s�mtliche Ereignisse der vergangenen Monate �ber ihn herzufallen, ihn auszulachen, zu verh�hnen und jeden klaren Gedanken zu verdr�ngen. Er betrachtete ein Weilchen den makellosen, seelenlosen Luxus seines Schlafzimmers und begann dann unter dem Einfluss eines unwiderstehlichen Drangs – wohl�berlegt und mit pedantischer Genauigkeit – alles darin zu zertr�mmern.


Mister Skimpole traf eine Stunde sp�ter ein, schwitzend, verdrie�lich und dumpf nach Rauch riechend. Am Empfang wurde er vom Hoteldirektor und von dem Mann, den er zu Moons Bewachung abgestellt hatte, begr��t. Was sie ihm zu berichten hatten, war nicht dazu angetan, seine Laune zu heben.

Er klopfte an Moons T�r, erhielt aber erwartungsgem�� keine Antwort. Er probierte es erneut (wieder ohne Antwort) und bedeutete dann seinem Mann, die T�r aufzubrechen. Ohne auf die schrillen Protestschreie des Hoteldirektors zu achten, tat der Mann wie gehei�en – und hatte schon beim ersten Versuch Erfolg.

�Mister Moon?�, rief Skimpole �rgerlich. �Bitte kommen Sie heraus! Ich bin nicht besonders g�tig gestimmt!�

Moon kam – nicht ohne schlechtes Gewissen – aus dem Badezimmer.

Die Suite war nicht wiederzuerkennen: Glasscherben lagen verstreut herum, Lampen waren zerschlagen, Vorh�nge herabgerissen und zerfetzt, Bilder zerkratzt und verunstaltet, und der Spannteppich war vom Boden gel�st und lag wie eine gro�e Welle, die sich in den Ecken des Zimmers gefangen hatte, zusammengeschoben an einer Wand.

Skimpole sprach zwar in beherrschtem, ruhigem Tonfall, darunter war jedoch sein unterdr�ckter Zorn zu sp�ren. �Was haben Sie da getrieben?�

�Sie halten mich gegen meinen Willen fest!�

Skimpole seufzte. �Wir stehen doch auf derselben Seite. Ich konnte nur so handeln, denn Sie lie�en mir keine andere Wahl. Au�erdem w�rden die meisten von uns f�r ein Leben in solchem Luxus �ber Leichen gehen. Sie sollten mein Haus sehen; das hier ist, damit verglichen, ein Palast.�

�Es ist ein Kerker!�

Der Albino wirkte ungeduldig und gereizt. �Ich wei�, Sie hatten gestern einen schweren Tag. Offenbar gab es eine Art Unstimmigkeit mit Ihrem neuen Freund, Mister … Cribb, nicht wahr?� Ein fragender Blick an seinen Helfer, um sich der Richtigkeit des Namens zu versichern. �Nun gut. Ich werde dieses Zimmer aufr�umen lassen, und wir verlieren kein Wort mehr dar�ber. Sie haben doch gewiss wie jeder andere von uns den Wunsch, diesen Fall zu l�sen, oder?�

�Unter einer Bedingung: schaffen Sie mir dieses Schreckgespenst vom Hals!� Moon zeigte auf Skimpoles Gef�hrten. �Ich halte es nicht aus, wenn einer unentwegt hinter mir herschleicht. Nicht, dass er dabei eine besondere Begabung an den Tag legen w�rde.�

�Also gut. Aber das ist mein einziges Zugest�ndnis. Sie m�ssen aufh�ren, sich so zu benehmen, Edward. Alles, was ich von Ihnen verlange, ist die L�sung dieses einen Problems, und dann k�nnen Sie in Ihr altes Leben zur�ckkehren. Wenn Madame Innocenti recht hat, dann bleiben uns nur mehr acht Tage.�

Moon lie� sich auf den einzigen Stuhl des Raumes fallen, der �berlebt hatte. �Falls sie recht hat�, knurrte er. �Falls.� Er st�hnte. �In den letzten Tagen habe ich Dinge zu sehen bekommen, von denen ich wei�, dass es sie nicht geben d�rfte, Dinge, die gegen alle Weltordnung existieren. Dinge, die in einem rationalen Universum einfach keinen Platz haben!�

�Darf ich Ihnen einen Rat geben?�, sagte Skimpole milde. �Sie sollten das Gleiche machen wie ich, wenn ich mit etwas Bizarrem, Unheimlichen oder Unerkl�rlichem konfrontiert werde.�

�Und was machen Sie dann?�

�Ganz einfach meine Arbeit.�

Skimpole wandte sich zum Gehen, und gerade als er durch die T�r wollte, tauchte der Schlafwandler auf. Als er Moon und die Verw�stung erblickte, die ihn umgab, sch�ttelte der H�ne traurig den Kopf, wandte sich wieder ab und ging am Albino vorbei �ber den Korridor davon. Moon machte keinerlei Anstalten, ihn zur�ckzurufen.


Als er schlie�lich sein Schlafzimmer verlie�, fingen die Ereignisse der vergangenen Stunden gl�cklicherweise an, gn�dig in der Vergangenheit zu verschwimmen. Sein Zusammensein mit Cribb hatte bereits den Hauch des Unwirklichen an sich – wie etwas, das jemand anderem widerfahren war. Er wusch sich, rasierte sich, k�mmte das sch�tter werdende Haar zur�ck und machte sich gelockert auf den Weg zum Archiv.

Wenigstens schien die Archivarin erfreut, ihn zu sehen. �H�rte, dass man Sie rekrutiert hat�, sagte sie, nachdem ein anderer namenloser Bibliothekar Moon in die unterirdischen R�ume geleitet hatte. �In den Staatsdienst gestellt, nicht wahr? Mister Skimpoles Jungs?�

Moon hatte schon vor Jahren gelernt, sich von der anscheinenden Allwissenheit der Archivarin nicht �berraschen zu lassen, doch selbst unter dieser Voraussetzung konnte er nicht anders als von der k�hl amtlichen Art, in der sie das Kernst�ck seiner misslichen Lage beschrieb, verbl�fft zu sein.

�Jawohl, Madam. Sie …?�

�Ja?� Die blicklosen Augen schienen sich wunderlich in seine Richtung zu drehen.

�Sie kennen Mister Skimpole, Madam? Kommt er … Kommt er gelegentlich her?�

Die Archivarin wandte sich ab und machte sich an einem Regal zu schaffen, das �berquoll von zerfallenden Nummern des Punch, vergilbten Steckbriefen mit der Beschreibung polizeilich Gesuchter und knarrenden ledergebundenen Enzyklop�dien. �Also wirklich!�, schalt sie. �Sie wissen doch, dass ich verschwiegen sein muss!�

�Ich nehme an, damit meinen Sie �ja�,�

�Ich kann Sie nicht davon abhalten, Ihre eigenen Schl�sse zu ziehen.�

�Nein�, sagte Moon nachdenklich, �das k�nnen Sie nicht.�

�Wonach suchen Sie heute?�

�Nach allem, was Sie �ber eine gewisse Madame Innocenti haben. Hellseherin in Tooting Bec.�

Ohne ein Wort verschwand die Archivarin und kehrte kurz darauf mit zwei d�nnen B�chern zur�ck. �Das ist alles, was ich habe. Sieht so aus, als w�re sie bereits ein‐, zweimal mit dem Gesetz in Konflikt gekommen.�

Moon nahm die B�ndchen in Empfang und dankte ihr. �Archivarin?�

�Ja?�

Er z�gerte, unsicher geworden. �Haben Sie je von einem Mann namens Thomas Cribb geh�rt?�

Da keine Antwort kam, nahm Moon an, dass sie ihn nicht geh�rt hatte, und war dabei, seine Frage zu wiederholen, als die Archivarin sagte: �Einen Moment. Vielleicht habe ich da etwas f�r Sie.� Ein ungewohntes Tremolo lag in ihrer Stimme.

Als sie wieder auftauchte, schob sie einen Wagen vor sich her, auf dem sich Aufzeichnungen, Berichte, Aktenb�ndel, Register und etwas, das nach Zeitungspaketen aus dem neunzehnten Jahrhundert aussah, stapelten. Mit pfeifender Lunge bahnte sie sich ihren Weg zu Moon und st�tzte sich mit �berraschender Kraft auf seine Schulter, um Atem zu holen. Ein halbes Dutzend Bl�tter und ein dickes Buch fielen vom Wagen.

�Was ist das alles?�

�Das?� Die Archivarin rang nach Luft. �Das ist gerade erst der Anfang. F�nfmal soviel wartet noch auf Sie.�

�Aber das betrifft doch nicht alles Mister Cribb?�

�Ich f�rchte, doch.�

Moon griff nach einem B�ndel Schriften und unterdr�ckte ein Niesen, als eine Staubwolke von dem Stapel aufstieg. �Wie weit reicht das alles zur�ck?�

Die Archivarin schluckte. ��ber mehr als ein Jahrhundert. Es scheint, Ihr Freund weilt schon l�nger unter uns, als Sie dachten.�

Das angespannte, bedr�ckende Schweigen, das folgte, wurde erst unterbrochen, als Moon sich eine Zigarette anz�ndete, nachdem er eine ganze Weile hektisch nach dem Etui und den Streichh�lzern gesucht hatte. Sp�ter erz�hlte er mir, dies sei das einzige Mal gewesen, dass die Archivarin gebeten hatte, sich ihm anschlie�en zu d�rfen, worauf ihre uralten, knotigen H�nde in stiller, unausgesprochener Verzweiflung zitternd nach der Zigarette griffen.


Als Moon ins Hotel zur�ckkam, wartete der Schlafwandler schon auf ihn. Reihen leerer Gl�ser mit milchig matten Resten darin schl�ngelten sich �ber den Tisch, an dem er sa� – der Bodensatz eines langen, einsamen Abends.

Noch mehr als Moon hatte die Zerst�rung des Theaters den Riesen getroffen – das ancien r�gime war dahin, aber unter Skimpoles neuer Obrigkeit gab es f�r Moon wenigstens R�tsel aufzul�sen, Missionen zu erf�llen, die endlose Honeyman‐Sache, die Moon Abwechslung brachte; der Schlafwandler hingegen war in jenes Tal gesunken, das bei jedem anderen Menschen als tiefste Melancholie gegolten h�tte. Die Verst�ndigung zwischen ihnen beiden war immer schon bestenfalls bruchst�ckhaft vor sich gegangen, hatte sich �ber Zeichen, Gesten und die Stakkatomitteilungen auf der Kreidetafel abgewickelt, aber nach und nach war Moon der Verdacht gekommen, dass der Freund die Vorstellungen – seine alln�chtliche Dosis Rampenlicht – weitaus st�rker vermisste, als er je zugegeben h�tte.

Moon wagte ein nichtssagendes L�cheln, und der Riese nickte verdrossen zur�ck.

�Gestern traf ich Mister Speight. Er sah recht gut aus. Ich meine nat�rlich, nicht wirklich gut – eben so wie immer.�

Der Schlafwandler zuckte theatralisch die Achseln.

�Ich habe den ganzen Tag im Archiv verbracht. Habe eine Menge �ber Madame Innocenti herausgefunden.�

Der Riese warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, trotzig wie ein Kind, das sein Gem�se nicht essen will. Ohne darauf zu achten, sprach Moon rasch weiter. �Es sieht so aus, als w�re sie nicht ganz aufrichtig zu uns gewesen. Ihr wahrer Name ist Ann Bagshaw. Bevor sie Prophetin wurde, war sie N�herin. Hatte eine kleine Werkstatt beim Kennington Oval.�

Der Schlafwandler schrieb etwas auf die Tafel, und Moon, erleichtert, wenigstens irgendeine Reaktion zu bekommen, beugte sich vor und las:

SIE NOCHMAL BESUCHEN?

�Ah ja. Nun, Mister Skimpole hat es so eingerichtet, dass wir morgen an einer weiteren Soiree bei ihr teilnehmen k�nnen. Vielleicht kl�ren sich dann einige Dinge.�

Der Schlafwandler leerte sein letztes Glas Milch, nahm Kreide und Tafel an sich und erhob sich mit schwerf�lliger W�rde vom Stuhl.

�Sehe ich dich morgen?�, rief Moon ihm hoffnungsvoll nach. �Vor der S�ance?�

Der Schlafwandler trottete missgelaunt Richtung Suite davon. Seit dem Theaterbrand teilten sie das Zimmer nicht mehr – bei einem Hotel, das so vornehm war wie dieses, war an den Einsatz von Stockbetten nat�rlich nicht zu denken.


Am Morgen fand eine Art ruppige Wiederann�herung statt. Der Schlafwandler kritzelte etwas auf die Tafel, was man bei gro�z�giger Auslegung als Entschuldigung gelten lassen konnte, worauf Moon ihn mit Beteuerungen seiner unverbr�chlichen Freundschaft �berh�ufte. Im Geiste dieses verlegenen Waffenstillstands machten sich die beiden nach dem Mittagmahl auf den Weg nach Tooting Bec.

Madame Innocenti erwartete sie bereits auf den Stufen ihres sch�bigen Hauses. �Meine Herren!� Sie war das personifizierte L�cheln. �Welch eine Freude, Sie abermals bei uns zu haben!�

Moon verbeugte sich und sagte h�flich: �Mrs Bagshaw�

Sie erstarrte, und Moon bemerkte den Anflug von Furcht auf ihrem Gesicht, aber sie fand ihre Gelassenheit sofort wieder und ging ins Haus voran, als w�re nichts geschehen. Als sie �ber den Korridor zum Empfangssalon gingen, kam Madame Innocentis Gatte aus einer dunklen Ecke hervor, wo er offensichtlich gelauscht hatte, und durchbohrte die beiden mit einem Blick blanken Hasses.

Die S�ance verlief zun�chst genau so wie beim letzten Mal, und Moon sah sogar einige bekannte Gesichter – Ellis Lister etwa, oder die Witwe Erskine. Zusammen mit ihnen traf ein �ltliches Ehepaar ein und ein kummervoller Mann in d�sterer Trauer um seine verstorbene Frau. Mit anderen Worten, der �bliche Aufmarsch von Sonderlingen und Verblendeten, die sich verzweifelt an das nichtssagende S�useln und Gurren ihrer Gastgeberin klammerten – an diesen Balsam f�r ihre verwundeten Seelen.

Nach einer halben Stunde geistloser Geselligkeit, nach vielen Vorstellungen und gesch�ttelten H�nden, nach Tee und Keksen begann die S�ance. Alles glich den Vorg�ngen beim letzten Mal: Madame Innocenti am Kopf der Tafel, das rasche Annehmen ihrer Corcoran‐Stimme, die verschwommenen, kunstvoll formulierten Mitteilungen aus dem Jenseits. Zu allererst wandte sie sich an Mrs Erskine. �Wen w�nschen Sie zu sprechen?�, fragte sie in der f�rmlichen Sprechweise des Spaniers.

�Meinen Jungen�, sagte Mrs Erskine mit schwacher, d�nner Stimme. �Meinen Kleinen. Billy. Gerade sechzehn, als er starb.�

�Billy?�, fl�sterte Corcoran. �Billy? Ist ein Billy Erskine unter den Jenseitigen?�

Eine Pause. Und dann, wie vorauszusehen: �Mutter?� Madame Innocenti gelang der passable Abklatsch einer kippenden Jungenstimme, die sich ihrer endg�ltigen Tonlage noch nicht sicher war.

�Billy?�, fragte Mrs Erskine in einer Mischung aus Schmerz und Hoffnung. �Billy, bist du das?�

�Mutter! Warum kommst du erst jetzt? Ich bin schon so lange hier! Ich habe auf dich gewartet!�

Mrs Erskine schluchzte auf. �Es tut mir leid, Billy. Kannst du mir vergeben?�

�Kommst du bald zu mir? Es ist so warm und wohlig hier, es wird dir gefallen, Mutter, das wei� ich!� Die Stimme nahm einen scheinheilig betr�bten Tonfall an: �Aber was ist mit dir geschehen, Mutter? Du siehst so alt aus!�

Mrs Erskine schluchzte wieder, und Madame Innocenti murmelte: �Mutter, ich liebe dich sehr.�

Dieser Wortwechsel ging weiter und weiter, stundenlang, wie es schien, und Moon sp�rte schlie�lich, dass er kurz vor einem leichten Hinwegd�sen stand, als er pl�tzlich seinen Namen h�rte.

�Mister Moon?� Es war Madame Innocenti in ihrer Rolle als Corcoran.

�Se�or�, meldete sich Moon zur Stelle. �Welch eine Freude, Sie wiederzutreffen.�

�Ich w�nschte, ich k�nnte dasselbe sagen. Nur noch sieben Tage, und Sie haben nicht das geringste unternommen!�

�Ich war sehr besch�ftigt.�

�In etwas mehr als einer Woche wird diese Stadt in Flammen aufgehen, und Sie haben nichts getan, um das zu verhindern! Die Jenseitigen f�rchten sich, Mister Moon! London ist in gro�er Gefahr!�

�Das h�re ich nicht zum ersten Mal.�

�Honeyman war ein K�der. Sie haben ihn geschluckt und merken es gar nicht. Man benutzt Sie!�

�Fahren Sie fort.�

�Im Untergrund!� Corcorans Tonfall wurde noch eindringlicher. �Gefahr lauert im Untergrund!�

�Gefahr?�

Mit krampfhaft durchgebogenem R�cken warf Madame Innocenti pl�tzlich den Kopf nach hinten, und Moon und der Schlafwandler sp�rten, wie ihre H�nde so heftig zu zittern begannen, als h�tte eine unsichtbare Macht sie zu einem Eigenleben erweckt. �Der Tod der Stadt kommt n�her�, kr�chzte sie. �Die Verschw�rung zielt auf Sie! Der Stein zerspringt. Der Schl�fer erwacht.�

Seinem Misstrauen zum Trotz f�hlte Moon sich unwiderstehlich in ihren Bann geschlagen. �Was meinen Sie damit?�

�Skimpole ist eine blo�e Schachfigur. Sie sind das Ziel! Und Sie tragen die ganze Schuld.�


Moon und ich diskutierten Madame Innocentis Warnungen ausf�hrlich. Selbstverst�ndlich klangen sie ganz genau so dunkel und orakelhaft wie man erwarten k�nnte, doch andererseits waren sie bei einer ganzen Reihe wesentlicher Dinge erstaunlich zutreffend. Eine Zeit lang verfocht Moon die Meinung – wohl eher in dem Versuch, weniger mich als vielmehr sich selbst zu �berzeugen –, dass sie einen Gro�teil der Informationen von Skimpole, Lister oder jemand anderem dieser Sorte bezogen haben mochte, doch am Ende waren wir gezwungen einzur�umen, dass Madame Innocenti tats�chlich keine Schwindlerin gewesen sein k�nnte.


Madame Innocenti �ffnete die Augen, und was dann geschah, �berraschte selbst Moon. Sp�ter war sich keiner mehr v�llig sicher, was er gesehen hatte, und unter den Anwesenden gab es bis auf die grundlegendsten Tatsachen v�llige Uneinigkeit. Moon selbst hatte den Eindruck, dass Madame Innocentis Augen pl�tzlich ein dunkles Scharlachrot annahmen, andere, dass sie gr�n oder schillernd gelb wurden; Mrs Erskine behauptete (doch ihrer Aussage ist, wie Sie in K�rze entdecken werden, nicht ganz zu trauen), dass sie gespenstisch schwarz funkelten. Die Farbe selbst ist nat�rlich kaum von Wichtigkeit; bedeutsam ist, dass ohne Zweifel etwas Bemerkenswertes, etwas fraglos Au�ergew�hnliches geschah.

Das Medium schrie auf, st�rzte zu Boden und blieb dort in t�dlicher Reglosigkeit liegen. Einige der Augenzeugen behaupteten sogar, d�nne Rauchfahnen aus Madame Innocentis Mund und Nasenl�chern gesehen zu haben, so als w�rde irgendein gr�sslicher Dampfkessel in ihrem Inneren sein Gas ablassen.

Der Bann, unter dem alle standen, war jedoch sehr bald gebrochen. Mrs Erskine mit ihren wenigstens siebzig Jahren schnellte – ja, schnellte! – von ihrem Stuhl hoch, rannte mit ein paar S�tzen rund um den Tisch zu Madame Innocenti, riss sie auf die F��e und schlug ihr hart ins Gesicht.

�Ann Bagshaw?� Mrs Erskine sprach den Namen laut und deutlich aus wie ein Polizist, der einen Verd�chtigen festnimmt.

Mrs Erskine wandte sich an die anderen G�ste. �Meine Damen und Herren, entschuldigen Sie meine Einmischung. Ich vertrete den Sicherheitsausschuss.�

Ein missbilligendes Rumoren unter den Getreuen folgte, aber Mrs Erskine fuhr fort: �Der Name dieser Frau ist und war nie Madame Innocenti. Ihr Name ist Ann Bagshaw.�

Der Ehemann der Frau, um die es ging, rannte herbei, um gegen diese Anschuldigungen zu protestieren, aber die Betroffene winkte ihn mit zahmer Geste zur�ck.

�Vorhin habe ich anscheinend mit meinem verstorbenen Sohn gesprochen�, sagte Mrs Erskine. �Aber ich habe gar keinen Sohn, weder unter den Lebenden, noch unter den Toten. Wenn man Mrs Bagshaw glauben darf, dann habe ich heute mit einem Jungen gesprochen, der nie existiert hat.�

Madame Innocenti erlangte ihre Fassung wieder, schien sich jedoch nicht an diejenige zu wenden, deren Beschuldigungen in der Luft hingen, sondern an Edward Moon. �Was geschehen ist, war vollkommen echt�, beharrte sie. �Die Warnungen waren Realit�t.�

Daraufhin herrschten ein solches Entsetzen und ein allgemeiner Tumult, dass Moon schreien musste, um sich Geh�r zu verschaffen. �Bitte! Sie haben noch nicht die ganze Wahrheit geh�rt!� Absolute Stille senkte sich �ber den Raum, und alle Gesichter – jene der Prophetin und ihrer Gegenspielerin eingeschlossen – wandten sich Moon zu. �Unsere Gastgeber m�gen zwar nicht unbedingt dem entsprechen, was sie vorgeben zu sein, aber ebenso verh�lt es sich, wie ich meine, mit Mrs Erskine.�

Die Alte murmelte etwas in sich hinein.

�Sehen Sie sich doch ihre H�nde an, meine Damen und Herren! Viel zu beweglich, zu weich und glatt! Viel zu jugendlich f�r diese vorgebliche Bejahrtheit, m�chte ich meinen.�

Mrs Erskine schoss ihm einen b�sen Blick zu, dr�ngte sich an Ann Bagshaw vorbei und flitzte mit einer f�r ihr fortgeschrittenes Alter v�llig undenkbaren Blitzartigkeit aus dem Salon. Ihre Schritte klapperten durch das Haus und hinaus auf die Stra�e – die sprichw�rtliche Ratte, die ihren leckgeschlagenen alten Kahn verlie�, ehe er unterging.

Rasch wandte sich Moon an seinen Freund. �Sieh zu, dass alle hierbleiben, bis ich zur�ckkomme. Mir ist gerade klar geworden, mit wem wir es zu tun haben.�

Mittlerweile hatte es heftig zu regnen begonnen, und schon nach einer kurzen Strecke, die er im Laufschritt zur�ckgelegt hatte, war er v�llig durchn�sst. Ein St�ck vor sich konnte er Mrs Erskine erkennen, die durch den Regen rannte und ihr Heil offenbar in den trostlosen Stra�en und Gassen von Tooting Bec suchte.

Die wilde Verfolgungsjagd dauerte nicht l�nger als f�nf oder sechs Minuten, aber es schien beiden, als w�rde es sich um Stunden handeln. Unerbittlich peitschten Regenw�nde nieder, und Moon konnte nicht mehr als ein paar Schritte weit voraus sehen. Dessenungeachtet st�rmte er weiter, k�mpfte sich an schirmbewehrten Fu�g�ngern vorbei, wie vorw�rtsgetrieben von einem inneren Zwang, Mrs Erskine auf den Fersen zu bleiben – ein Sp�rhund, der einer F�hrte folgte.

In einem blinden G�sschen holte er sie schlie�lich ein, und dort standen sie einander gegen�ber wie ausgepumpte Boxer nach dem letzten Gong, keuchend und etwas verlegen �ber dieses ern�chternde Ende der Jagd. Mrs Erskines Make‐up war vom Regen fast abgewaschen – Farbe, Puder und Fettschminke liefen ihr �bers Gesicht, und die dicken vielfarbigen Rinnsale verliehen ihr das Aussehen eines Clowns, den ein Wolkenbruch �berrascht hatte. Doch nun blitzte unter den Resten Mrs Erskines eine viel j�ngere Frau hervor – Anfang drei�ig und keine wirkliche Sch�nheit (daf�r war ihre Nase zu gro�), aber unter den Matronenkleidern, die ihr klitschnass am Leib klebten, lie�en sich die Umrisse einer �u�erst gef�lligen Figur erkennen.

Moon starrte sie an; sein Verdacht war best�tigt, und dieser Zustand zwischen Schock und freudiger Erregung verursachte ihm pl�tzlich heftige �belkeit. �Du bist es tats�chlich!�, rief er. �O mein Liebes, du bist zu mir zur�ckgekommen!� Er sank auf die Knie. �Mein kleiner Schatz! Mein Engel!�

Sie sah auf ihn hinab, die Augen kalt und mitleidlos. �Du machst dich zum Narren�, sagte sie. �Steh auf, Edward.�


ZW�LF

Mister Skimpole hatte sich sein Leben lang bem�ht, achtbar zu sein. Nat�rlich hatte er seine Fehltritte und Versuchungen erlebt – besonders als j�ngerer Mann –, doch heutzutage strebte er nach einem makellosen, tugendhaften Dasein, nach einem Leben der Enthaltsamkeit, des Anstands und der M��igkeit, frei von Genusssucht und �berma�. Nur einen einzigen Luxus g�nnte er sich: einmal am Tag – und zwar jeden Tag – rauchte er eine Zigarre. Es versteht sich von selbst, dass es sich hierbei nicht um ein herk�mmliches Laster handelte, sondern vielmehr um Zigarren einer exklusiven Marke, hochgesch�tzt in der Kennerschaft, die unter gewaltigen Unkosten aus einer kaum bekannten Gegend der T�rkei importiert und von einem Laden im Stadtzentrum nur wenigen ausgew�hlten Kunden zu schwindelerregenden Preisen verkauft wurden.

Skimpole holte seine Zigarre des Tages hervor und rieb sie ein wenig unter der Nase; er machte allein schon aus dem Daranriechen eine gro�e Sache, obwohl er pers�nlich die Notwendigkeit dieses Geruchsrituals nie ganz verstanden hatte; er f�hrte es dennoch getreulich durch – haupts�chlich f�r den Fall der zuf�lligen Anwesenheit etwaiger Zigarrenkenner, die ihn aus der Ferne heimlich beobachteten. Er schob sich die braune Rolle sanft zwischen die Lippen, sp�rte, wie sie reibungslos zwischen die Z�hne glitt und stie� einen zufriedenen Seufzer aus.

Moon und der Schlafwandler sa�en ihm gegen�ber am Tresen der Hotelbar und verfolgten die ganze Vorstellung mit Mienen, die irgendwo zwischen Am�sement und Abneigung angesiedelt waren.

�Ich bitte um Vergebung�, murmelte der Albino. �Eine kleine Schw�che.� Er genoss das Gef�hl, wie der Rauch durch seine Kehle str�mte, den vollen, trockenen Geschmack, der immer tiefer in seinen K�rper sank, und versp�rte dabei ein leichtes, freudiges Erschauern. Die Zigarre war bereits halb geraucht, als er endlich zur Sache kam. �Das Innocenti‐Problem. Meine Quellen berichten, dass sie und ihr Gatte vor zwei Tagen das Land verlassen haben, sofort nachdem Sie diesen Aufruhr in ihrem Salon verursacht hatten. Wir nehmen an, die beiden sind unterwegs nach New York, doch ich pers�nlich f�rchte, wir haben sie verloren.�

�Es war nicht meine Schuld�, bemerkte Moon knapp. �Sie war entlarvt, noch ehe ich etwas tun konnte.�

Skimpole tupfte sich verlegen die Augenwinkel. �Ich nehme an, es hat dabei eine gewisse Beteiligung des Sicherheitsausschusses gegeben.�

�Ganz recht.�

�Und was ist Ihre Meinung? Halten Sie ihre Warnungen f�r authentisch?�

�Nun, ich sollte dies eigentlich verneinen und in der Lage sein, die Frau als Scharlatan und Schwindlerin abzutun. Aber es bleiben gewisse Fragen. Die Dinge, die ich gesehen habe … der Fliegenmensch …�

�Ich betrachte mich als einen Mann, der auch dem Unwahrscheinlichen offen gegen�bersteht�, fuhr Skimpole fort. �Dazu kann ich mir nicht vorstellen, wie unsere Freundin Bagshaw zu jenen Informationen gekommen sein k�nnte ohne eine Art – wie soll ich es nennen? – �bernat�rlichen Vorteil. Eine Hilfe aus dem �ther.�

�Da stimme ich Ihnen zu.�

Skimpole schnaubte ver�chtlich. �Dar�ber hinaus w�re zu sagen, dass sich der Sicherheitsausschuss nicht des besten Rufes erfreut. Es wird gemunkelt, dass sich diese Leute ihre Beweise auch liebend gern selbst fabrizieren, wenn sie auf herk�mmliche Weise nicht an welche herankommen. Erst letztes Jahr haben sie einem h�chst begabten Medium, das wir f�r f�hig halten, echtes Ektoplasma zu erzeugen, feinstes Musselingewebe untergeschoben, nur um der Blo�stellung willen.�

�Die Entlarvung dieser Frau steht au�er Frage�, sagte Moon. �Das ist unbestreitbar. Aber ihre Warnungen … beunruhigen mich.�

Skimpole f�hlte sich sichtlich unbehaglich auf seinem Stuhl; er sog heftig am Rest seiner Zigarre, um die letzten kostbaren Z�ge daraus hervorzuholen.

�Sie erkl�rte mir, man w�rde mich benutzen�, fuhr Moon fort. �Sagte etwas �ber einen Schl�fer. Gefahr im Untergrund. Tats�chlich sagte sie auch, dass Sie, Mister Skimpole, nur eine Schachfigur seien.�

Der Albino lie� den Stummel der Zigarre in den Aschenbecher fallen, wo er langsam vergl�hte. �Ich kenne meinen Stellenwert.�

�Etwas an der Sache setzt mir zu.�

�Madame Innocenti?�

�Da gibt es irgendwo eine Verbindung, die uns entgeht.�

�Was haben Sie vor? Sie sollten wissen, dass Sie – wie auch immer Sie sich entscheiden – die volle Unterst�tzung des Direktoriums haben.� Er grinste. �Unsere Beh�rde ist nicht g�nzlich ohne Einfluss.�

�Ich muss Barabbas unbedingt noch einmal treffen. Er wei� etwas, dessen bin ich ganz sicher.�

�Das l�sst sich einrichten.� Skimpole erhob sich. �Aber beeilen Sie sich. Uns l�uft die Zeit davon. Falls Madame Innocenti wirklich recht hat, dann bleiben uns nur wenige Tage, ehe was auch immer eintritt. �brigens wird es Sie vielleicht freuen zu h�ren, dass ich die erste Einzahlung auf Ihr Bankkonto genehmigt habe.� Hier erw�hnte er eine bemerkenswert gro�z�gige Summe – selbst heutzutage w�rde bis weit in die R�nge der h�chstbezahlten Staatsdiener keiner eine so stattliche Belohnung zur�ckweisen. �Selbstverst�ndlich werden die Kosten Ihres Aufenthalts und alle anfallenden Spesen von meiner Beh�rde �bernommen. Nat�rlich k�nnen Sie das Geld nach Gutd�nken mit Ihrem Assistenten teilen.�

�Das Geld?�, fauchte Moon ver�chtlich. �Denken Sie, ich mache das des Geldes wegen?�

Skimpole starrte ihn verdutzt und gekr�nkt an. �Kein Grund f�r r�de Manieren. Wenn es Sie so sehr st�rt, dann betrachten Sie das Geld eben als Gratifikation. Als Geschenk Ihrer dankbaren Regierung.�

Moon sagte nichts darauf.

�Werden Sie rasch t�tig. Und halten Sie mich auf dem laufenden. Sie haben meine ganze Aufmerksamkeit.� Er machte eine formelle Verbeugung und ging hinaus. Hinter seinem R�cken zog der Schlafwandler eine kindische Grimasse.

Moon stand auf und durchquerte den Raum bis zu einer jungen Frau, die dort allein an einem Tisch sa�, ein halb geleertes Glas Rotwein vor sich. Unf�hig, seine Verbl�ffung zu verbergen, sah der Schlafwandler zu, wie sein Freund vor der jungen Dame stehenblieb, einige Worte mit ihr wechselte und ihr l�chelnd bedeutete, mit ihm zu kommen. Als die beiden n�herkamen, erkannte der Schlafwandler die Fremde als Mrs Erskine wieder, die Mitarbeiterin des Sicherheitsausschusses – ohne diese Maskierung nunmehr jedoch bedeutend verj�ngt und so gekleidet, wie es einer eleganten Dame ihres wahren Alters zukam.

�Dies ist mein Freund, der Schlafwandler�, erkl�rte Moon, und seine h�bsche Begleiterin knickste zur Begr��ung. �Ich glaube nicht, dass du meine Schwester schon kennst.�


Skimpole verlie� das Hotel in lebhaftem, pr�zisem Schritt. Obwohl er f�r ein wichtiges Treffen bereits sp�t dran war, zog er es vor, keine Droschke zu nehmen, sondern durch die Stra�en und �ber die dicht bev�lkerten B�rgersteige der Stadt zu eilen, wo er sich blitzschnell durch die Massen von Fu�g�ngern bewegte und sich an Schw�rmen heimischer Gro�st�dter vorbeidr�ngte. Spontan w�rde man annehmen, dass ein Regierungsbeamter die Richtung nach Whitehall oder Westminster einschlagen sollte, doch Skimpole lenkte seine Schritte – immer auf der Hut vor einem m�glichen Verfolger – ins East End, nach Limehouse und zum Direktorium.


SCHWESTER?

schrieb der Schlafwandler hastig auf die Tafel, wischte sie wieder ab und schrieb es erneut, diesmal in gr��eren, dramatischeren Buchstaben:

SCHWESTER?

�Dies ist Charlotte�, erkl�rte Moon.

Miss Moon l�chelte so gewinnend wie m�glich. �Ich bin entz�ckt, Sie kennenzulernen.�

Der Schlafwandler runzelte die Stirn. Er hatte das eigenartige Gef�hl, mitten in einem sorgf�ltig vorbereiteten Streich zu stecken, und hoffte, sein Freund und die Fremde w�rden jeden Moment in Gel�chter ausbrechen, ihm auf die Schulter klopfen und ihm daf�r danken, dass er mitgemacht hatte. Er �bte sich in Geduld und wartete auf die Pointe.

�Ist er wirklich stumm?�, fragte Charlotte ein wenig ungehobelt.

�Er hat jedenfalls noch nie zu mir gesprochen. Nichtsdestoweniger ist es eine meiner gro�en Hoffnungen, dass er es eines Tages tut. Und ich habe keinen Zweifel: Falls es tats�chlich geschieht, wird er uns alle in Erstaunen setzen.�

Sie lie� den Blick noch einmal �ber den Schlafwandler gleiten und schien ziemlich unbeeindruckt. �Nicht so gut aussehend wie sein Vorg�nger.�

�Glaub mir�, sagte Moon, und es klang gequ�lt, �k�nntest du seinen Vorg�nger jetzt sehen, w�rdest du nicht mehr so sprechen.�

�Vermutlich nicht.�

�Der Schlafwandler ist ein gro�artiger Illusionist.� Moon bem�hte sich, nicht g�nnerhaft zu klingen. �Hast du je die Vorstellung besucht?�

�Dreimal�, antwortete Charlotte. �Einmal als alte Frau, einmal als betrunkener Pole und einmal als Zwerg. Ich gebe zu, letzteres war eine echte Herausforderung. Es ist kein Spa�, stundenlang so auszusehen, als w�re man nur halb so gro�.� Sie kaute an ihrer Unterlippe und wand sich ein wenig. �Tut mir leid, was mit dem Theater passiert ist.�

�Skimpole�, sagte Moon, als w�rde das alles erkl�ren.

�Er mag dich wirklich nicht, oder?�

Moon sah zur Seite. �Du hast mir nie erz�hlt, dass du beim Sicherheitsausschuss arbeitest.�

�Und du hast mir nie erz�hlt, was in Clapham vorgegangen ist. Ich musste aus der Zeitung davon erfahren.�

�Tats�chlich? Das ist mir v�llig entgangen.�

Das darauffolgende Schweigen wurde vom vertrauten Knirschen der Kreide auf der Tafel unterbrochen. Der Schlafwandler hatte begonnen, sich ausgeschlossen zu f�hlen.

WAS ZU DRINKEN

�Famose Idee!�, rief Moon in einem unerwarteten Ausbruch von Fr�hlichkeit. �Charlotte?�

�Ein kleines Glas nur�, sagte sie z�gernd. �Nichts allzu Starkes.�

Aber Moon rannte bereits durstig hin�ber zum Tresen und war l�ngst au�er H�rweite. Als er seine umfangreiche, kostspielige Bestellung aufgab, entbot er dem Barmann sein sch�nstes Hail�cheln. �Und achten Sie darauf�, grinste er, �dass Sie all das auf Mister Skimpoles Rechnung setzen.�


Limehouse ist einzigartig unter Londons Stadtbezirken; es geh�rt einfach nicht zu England. Die seltsamen Ger�che, die sich durch die Stra�en ziehen, weisen entschieden fremdl�ndischen Charakter auf; die Anschlagbretter, Aush�ngeschilder und Hinweistafeln sind �bers�t mit unergr�ndlichen Schriftzeichen, die Uneingeweihte verwirren; die Menschen, obwohl entgegenkommend und recht gesittet, sind samt und sonders bl�sslich und gelbh�utig. Sollten Sie je durch diese grellbunten, hektischen Stra�en wandern, wird dieses Viertel auf Sie zweifellos genau so wirken wie auf mich: n�mlich wie ein Teil einer fern�stlichen Stadt, den man von dieser abgetrennt und mitten unter Londons Bezirke fallengelassen hat – die Vision eines undenkbaren England, in dem das Empire untergegangen und der Orient K�nig ist.

Da mutete es wohl merkw�rdig an, Mister Skimpole mit solch festem Schritt und solcher Ungezwungenheit durch diese Stra�en laufen zu sehen, doch auch seine Erscheinung war so ausgefallen wie immer – Kneifer auf der Nasenspitze, Haar und Haut wei� wie ein Laken. Daraus k�nnte man mit einiger Berechtigung schlie�en, dass er unter dieser Masse gelber Gesichter wie ein Fremdk�rper wirkte, aber seine Umgebung schien ihn freundlich und fast wie einen der Ihren aufzunehmen, und er rief keine offene Neugier hervor, keine aufdringlichen Blicke, kein unterdr�cktes Lachen.

Nicht ganz eine halbe Stunde, nachdem er das Hotel verlassen hatte, erreichte der Albino sein Ziel und hielt vor einem heruntergekommenen Metzgerladen jener Sorte, die aussieht, als existiere sie seit Jahren, ohne je von einem Kunden betreten zu werden; Spinnweben und schwarzbraune Rinnsale verdunkelten die Schaufenster, die zu alldem innen mit einem matten Belag aus fettigem Dunst und etwas, das aussah wie eingetrocknetes Blut, bedeckt waren. Auf einem Spie� im Fenster briet irgendein Vogel, dessen nackter Kadaver sich langsam im Schein der Glut drehte, um unter den Blicken der Passanten zusehends brauner und knuspriger zu werden. Skimpole konnte nicht feststellen, als welche Spezies der Vogel sein fr�heres Dasein verbracht hatte – als Ente vielleicht oder als Huhn oder als irgendein namenloses Federvieh, das nur den V�lkern des Orients bekannt war. Doch als er so zusah, wie sich das Ding beh�big hinter dem Glas drehte, musste er unwillk�rlich an Mrs Puggsley denken und versp�rte ein kurzes Aufflackern von Schuldbewusstsein. Tapfer verjagte er das schlechte Gewissen, riss sich los von der Last dieser Vergangenheit, und erst nachdem er das Bild vor seinem geistigen Auge restlos vertrieben hatte, betrat er den Laden.

Als er die T�r aufstie�, klingelte ein Gl�ckchen, und ein junger Chinese tauchte auf, der ihn mit einer tiefen Verbeugung und den Worten: �Wie sch�n, Sie zu sehen, Sir!�, begr��te.

�Guten Tag�, sagte Skimpole herablassend. Er hatte sich nie die M�he gemacht, den Namen des jungen Mannes in Erfahrung zu bringen – ebensowenig wie jenen seines Vaters, der vor ihm den Laden besessen und gef�hrt hatte. Und der Albino sah keinen Grund, nun, zu diesem sp�ten Zeitpunkt, von den alten Gepflogenheiten abzuweichen. Wie der Vater, so der Sohn, gewisserma�en …

Entschlossen durchschritt er den Laden. Salzbedeckte Fleischklumpen undefinierbaren Ursprungs hingen an Haken �ber dem Tresen, etwas alt und sauer Riechendes blubberte dampfend in einem Topf, und der Gestank nach frischem Blut war �berw�ltigend. Skimpole ignorierte das alles; zu gut kannte er diesen Ort, um sich von seinem Hexenkesselqualm und der rauchigen Flaschengeist‐Bedrohlichkeit aus der Ruhe bringen zu lassen. �Ist er da?�, fragte er.

�Ja. Er wartet schon�, antwortete der Chinese an seiner Seite unbeirrbar gelassen und respektvoll.

Skimpole bemerkte einen weichen Flaum auf der Oberlippe des jungen Mannes. �Arbeiten wir an einem B�rtchen?�, fragte er sp�ttisch.

Der Chinese err�tete.

�Na, viel Gl�ck.� Skimpole grinste. ��brigens, ist das ein H�hnchen im Fenster?�

Der Ladenbesitzer sah ihn verwirrt an.

�H�hnchen�, wiederholte Skimpole, ver�rgert �ber das offensichtliche Nichtbegreifen des andern. �H�hn‐chen!� Immer noch in dem alten Irrtum befangen, dass sein Gegen�ber nur �ber die allerd�rftigsten Kenntnisse des Englischen verf�gte, bem�hte sich Skimpole nach Kr�ften, ein Huhn nachzuahmen, indem er mit den Armen schlug und dazu gackerte.

Der Mann reagierte nicht, und so lie� Skimpole ihn einfach stehen. Er trat durch eine T�r am Ende des Raumes, hinter der sich �berraschenderweise ein Fahrstuhl befand. Darin stand ein in eine enge rote Uniform gezw�ngter Chinese, der das Metallgitter des Aufzugkorbes zur�ckzog, als er den Albino erblickte. �Guten Tag, Mista.�

�Guten Morgen.�

�Nullte Etage?�

�Ja, danke.�

Der Mann dr�ckte einen Knopf. Der Lift setzte sich mit einem Ruck in Bewegung, der Skimpole den Magen hob, und schlingerte nach unten, ehe er mit einem Knarren erzitternd zum Stehen kam.

�Nullte Etage�, sagte der Chinese mit routinierter Ausdruckslosigkeit.

�Danke!�, fuhr Skimpole ihn an. �Das sehe ich!� Er trat hinaus in einen gediegen und modern eingerichteten Raum, der von einem riesigen runden Tisch beherrscht wurde. Das war das Direktorium.

Ein massiger, breitschultriger Mann schritt auf ihn zu, w�hrend vier oder f�nf Orientalen respektvoll hinter ihm hereilten.

�Skimpole!� Die W�rme in seiner Stimme deutete darauf hin, dass er erfreut war, den Albino zu sehen, aber dieser wusste genau, dass es sich nur um h�fliche Heuchelei handelte – er hatte sogar den Verdacht, dass sich dahinter eine lebenslange Geringsch�tzung, ja Abneigung verbarg.

Ohne zu denken setzte er sein aalglattes, berufsm��iges L�cheln auf. �Dedlock!�

Ein H�ndesch�tteln folgte. Skimpoles Hand war feucht und klebrig von dem anstrengenden Marsch, und Dedlock versuchte ohne Erfolg, sich seine Abscheu nicht anmerken zu lassen.

�Ich bitte um Vergebung�, sagte Skimpole, schl�pfte aus dem Mantel und reichte ihn an einen der wartenden Lakaien, ohne auch nur hinzusehen, �aber ich hatte im Hotel zu tun.�

�Ah!� Dedlocks Augen glitzerten vor unverhohlener Wissbegierde. �Mister Moon?�

�Ganz recht�, antwortete Skimpole steif.

�Setz dich hin, alter Freund, und erz�hl mir alles dar�ber.� Dedlock klang nun polternd und fidel wie ein pensionierter Oberst, der nichts Bedenklicheres im Sinn hatte als eine Runde Romm� nach dem Abendbrot.

Sie sa�en einander an dem gro�en Tisch gegen�ber. Dedlock raschelte gesch�ftig mit einem B�ndel amtlich aussehender Papiere, und Skimpole griff nach Zigarre und Streichh�lzern, nur um beides widerwillig in seine Tasche zur�ckzustecken, als ihm einfiel, dass er seine t�gliche Portion Luxus bereits genossen hatte.

Seinem kr�ftig‐untersetzten �u�eren nach wirkte Dedlock wie ein alternder Rugbyspieler, die Sorte Mann (und Skimpole wusste, dass es sich tats�chlich so verhielt), die sich schon in der Schule beim Sport ausgezeichnet hatte – einer jener Helden des Spielfelds, die �ber die typisch englische Mischung von ungeschlachter H�rte und makellosen Manieren verf�gten. Eine h�ssliche Narbe verlief quer �ber seine Wange zwischen Nase und linkem Ohr – das Andenken an eine weit zur�ckliegende Auseinandersetzung. Die Narbe war von derart leuchtender F�rbung, und Dedlock trug sie mit einer solch perversen Freude zur Schau, dass Skimpole seit langem argw�hnte, ihr Besitzer w�rde ihr grimmiges Aussehen mit Hilfe von Fettschminke unterstreichen, was angesichts der Eitelkeit des Mannes keineswegs abwegig erschien.

�Ein Gl�schen?�, fragte Dedlock.

Skimpole holte seine Taschenuhr hervor. �Es ist noch ein wenig fr�h�, sagte er in einem Tonfall, der an seiner Bereitwilligkeit, sich �berreden zu lassen, keinen Zweifel lie�.

�Wir werden wohl eine Weile brauchen�, dr�ngte der Narbige. �Warum nicht einmal �ber die Str�nge schlagen?�

Und so f�gte sich der Albino. �Also gut.�

Dedlock schnippte mit dem Finger, und einer der Chinesen trat an seine Seite. Er trug Metzgerkleidung, sein Gesicht war von auffallend krankhaftem Gelb, und das Haar trug er zu gl�nzenden schwarzen Z�pfen geflochten. Eine schmutzige, blutbefleckte Sch�rze war um seine K�rpermitte gebunden. Der Mann beugte sich zu Dedlock hinab und fl�sterte untert�nig: �Jaaa? Was w�nschen?� Im Gegensatz zu jener des Ladenbesitzers war seine Aussprache fast unverst�ndlich, und er gebrauchte sein stockendes, undeutliches Englisch so als w�rde er jedes Wort zum ersten Mal artikulieren.

�Einen Whisky f�r mich�, sagte Dedlock. �Du wei�t, wie ich ihn mag.�

�Whis‐kii?�, wiederholte der Chinese unsicher.

Dedlock beugte sich �ber den Tisch zu Skimpole. �Und du?�

Der Albino hielt es f�r unklug, sich auf eine kompliziertere Bestellung einzulassen, und orderte das Gleiche.

Der Chinese verzog angestrengt das Gesicht. �Gleiche?�

�Ganz recht.�

�Blinge sofolt, Saa.� Er trippelte davon, doch Dedlock rief ihn zur�ck, bevor er die T�r erreicht hatte. �Na, na! Wonach fragen wir noch?�, tadelte er den Orientalen wie ein Kind, dem man immer wieder die Artigkeiten der Erwachsenenwelt beibringen musste.

Der Mann wirkte v�llig verwirrt, bevor ihm sichtlich ein Licht aufging, und er kicherte: �Ja! Ja! Mista Skimpole wollen Eis? Eis?�

Der Albino war offen belustigt. �Kein Eis, vielen Dank.�

��brigens�, sagte Dedlock, ehe der Mann verschwinden konnte, �k�nnen wir meiner Meinung nach jetzt auf den Akzent verzichten, finden Sie nicht? Mister Skimpole wird damit wohl schwerlich zu beeindrucken sein.�

Verlegen richtete sich der Chinese auf, r�usperte sich und wechselte augenblicklich zu einer �beraus eleganten Sprechweise, die nur auf eine der renommiertesten Privatschulen hinweisen konnte. �Bitte tausendmal um Vergebung, Sir�, sprach er. �Ich hatte ja keine Ahnung. Glaubte, ich h�tte meine Sache eigentlich recht gut gemacht.�

Skimpole schniefte abf�llig. �Ich bin sicher, Sie k�nnten es einrichten, die �bertreibung etwas in Grenzen zu halten, Mister …?�

�Benjamin Mackenzie‐Cooper, Sir.�

�Nun, also, Mackenzie‐Cooper, gegenw�rtig ist Ihr Auftreten reines Variet�theater. Billige Schmiere, offen gesagt, und d�mmlich obendrein. Au�erdem ist Ihre Schminke zu dick aufgetragen.� Der Mann wirkte am Boden zerst�rt, und so f�gte Skimpole vers�hnlich hinzu: �Dennoch: ein verhei�ungsvoller Anfang.�

Mackenzie‐Cooper dankte ihm und verlie� den Raum.

�Neuer Mann?�, fragte Skimpole.

Dedlock nickte. �Eton und Oxford. Noch taufrisch. Vielversprechend, wie?�

�Ganz deiner Meinung�, nickte Skimpole, obwohl er das keineswegs war.

Dedlock ging zum Gesch�ftlichen �ber. �Was also gibt es Neues von Moon?�

�Er erweist sich als widerspenstig. Du wei�t, dass er und ich eine … gemeinsame Vergangenheit haben?�

�Du hast mit uns allen eine gemeinsame Vergangenheit�, stellte Dedlock fest.

Skimpole sah ihn b�se an.

�Wie ich h�re, hat diese Bagshaw das Land verlassen. Meine G�te, wird der arme Lister entt�uscht sein!�

�Sie wusste etwas�, beteuerte Skimpole. �Eine unserer besten F�hrten, unser roter Faden, und wir haben ihn verloren!�

�Also ein weiteres Debakel.� Dedlock schnalzte missbilligend mit der Zunge. �Ich rate dir schon seit langem, dich nicht in die Person Edward Moons zu verrennen!�

�Moon war aber nicht derjenige, der sie auffliegen lie�! Wir glauben, es handelte sich vielmehr um ein Mitglied des Sicherheitsausschusses. Du wei�t selbst, dass man dort noch nie Hemmungen hatte, Beweise zu f�lschen.�

�Dieses Mitglied des Sicherheitsausschusses – haben wir einen Namen?�

�Soweit mir bekannt ist, war die Frau verkleidet. Ich habe keinen konkreten Beweis daf�r, aber ich halte sie f�r eine Person, die mit Moon im Bunde ist. Vielleicht auch mehr.�

�Eine Freundin?�

�M�glich.�

Mackenzie‐Cooper kehrte mit den Getr�nken zur�ck, stellte die Gl�ser unauff�llig auf den Tisch und verschwand wieder. Skimpole nahm ein zur�ckhaltendes Schl�ckchen, w�hrend Dedlock mit dem ersten Schluck das halbe Glas leerte.

Der Albino war es, der zuerst wieder sprach. �Moon scheint mit einem Mann namens Thomas Cribb Freundschaft geschlossen zu haben.�

�Kann ich nicht einordnen … Geh�rt er irgendeinem Verein an?�

�Scheint auf eigenen F��en zu stehen. Ich vermute viel eher, dass diese Leute den Schlafwandler als Fuchs in den H�hnerstall geschickt haben.�

Dedlock zog eine Grimasse. �Ach ja? Hat er schon geredet?�

Der Albino sch�ttelte den Kopf, und Dedlock lachte laut und heiser auf – ein harter, gef�hlloser Ton, bar jeder Fr�hlichkeit.

�Und bei dir?� Skimpole ging das Thema vorsichtig an. �Gibt es da irgendeine Bewegung?�

�Die Ochrana ist r�hrig am Werken�, sagte Dedlock so leichthin und unaufgeregt, als w�rde er mit seinem Lieblingsspieler �ber die Mannschaftstaktik plaudern. �In letzter Zeit sind sie tollk�hn geworden. Irgendetwas hat ihre Agenten aufgescheucht. Wir vermuten, dass sie von der Verschw�rung Wind bekommen haben. Vielleicht verf�gen sie �ber eine eigene Innocenti.�

Skimpole trommelte nachdenklich mit den Fingern auf die Tischplatte. �Agenten?�, fragte er. �Ich nehme an, damit meinst du Anarchisten?�

�Oh, das hoffe ich denn doch nicht! Ich habe bis an mein Lebensende genug von M�nnern, die mir oben am Embankment auf die Nerven fallen. Den letzten musste ich von der Stra�e kratzen. Kleine St�ckchen von ihm steckten zwischen den Pflastersteinen fest. Au�erdem sind es nicht diejenigen, die sie uns her�berschicken, denen unsere Sorge gilt.�

�Ach nein?�

�Wir wissen, wer sie sind. Sobald sie den Fu� in die Stadt setzen, k�nnen wir jede ihrer Bewegungen verfolgen. Unser gr��tes Problem sind die Schl�fer.�

�Welche Schl�fer?�

�Die Russen haben ihre Agenten im ganzen Land verteilt. Sie leben jahrelang hier, ohne aufzufallen. Ich w�nschte wirklich, du w�rdest die Akten lesen!�

Skimpole ignorierte den Vorwurf. �Wei� die Ochrana, dass man uns mit einbezogen hat?�

Dedlock wandte den Blick ab. �Sieht ganz so aus.�

�Und wie konnte das passieren?�

Dedlock murmelte etwas von einem Versehen.

�Dann k�nnten wir in Schwierigkeiten stecken.�

�Ich wei߫, nickte er, worauf eine Minute d�steres Schweigen herrschte. Dann ergriff Dedlock ungeachtet des Gesagten fr�hlich wieder das Wort: ��brigens, diese Bagshaw – hat Moon etwas aus ihr herausbekommen, bevor alles vor�ber war?�

�Nur ein paar Worte, deren volle Bedeutung, da bin ich ganz sicher, er nicht versteht. Sie sprach von der Verschw�rung und sagte Moon, dass er benutzt w�rde – als ob er das nicht schon l�ngst w�sste!�

Dedlock fing an, seine Papiere zusammenzuschieben. �Sonst noch etwas?�

Skimpole nahm einen Schluck von seinem Whisky – einen gr��eren diesmal, der ihm eine trunkene, honigs��e Woge der Sinnenfreude bescherte. �Sie erkl�rte, es blieben uns zehn Tage. Heute sind noch vier davon �brig.�

Dedlock verzog das Gesicht.

�Sie sagte noch etwas …�

�Und was?�

�Gefahr�, sagte Skimpole. �Gefahr im Untergrund.�


Meyrick Owsley bem�hte sich nach Kr�ften, den schrillen, leiernden Monolog zu �berh�ren, der durch den Korridor hallte, und klopfte an die Zellent�r eines M�rders – so artig und sch�chtern wie ein Botenjunge, der bei einem eleganten Landhaus ein Telegramm, ein Hochzeitsgeschenk oder einen teuren Blumenstrau� abzuliefern hat. Barabbas’ Stimme antwortete ihm – keuchend, krank, klebrig vor Verworfenheit. �Meyrick?�

Owsleys Gesicht war so ausdruckslos wie die Masken in einer griechischen Trag�die. �Ich bin hier, Sir.�

�Wird mir noch ein Mal vergeben?�

�Selbstverst�ndlich, Sir.�

Eine Pause, ein Schn�ffeln, und dann: �Gott sei Dank.� Owsley vernahm etwas, das sich anh�rte wie ein Schluchzen. �Es war nur ein kleiner Zank, nicht wahr? Nur dummes Zeugt�

�Ganz recht, Sir. Ein kleiner Zank, Sir. Hatte nichts zu bedeuten.�

Ein erleichterter Seufzer. �Gut.�

�Sir?�

Keine Antwort – nur der Zellennachbar stimmte wieder seinen Lieblingspsalm an.

�Sir, Sie haben Besuch.�

Ein pl�tzliches Regen in der Zelle, das Ger�usch schlurfender Schritte, und Barabbas tauchte an der T�r auf, das aufgedunsene Kr�tengesicht von den Gitterst�ben in k�sewei�e Abschnitte geteilt. �Edward?� Ein widerw�rtiger Gestank entstr�mte seinem Mund.

�Er ist hier bei mir�, sagte Owsley ruhig. �Er m�chte mit Ihnen sprechen. Gehen Sie einen Schritt zur�ck, Sir, ich lasse ihn eintreten.�

Als er das Klappern der Schl�ssel und das sp�ttische Knarren der T�r h�rte, lie� sich Barabbas zu Boden fallen und kauerte sich in eine Ecke seiner winzigkleinen Welt. Jemand trat ein, die T�r schloss sich mit einem lauten metallischen Scheppern wieder, und als der Gefangene aufsah, erblickte er nicht eine, sondern zwei Gestalten vor sich im Halbdunkel.

�Edward?�, murmelte er wieder.

�Ich bin hier.� Die Stimme klang fest und nicht ohne Mitgef�hl, jedoch unterlegt mit dem Anflug einer billigen Genugtuung, den anderen in einem so verkommenen Zustand zu sehen.

�Edward? Wer ist das?�

Moon tat einen Schritt vor. �Erinnerst du dich an meine Schwester?�

�Charlotte?�, hauchte Barabbas. �Meine G�te, hast du dich aber ver�ndert! Als ich dich zum letzten Mal sah, warst du ein kleines M�dchen. Kaum aus der Schule drau�en. Und jetzt bist du eine Frau!�

Mit einer Mischung aus Ekel und Faszination starrte Charlotte ihn an.

�Entschuldige die Schweinerei hier�, fuhr der Gefangene fort, w�hrend er sich zur�ck in seine Ecke fl�zte, �und versuche einfach, den Gestank zu ignorieren. Ich hatte keine Ahnung, dass ihr mich besuchen w�rdet.�

�Wie konnte es nur so weit mit dir kommen?�, fragte Charlotte; die Neugier hatte die Oberhand �ber den Ekel gewonnen.

Barabbas �berh�rte die Frage. �Du bist gewachsen�, stellte er fest. �Angeschwollen an den richtigen Stellen. Voll erbl�ht und gereift.� L�stern flitzte seine Zunge zwischen seinen Lippen hin und her. Dann zwinkerte er. �Aber bei mir f�hlst du dich sicher, nicht wahr?�

�Ich f�hle Mitleid mit dir�, erwiderte Charlotte mit bewundernswerter Zur�ckhaltung.

�Barabbas�, begann Moon, um sich gleich darauf �rgerlich zu unterbrechen: �Muss ich dich wirklich so nennen? Charlotte – sie … Wir kannten dich doch unter einem anderen Namen!�

�Mein Name ist ein f�r allemal verloren.�

Moon seufzte, griff in seine Tasche und zog eine kleine, stoffbezogene Schachtel hervor. �Ich habe dir etwas mitgebracht.�

�Bestechung�, schmollte Barabbas.

�Ein Geschenk�, verbesserte ihn Moon in bestimmtem Tonfall. �Hier.� Er hielt ihm das Sch�chtelchen hin. �Nimm es.�

Der Gefangene schob seinen monstr�sen Leib m�hsam �ber den Steinboden, griff nach dem K�stchen und riss es auf. �Eine Krawattennadel?�, fragte er, nachdem er den Inhalt eingehend gepr�ft hatte. �F�r mich?�

�Sie war so h�bsch. Vergoldet. Dachte, sie w�rde dir gefallen.�

�Da hattest du recht.� Barabbas starrte die Nadel raffgierig an. �O ja, da hattest du wirklich recht. Du musst mich einen Moment entschuldigen, ich m�chte sie meiner Sammlung einverleiben.� Er rutschte durch die ganze Zelle zur�ck und f�gte die Nadel seinem Hort von Kostbarkeiten hinzu. �Vielen Dank�, sagte er und f�gte hinzu: �Ich werde sie am Tage meines Todes tragen.�

�Das wird man dir m�glicherweise nicht erlauben. Es gibt hier strenge Regeln, was solche Dinge betrifft.�

�Ich bin sicher, Meyrick kann die n�tigen Absprachen treffen. Er ist unheimlich t�chtig in dieser Hinsicht.�

�Was ich dich schon fragen wollte: Wie hast du Owsley eigentlich kennengelernt?�, fragte Moon.

�Er kam zu mir, suchte mich auf, um mir seine Dienste anzubieten. Er sagte, er w�re durch das, was ich getan habe, ein anderer geworden. Er ist, wenn ich so sagen darf, ein Bewunderer von mir.� Barabbas warf einen �ngstlich besorgten Blick auf seine Besucher. �Ihr seid doch nicht eifers�chtig, oder?�

�Ich w�rde einem Mann wie ihm nicht trauen.�

�Aber du hast mir getraut�, fertigte Barabbas ihn ab. �Also, was willst du?�

�Wir m�ssen reden.�

Ein Grinsen erstreckte sich quer �ber das ganze talgwei�e Gesicht. �Ich wusste, du w�rdest zur�ckkommen.�

�Du sprachst von einer Verschw�rung gegen die Stadt, von einer lenkenden Hand hinter den Morden. Und du wusstest vom Brand des Theaters.�

�Und jetzt willst du wissen, wie ich das alles erfahren habe?�

�Wenn es dir nichts ausmacht�, sagte Moon leichthin.

�Zauberei!�, antwortete Barabbas und lachte auf.

Moon h�tete sich, nach dem K�der zu schnappen. �Wann hast du den Albino zuletzt gesehen?�

Abscheu verfinsterte das Gesicht des Gefangenen. �Ist schon Ewigkeiten her. Schiebst du ihm immer noch die Schuld zu?�

�Ich schiebe ihm die Schuld f�r den verderblichen Einfluss zu, den er auf dich aus�bte, jawohl!�

�Ich glaube nicht, dass ›verderblich‹ der richtige Ausdruck ist.� Barabbas klang so angestrengt nachdenklich wie der Herausgeber eines W�rterbuchs, der nach dem in semantischer Hinsicht perfekten Begriff sucht. �Zum Schluss hat er mich nur mehr gelangweilt. Aber ich war in eine neue Welt eingef�hrt worden – in eine Welt, die sich �ber alle ethischen Grunds�tze hinwegsetzt, wo ich mir nach Herzenslust nehmen konnte, was ich wollte – jedes Erlebnis, jeden Genuss. Ich trank unm��ig und erforschte s�mtliche Bereiche aller S�nden. Und was mir letztlich als einzig s�ndhafte Handlung noch blieb, war der Mord. Was ich damals in jenem Zimmer in der Cleveland Street tat, Edward, stellte die Hochwassermarke meines Lebens dar. Nichts davor oder danach hat herangereicht. Es war der Tod meines alten Ichs, die Geburt von Barabbas.�

�Das ist l�ngst Geschichte�, erinnerte ihn Moon. �Ich bin gekommen, um �ber die Zukunft zu sprechen.�

�Du magst eine Zukunft haben. Ich nicht. Immerhin bleibt mir eine kleine Befriedigung.�

�Und zwar?�

�Letzten Endes war ich froh, dass du es warst, der mich gefasst hat�, fl�sterte Barabbas.

Moon seufzte. �Du warst ein w�rdiger Gegner. Der letzte w�rdige Gegner. Danach musste ich mich nur mehr mit Nullen abgeben. Mit drittklassigen Hochstaplern, M�rdern, die nicht gerade schie�en k�nnen, M�chtegernbankr�ubern, die sich in Abwasserkan�le w�hlen.�

Barabbas grinste. �Von dem habe ich auch geh�rt.�

�Ich wollte, ich k�nnte mich an seinen Namen erinnern�, sagte Moon zerstreut. �Ich nehme nicht an, dass du …?�

Barabbas sch�ttelte fl�chtig den Kopf. �Du warst bei Mrs Bagshaw?�

�Das wei�t du?�

�Nat�rlich.�

�Sie ist eine Schwindlerin�, warf Charlotte streng ein.

�Es ist klar, dass du das sagst. Als ergebenes Mitglied des Sicherheitsausschusses war nichts anderes von dir zu erwarten. Ich muss sagen, Edward, du ignorierst die Warnungen der Madame auf eigene Gefahr!�

�Was ist es nur, das du mir nicht sagen willst?�

�Der Albtraum steht kurz bevor�, stellte der Gefangene ruhig fest. �Vier Tage. Das gro�e Verschwinden beginnt bald.�

�Du wei�t es, nicht wahr?� Moon klang so, als h�tte er dies bislang nicht so recht geglaubt. �Du wei�t tats�chlich, was vorgeht.�

Barabbas lachte auf. �Beuge dich herab zu mir!�, sagte er, und Moon schritt hastig zu der Ecke, wo der unf�rmige Mann lag. �Nat�rlich ist man an mich herangetreten�, fuhr der Gefangene fort. �Sie brauchten einen wie mich. Vielleicht sollte ich mich geschmeichelt f�hlen. Sie haben gro�e Pl�ne f�r uns alle, Edward. Es sind Pioniere. Sie wollen die Welt ver�ndern.�

Er wurde unterbrochen vom nachdr�cklichen Rattern des Schl�ssels im Schloss. Die T�r ging auf, und Owsley erschien in der �ffnung. �Besuchszeit ist vor�ber.�

�Besuchszeit?�, brauste Barabbas auf.

Owsley ignorierte seinen Herrn und starrte Moon mit eisiger Miene an. �Sie m�ssen gehen.�

�Ich bin noch nicht fertig.�

�Gehen Sie augenblicklich, oder ich wende mich an die Gef�ngnisleitung.�

Rasch w�hlte Barabbas in seinen Sch�tzen und zog ein schmales B�chlein hervor. �Du hast mir ein Geschenk gebracht�, sagte er, worauf Owsley Moon einen Blick zuwarf, der m�hsam beherrschten Zorn verriet. �Ich m�chte dir daf�r dies hier �berreichen.�

Moon war �berrascht. �Was ist das?�

�Die Lyrischen Balladen von Samuel Taylor Coleridge und William Wordsworth.� Er klang wie ein Provinzlehrer, der einer – poetischen Versen von Natur aus k�hl und argw�hnisch gegen�berstehenden – Schulklasse das dichterische Schaffen des letzten Jahrhunderts n�herbringen will. �Mein treuester Gef�hrte hier, dieses B�chlein. Ein Lichtstrahl in dieser finsteren Tiefe. Es hat mir die Augen ge�ffnet, Edward. Ich hoffe, es �ffnet auch die deinen.�

�Ich danke dir.�

�Edward?� Barabbas klopfte mit dem Finger auf den Umschlag des Buches. �Frage ihn. Frage den Mann.� Mit diesen Worten schleppte er sich zu Charlotte und klatschte ihr einen sabbernden Kuss auf die Wange. Sie zuckte angeekelt zur�ck, und der Koloss wandte seine Aufmerksamkeit dem Magier zu, der den Kopf nicht wegdrehte, sondern dem Gefangenen erlaubte, ihn auf jene verborgene, intime Stelle nackter Haut direkt hinter dem Ohr zu k�ssen. Barabbas wisperte etwas, und einen Augenblick lang wirkten beide M�nner unaussprechlich aufgew�hlt, ihr Kummer herzzerrei�end – ein Gram, jenseits aller Worte. Charlotte erwartete jeden Moment, die beiden einander in die Arme fallen zu sehen.

Es war nat�rlich Owsley, der den Bann brach. �Sie m�ssen gehen�, wiederholte er, diesmal noch dr�ngender. Sp�ter sollte Edward anmerken, dass der Mann beinahe �ngstlich geklungen hatte.

Als sie sich zum Gehen wandten, heulte Barabbas gequ�lt auf, die Moons jedoch verlie�en nacheinander ernst und schweigend die Zelle.

Sobald die T�r hinter ihnen sorgsam verschlossen und das Monster in der Schw�rze seiner Zelle zur�ckgelassen war, sagte Owsley in arrogantem, amtlichem Tonfall: �Vielen Dank f�r Ihre freundliche Zusammenarbeit. Ich bin zuversichtlich, dass Sie uns nie wieder bel�stigen werden.�

Edward Moon setzte zu einem Protest an, doch Owsley drehte sich um und schritt davon; der d�nne Zopf, der zumeist schlaff vom hintersten Rand seines im �brigen kahlen Sch�dels baumelte, h�pfte albern auf und ab.


Charlotte und ihr Bruder versp�rten Erleichterung, als sie Newgate hinter sich lie�en und den R�ckweg zum Hotel antraten. Sie gingen eine Weile nebeneinander her, ehe einer von ihnen das Wort ergriff.

�Er war nicht ganz so, wie du es erwartet hast, oder?�, fragte Moon die Schwester.

�Ich wusste, dass er sich ver�ndert hat, und ich wei� auch, was er getan hat. Und so dachte ich, ich w�rde dem B�sen ins Gesicht sehen. Aber ich hatte nur Mitleid mit ihm. Und du? Hast du ihm vergeben?�

�Da ist nichts zu vergeben�, antwortete Moon tonlos.

�Ihr wart doch Freunde.�

�Aber ich gebe nicht ihm die Schuld.�

�Dennoch tr�gt er einige Verantwortung�, beharrte sie.

Keine Antwort.

�Es tut mir leid�, sagte Charlotte. �Dumm von mir.�

Immer noch nichts.

�Hast du … hast du versucht, an seine guten Seiten zu appellieren? Ihn bei seinem alten Namen genannt?�

�Du h�rtest doch selbst, was er sagte!�

�Es scheint, Skimpole will nichts mehr mit ihm zu tun haben�, bemerkte sie.

�Verst�ndlich. Er kann nicht den Anschein erwecken, f�r solche Verirrungen verantwortlich zu sein.�

�Glaubst du, dass er etwas wei�?�

�Dessen bin ich ganz sicher.�

�Was sollte die Sache mit dem Buch? Schien mir ein sehr eigenartiges Geschenk zu sein.�

�Ich denke, er hat uns damit einen Hinweis gegeben. Wohin der f�hrt, wei� ich allerdings nicht.�

�Darf ich es sehen?�

Moon reichte ihr das B�chlein, und Charlotte klappte es auf. �Da ist eine Widmung�, stellte sie fest. �›Meinem lieben Gillman, in tiefer Dankbarkeit und Zuneigung.‹ Unterzeichnet ist es ›STC‹.�

�Coleridge�, murmelte Moon. �Lieber Himmel. Das muss ihm pers�nlich geh�rt haben. Ein Verm�gen wert.�

�Und was soll das bedeuten? Weshalb hat er es dir gegeben?�

�H�tte Owsley uns doch nicht unterbrochen! Ich bin �berzeugt, er wollte uns gerade etwas Wichtiges mitteilen. Er sagte, man w�re an ihn herangetreten. Erw�hnte irgendein Verschwinden. ›Frag den Mann‹, sagte er … Warum ergibt das alles keinen Sinn?�

�Edward�, seufzte Charlotte bedr�ckt, �wenn du keinen Sinn darin erkennen kannst, dann wei� ich nicht, ob irgendjemand anders dazu imstande ist.�

�Ich bin sehr froh, dass du zur�ckgekommen bist�, stellte Moon unvermittelt fest. Dann f�gte er zaghaft hinzu: �Wirst du bleiben?�

�Du wei�t, dass das nicht geht.�

Noch ehe er etwas erwidern konnte, waren sie beim Hotel, vor dem schon ein alter Freund wartete.

�Mister Moon!�

Der Magier und Detektiv brachte ein h�fliches L�cheln zustande. Er deutete auf den unerwarteten Besucher. �Charlotte, das ist Speight. Ein Freund, noch aus Theaterzeiten. Ein fr�herer Untermieter, k�nnte man sagen.�

�Sehr erfreut!�

Der Landstreicher kniff die Augen zusammen und machte eine unsichere Verbeugung. �Die Freude ist ganz auf meiner Seite.� Er ergriff Charlottes Hand und k�sste sie, und die junge Dame hatte diesmal, anders als bei ihrer Begegnung mit dem ›Unhold von Newgate‹, den Anstand, nicht zur�ckzuzucken.

Sie bemerkte die schwere Holztafel, die auf wackeligen St�tzen neben ihm lehnte.

JA, ICH KOMME BALD
OFFENBARUNG 22.20

�Was bringt Sie her?�, fragte Moon so artig wie m�glich und griff unauff�llig nach seiner Brieftasche.

�Ich komme, um Ihnen zu danken�, winkte Speight ab. �Es gibt nicht viele Menschen, die mich die ganze Zeit ertragen h�tten, so wie Sie.�

Moon sah ihn verbl�fft an. �Das ist doch gern geschehen.�

�Ich gehe jetzt weg.�

�Ich verstehe nicht.�

�Man braucht mich. Sie wollen mich abholen.�

�Sie meinen, Sie haben ein Zuhause gefunden? Jemanden, der sich um Sie k�mmert?�

Speight �berlegte einen Augenblick lang. �Ja�, nickte er und wirkte �berrascht von seiner eigenen Antwort, �ja, so k�nnte man sagen.�

�Nun, es war sch�n, Sie wiederzusehen …�, begann Moon und wollte auf den Hoteleingang zusteuern.

�Ich bin gekommen, um Ihnen dies hier zu geben.� Speight griff nach der Holztafel und hielt sie Moon hin. �Hier. Sie geh�rt Ihnen.�

�Wie bitte?�

Aber es war zu sp�t, Speight hatte ihm schon die Tafel in die H�nde gedr�ckt und ging eiligen Schrittes davon.

�Danke!�, rief er von weitem zur�ck. �Ich danke Ihnen!�

Moon sch�ttelte verwirrt den Kopf. �Was, zum Teufel, soll ich mit dem Ding?�

�Ich mag deine Freunde�, versicherte ihm Charlotte schelmisch, als sie das Hotel betraten. �Sie sind … ungew�hnlich.�

Sie gingen direkt in Moons Suite, wo Mrs Grossmith sie empfing, ihren langen, d�nnen Galan an ihrer Seite.

�Sie haben einen Besucher�, verk�ndete sie. �Er wartet schon seit fast einer Stunde.�

�Ich habe ihn gerade getroffen�, erwiderte Moon barsch. �Mister Speight, nicht wahr?�

Mrs Grossmith schniefte abf�llig. �Den w�rde ich nie reinlassen. Nur in Ausnahmef�llen. Nein, nein, eine ganz andere Kategorie von Gentleman. Der Inspektor.�

Moon wandte sich an seine Schwester. �Was meintest du soeben �ber meine Freunde?�, fragte er, und wie auf ein Stichwort schoss Merryweather durch eine T�r, begleitet von schallendem Gel�chter jener Art, wie man sie f�r gew�hnlich vernimmt, wenn man einen Groschen in bunte Blechm�nnchen einwirft, die an den Promenaden langweiliger Seeb�der herumstehen. Der Schlafwandler schlenderte hinter dem Inspektor her; beide M�nner hatten halb geleerte Gl�ser mit Milch in der Hand.

�Also, ich muss schon sagen�, t�nte Merryweather, als das H�ndesch�tteln und Vorstellen erledigt war, �das hier ist ohne Zweifel eine Verbesserung im Vergleich zu Ihren fr�heren Wohnverh�ltnissen!�

�Und ich verabscheue es�, erg�nzte Moon gleichm�tig.

�Was soll dieses Schild, das Sie da tragen? Kommt mir bekannt vor.�

�Es hat keine Bedeutung.� Moon stellte das Ding neben der T�r ab. �Nun, darf ich Ihr Hiersein als reinen H�flichkeitsbesuch betrachten?�

�Leider nicht�, antwortete der Inspektor d�ster. �Sie erinnern sich an den Honeyman‐Fall?�

�Nat�rlich.�

�Sieht ganz danach aus, als m�sste ich Sie um Entschuldigung bitten. Sie hatten recht, Mister Moon, und ich hatte unrecht. Der Fall ist nicht ganz so geschlossen, wie ich annahm.�

Pl�tzlich war Moon hellwach. �Was ist passiert?�

�Die Mutter des Mannes …�

�Sagen Sie schon!�

Merryweather r�usperte sich. �Also, es geht um Mrs Honeyman�, sagte er. �Sie ist verschwunden.�


DREIZEHN

Mrs Grossmith beugte sich �ber die Sp�le in der K�che und besch�ftigte sich emsig mit den letzten Tellern des Tages. Braunes Seifenwasser schwappte fettig �ber ihre Handgelenke.

Arthur Barge schlich sich ungewohnt verstohlen an sie heran und schmiegte sich traulich an ihre �ppig best�ckte Hinterseite; schweigend strich er �ber ihre schon etwas schlaffen Wangen, strich eine verirrte Haarstr�hne zur Seite und verschr�nkte seine leicht zerknitterten H�nde mit den ihren. Sie sagte nichts, aber er konnte unter sich sp�ren, wie sie voll geheimer Lust vibrierte. Ungeschickt und au�er �bung nach Jahren des Junggesellendaseins bem�hte er sich, seinen Mund an ihrem Ohr vorbei so weit nach vorn zu man�vrieren, dass er auf den ihren traf.

Sie machte einen halbherzigen Versuch, ihn von sich wegzuschieben, und murmelte etwas �ber den Abwasch, lie� sich aber bald von seiner Leidenschaft, seinen Lippen und von seiner flinken, heftig forschenden Zunge zum Verstummen bringen. Erst zaghaft und behutsam, doch mit zunehmender Selbstsicherheit und wachsendem Tatendurst pressten sie sich selig immer enger aneinander. In einer Umarmung erstarrt, k�ssten sie sich lang und gierig wie zwei vorsintflutliche Echsen, die auf den gluthei�en Ebenen des urzeitlichen Afrika ein letztes Mal zur Paarung ansetzten.

Dies jedenfalls war das pittoreske Bild, das Charlotte Moon unwillk�rlich vor Augen hatte, als sie in der T�r innehielt und die beiden betrachtete. Sie r�usperte sich so laut wie m�glich, und prompt schnellten die beiden auseinander wie Figuren in einer Posse. Mit hektisch ger�teten Wangen senkte Mrs Grossmith versch�mt und ganz benommen den Kopf, w�hrend Barge einfach nur stumm dastand, ein d�mmliches Grinsen auf dem Gesicht wie ein Schuljunge, dessen schlechtes Gewissen in Wahrheit nur gespielt ist, weil er im tiefsten Inneren stolz darauf ist, bei seiner Missetat ertappt worden zu sein.

�Mrs Grossmith�, sagte Charlotte eisig. �Verzeihen Sie die St�rung.�

�Entschuldigen Sie, Miss.� Die Haush�lterin strich sich die Sch�rze glatt und deutete einen unbeholfenen Knicks an. �Ich dachte, Sie w�ren ausgegangen, zusammen mit Ihrem Bruder und dem Polizisten.�

Charlotte �berging die Bemerkung. �Weshalb waschen Sie das Geschirr? Das geh�rt doch wohl zu den Pflichten des Hotelpersonals!�

�Ich habe die Verantwortung f�r Mister Moon. Ich sorge lieber selbst f�r ihn, soweit es geht.�

Charlotte hielt ihr ein gefaltetes Blatt Papier hin. �W�rden Sie auch daf�r sorgen, dass mein Bruder dies hier bekommt?�

�Sie verlassen uns?� Mrs Grossmith klang nicht �ber Geb�hr entt�uscht von dieser Aussicht. �K�nnten Sie nicht noch ein St�ndchen bleiben? Mister Moon wird bald zur�ck sein, und ich bin sicher, er w�rde sich gern pers�nlich von Ihnen verabschieden.�

�Es ist besser, ich gehe jetzt gleich.�

�Wenn Sie meinen.�

�Ja, das meine ich.�

�Darf ich Sie etwas fragen?� Mrs Grossmith z�gerte. �In all den Jahren, die ich nun schon f�r Mister Moon arbeite, hat er Sie kein einziges Mai erw�hnt. Ich m�chte nicht indiskret erscheinen, aber …�

�Aber Sie wollen den Grund daf�r wissen?�

�Nun ja …�

�Mein Bruder und ich haben ein ungew�hnliches Verh�ltnis zueinander. Wenn wir zu lange zusammen sind, pflegen sich unweigerlich gewisse Dinge zu ereignen – Dinge, bei denen man vorz�ge, sie w�rden sich nicht ereignen, wenn Sie verstehen.�

�Nein. Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht.�

�Glauben Sie mir, es ist f�r uns beide das beste, wenn wir voneinander getrennt sind und es bleiben.� Charlotte wandte sich zum Gehen. �Adieu, Mrs Grossmith, Mister Barge.�

Arthur bem�hte sich um ein linkisches kleines Winken zum Abschied, w�hrend Charlotte bereits mit festen Schritten den Raum verlie�.

�Seltsames M�dchen, nicht wahr?�

�Habe ich gar nicht bemerkt�, sagte Barge. �Habe die andere Dame in der K�che angesehen. Diejenige, der mein Herz geh�rt.� Er streckte die Hand nach ihr aus, aber Mrs Grossmith schob sie energisch weg.

�Sp�ter�, sagte sie und verwahrte Charlottes Briefchen sorgf�ltig im �rmel ihres Hauskleids. �Vor dem Schlafengehen sind noch reichlich Teller zu waschen.�


Mister Honeyman sah noch genauso aus, wie Moon ihn im Ged�chtnis hatte – ein eigensinniger Mann mit grauer Haut und einer immerzu gequ�lten Miene. Doch diesmal wirkte er beherzter, was vermutlich auf die Abwesenheit jener Medusa zur�ckzuf�hren war, die er seine Ehefrau nannte.

Kaum hatte man Moon und Merryweather zu ihm gef�hrt, fing er auch schon an zu n�rgeln. �Ich glaube mich daran zu erinnern, auf einem offiziellen Ermittlungsbeamten bestanden zu haben!�, bellte er, wobei er Moon b�se ins Auge fasste.

Merryweather tat sein Bestes, ihn zu beschwichtigen. �Ich kann f�r Mister Moons Vertrauensw�rdigkeit b�rgen, Sir. Er half mir �fter aus der Klemme, als ich wahrhaben m�chte, und ich will durchaus kein Hehl daraus machen, dass heute eine betr�chtliche Anzahl B�sewichter hinter Gittern ist, die ohne seine Unterst�tzung auf freiem Fu� w�re.�

�Was Sie nicht sagen!�, unterbrach ihn Honeyman barsch. �Inspektor, ich habe Sie nicht in mein Heim gebeten, damit Sie hier herumstehen und Lobreden auf diesen Dilettanten halten! Au�erdem wird nach meiner Auffassung Mister Moon infolge dieses bedauerlichen Zwischenfalls in Clapham keineswegs mehr als so unfehlbar betrachtet wie zuvor.�

�Ich bitte um Vergebung, Sir�, sagte der Inspektor mit sanfter Stimme und wechselte das Thema. �Ich m�chte Sie keineswegs dr�ngen, Sir, aber k�nnten Sie uns ein wenig mehr �ber die Umst�nde berichten, unter denen das Verschwinden Ihrer Gattin stattgefunden hat. Versuchen Sie sich so genau wie m�glich zu erinnern. Alles k�nnte von Bedeutung sein. Was Ihnen als unwichtige Einzelheit erscheinen mag, k�nnte sich f�r das geschulte Auge eines Polizisten als entscheidender Hinweis entpuppen.�

�Ich erwachte fr�h am Morgen�, berichtete Honeyman steif. �Gegen sechs Uhr, wie es meine Gewohnheit ist. Marschiere gern durchs Gel�nde, Sie verstehen. Bewundere meinen Fischbestand. Und da war sie weg. Ganz einfach weg. Hatte eine Reisetasche genommen und war auf und davon. Niemand von der Dienerschaft hat sie gesehen.�

�Ist sie Ihrer Meinung nach freiwillig gegangen?�

�Ich habe keine Ahnung.�

�Die Reisetasche w�rde eine Entf�hrung wohl ausschlie�en�, stellte Merryweather fest. �Finden Sie nicht, Mister Moon?�

Der Magier und Detektiv g�hnte, gelangweilt von der – wie erwartet schleppenden – polizeilichen Vorgangsweise.

�Mister Honeyman�, fuhr der Inspektor hartn�ckig fort, �haben Sie irgendeine Vorstellung, wohin sich Ihre Gattin gewendet haben k�nnte?�

�Nicht die geringste. Hier war doch der Mittelpunkt ihres Lebens! Ich mache mir Sorgen, dass sie etwas … Unbedachtes getan haben k�nnte.�

�Verzeihen Sie�, schaltete sich Moon mit �tzendem Unterton in der Stimme ein, �aber als ich Ihre Frau zuletzt sah, wirkte sie auf mich nicht so, als w�re sie anf�llig daf�r, sich selbst k�rperlichen Schaden zuzuf�gen. Ebensowenig schien sie sich vor Trauer �ber den Verlust ihres Sohnes zu verzehren, vielmehr lie� ihr Verhalten eher auf Erleichterung schlie�en, einen l�stigen Anhang los zu sein.�

Honeyman wandte sich an den Inspektor. �Das ist einfach unerh�rt! Erwartet man von mir tats�chlich, dazustehen und mich in meinem eigenen Heim von diesem blutigen Amateur beleidigen zu lassen?�

Aber Moon lie� nicht locker. �Glauben Sie mir�, fuhr er fort, �Ihre Frau hatte nichts Selbstzerst�rerisches an sich!�

�K�nnen Sie uns sagen, Sir�, �bernahm Merryweather hastig; er klang beinahe komisch mit seiner r�cksichtsvollen H�flichkeit, �ob Ihre Gemahlin vor ihrem Verschwinden ein in irgendeiner Weise merkw�rdiges Gebaren an den Tag legte? Gab es etwas, das man als ungew�hnlich oder nicht ihrer Natur entsprechend bezeichnen k�nnte?�

�In letzter Zeit ging sie noch mehr als zuvor in ihrer T�tigkeit f�r die Kirche auf. Sie ist erf�llt von tiefster Menschenliebe. Und �u�erst fromm.�

�Kirche?�, wiederholte Merryweather. �K�nnen Sie uns den Namen dieser Kirche nennen, Sir?�

�Eher ein Wohlt�tigkeitsverein, denke ich, wenn man genau sein will. Irgendwo in der Stadt. Ich bin nat�rlich vollauf zufrieden mit unserer kleinen Pfarrkirche hier, aber meine Frau nahm diese Dinge immer schon weitaus ernster als ich. Und in diesen neuen Verein war sie ganz vernarrt. Wei� der Himmel, warum.�

�Der Name dieser Kirche, Sir.�

Honeyman r�usperte sich verlegen. �Ich f�rchte, den m�sste ich erst heraussuchen.�

Merryweather schenkte dem Mann sein bew�hrtestes Routinel�cheln. �Wir warten gern so lange, Sir.�

Leise vor sich hinmurmelnd, trottete Honeyman aus dem Zimmer.

�Inspektor?�, sagte Moon argw�hnisch. �Wissen Sie mehr als ich?�

Merryweather war unf�hig, seine Freude zu verbergen. �Es kommt selten vor, Mister Moon, dass ich Ihnen eine Nasenl�nge voraus bin. Aber diesmal, denke ich, ist es mir gelungen!�

�Sagen Sie es mir!�, befahl Moon. �Auf der Stelle!�

�Nur Geduld.�

Bevor es Moon noch gelang, aufzuspringen, kehrte Honeyman zur�ck. Er schwang ein B�ndel Papiere in der Hand. �Wie ich sagte. Es ist ein karitativer Verein. Missionare, w�rde ich meinen. Etwas in dieser Art.�

�Der Name?� Merryweather griff nach seinem Notizbuch.

�Hier haben wir es gleich.� Honeyman bl�tterte ziellos durch seine Papiere, bis er auf die gew�nschte Information stie�. �Die Kirche des Sommerk�nigreichs.� Er r�mpfte die Nase. �L�cherlicher Name. Denken Sie, er k�nnte von Bedeutung sein?�

Merryweather schrieb hastig in sein B�chlein. �Jawohl, Sir. Ich denke, das k�nnte er tats�chlich sein.�


Sie verlie�en Honeyman mit dem Versprechen, ihn �ber den Fortgang der Ermittlungen genauestens auf dem laufenden zu halten, und schlenderten hinaus in die park�hnliche Anlage, wo der Schlafwandler am Fischteich stand und einem G�rtner lauschte, der ihm einen offensichtlich fesselnden Vortrag �ber fachgerechten Baumschnitt hielt. Der Riese empfing sie mit einem fragenden Blick.

�Es gibt etwas, das mir der Inspektor vorenth�lt�, beklagte sich Moon.

�Warten Sie, bis wir in der Droschke sind. Dann werde ich Ihnen alles erkl�ren.�

Aber sie hatten schon mehr als den halben R�ckweg in die Stadt zur�ckgelegt, bis Merryweather endlich mit den Neuigkeiten herausr�ckte.


�Erinnern Sie sich an Dunbar?�, begann er, w�hrend sich die Droschke mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch das Verkehrsgedr�nge auf den Stra�en schl�ngelte. �Das zweite Opfer des Fliegenmenschen?�

�Selbstverst�ndlich.�

�Es sieht so aus, als w�re seine Mutter etwa zum gleichen Zeitpunkt verschwunden wie Mrs Honeyman.�

�Aha.� Moon klang leicht entt�uscht.

�Warten Sie, Mister Moon, warten Sie! Das Interessante kommt erst!�

�Lassen Sie mich raten�, unterbrach ihn der Detektiv rasch. �Auch sie war Mitglied dieser Gruppe von Menschenfreunden – der Kirche des Sommerk�nigreichs?�

Entz�ckt klatschte Merryweather in die H�nde. �Genau! Genau!�

�Nun denn, so haben wir anscheinend doch noch eine neue Spur im Mordfall Cyril Honeyman.�


Das Direktorium.

Der Name hatte Skimpole immer schon missfallen. Er fand ihn hocht�nend, �berzogen und theatralisch. Aber er stammte ja auch aus den Gr�ndungstagen der Organisation, einer dramatischeren Zeit, einer �ra von Mord und Totschlag. Und schon seit dem Tode der K�nigin hegte Skimpole die Hoffnung, dass sich die Ausw�chse der Vergangenheit nicht im neuen Jahrhundert fortsetzen w�rden. Seinem Gef�hl nach sollte eine Geheimorganisation (so sie �berhaupt einen Namen tragen musste) alles daransetzen, so allt�glich und unauff�llig wie nur irgend m�glich zu klingen – und sich jedenfalls nicht mit einer Benennung wie ›das Direktorium‹ schm�cken, was sich anh�rte, wie aus einem billigen Roman stammend, und den Geruch nach D�nkel und Gro�spurigkeit verstr�mte. Dedlock hingegen hatte den Namen stets aus ganzem Herzen gutgehei�en, denn er betrachtete sich selbst definitiv als einen Mann, der auf dem Boden von D�nkel und Gro�spurigkeit bl�hte und gedieh.

Es war schon sp�t an diesem Tag, und sie sa�en beide an ihren gewohnten Pl�tzen am gro�en runden Tisch. Dedlock arbeitete sich verbissen durch eine Flasche Wein und Skimpole durch eine Reihe unerh�rt ausf�hrlicher �berwachungsprotokolle.

�Fast wie in alten Zeiten�, bemerkte Dedlock in geselliger Anwandlung.

�Wie das?�

�Du steckst hinter den Lehrb�chern fest, w�hrend ich verschwinde, um mir ein Glas zu genehmigen.�

�Ich will nicht dar�ber sprechen.�

�Es ist, als w�ren wir wieder in der Schule, nicht wahr?�

�Ich sagte, ich m�chte nicht dar�ber sprechen!�

�Entschuldige.�

Der Albino widmete sich wieder seiner Arbeit, nur um gleich wieder unterbrochen zu werden.

�H�r um Gottes willen auf zu schmollen, Skimpole!�, rief Dedlock. �Du redest nie �ber die alten Zeiten.� Nach dem Genuss von drei Vierteln einer Flasche schien er wehm�tigen Gedanken nachh�ngen zu wollen.

Skimpole knallte seine Berichte auf den Tisch. �Was gibt es Neues von Madame Innocenti?�, fragte er, indem er Dedlocks Lust auf sentimentale R�ckblicke demonstrativ �berging.

�Zuletzt wurde sie in New York gesichtet. Und danach – pffft – verschwunden.�

�Verdammt.�

�Du bist der Meinung, dass bei ihr alles mit rechten Dingen zuging?�

�Meine Meinung ist nicht ausschlaggebend. Aber wenn auch nur die geringste Chance besteht, dass sie echt war – und offen gesagt, kann ich nicht glauben, dass es sich bei all den Informationen, die sie uns gab, nur um eine Kette von Gl�ckstreffern gehandelt hat –, dann ist der allerletzte Ort, an dem ich sie wissen m�chte, New York! Eine Macht wie diese in den H�nden der Amerikaner ist unvorstellbar.�

Mackenzie‐Cooper tauchte aus dem Hintergrund auf wie �blich maskiert als chinesischer Metzger. �Wollen Glas, Saa?�, fragte er mit seinem lachhaften Akzent. Der Albino lehnte mit einer �rgerlichen Handbewegung ab.

�Du solltest es machen wie ich�, sagte Dedlock. �Der Wein ist �berraschend gut.�

�Viel zu fr�h f�r mich.� Skimpole wandte sich an Mackenzie Cooper. �Also dann, eine Tasse Tee f�r mich.�

Der Mann verbeugte sich und verschwand wieder in den hinteren Teil des Raumes. Zu diesem Zeitpunkt bemerkte es zwar keiner seiner beiden Vorgesetzten, aber er schien reichlich nerv�s. Dedlock sollte sp�ter behaupten, er h�tte gesehen, dass die H�nde des Mannes zitterten und bebten, aber diese Einzelheit fiel ihm erst nach etlichen Monaten ein – und obendrein, was irgendwie befremdlich anmutete, ausgerechnet bei einer Abendgesellschaft.

�Und was treibt Mister Moon?�, erkundigte sich Dedlock.

�Er verfolgt eine Spur im Fall Honeyman. Er ist immer noch davon �berzeugt, dass es da eine Verbindung gibt.�

�Und? Siehst du das auch so?�

�Mittlerweile habe ich gelernt, seinem Instinkt zu trauen.�

Dedlock kratzte geistesabwesend an seiner Narbe. �Er ist dein Mann�, sagte er dann. �Ich werde sicher nicht versuchen, mich einzumischen. Wenn Madame Innocenti recht hatte, dann bleiben uns nur mehr vier Tage.�

�Daran brauchst du mich wirklich nicht zu erinnern.�

�Ich habe �berlegt, meine Familie aus der Stadt zu bringen. Du verstehst: bevor es passiert. Hast du schon irgendwelche Vorkehrungen getroffen?�

Noch ehe Skimpole antworten konnte, kam Mackenzie‐Cooper mit einer gro�en Teekanne an den Tisch. Er goss ihm eine Tasse ein und bot daraufhin Dedlock das gleiche an, wobei er in einem deutlich bestimmteren Ton, als einem Untergebenen zukam, die Wirksamkeit des Getr�nks bei der Bek�mpfung der Folgen �berm��igen Weingenusses unterstrich. Widerstrebend willigte Dedlock ein, und so stand flugs eine Tasse des belebenden Gebr�us auch neben der Weinflasche.

W�hrend Mackenzie‐Cooper Dedlock eingoss, nahm Skimpole schon einen Schluck aus seiner eigenen Tasse und runzelte die Stirn: viel zu viel Zucker. Dennoch trank er weiter, einen kr�ftigeren Schluck diesmal, dessen ma�lose S��e ihm einen lustvollen, wenngleich ein wenig schuldbewussten Sinnengenuss bescherte.

Dedlock beugte sich zu dem falschen Chinesen. �Ist alles in Ordnung, alter Junge? Sie wirken heute ganz anders als sonst.�

Erschrocken riss Mackenzie‐Cooper die Teekanne an sich, wobei sich ein gro�er Teil des Inhalts auf den Tisch ergoss.

�Velzeihung, Saa�, murmelte er und suchte fieberhaft in seinen Taschen nach etwas, um die Pf�tze aufzuwischen. �Velzeihung.�

�Kein Grund, sich so dar�ber aufzuregen, Mann. War nur ein Missgeschick.�

Schlie�lich zog Mackenzie‐Cooper ein Geschirrtuch hervor, doch als er sich vorbeugte, um die Teepf�tze zu entfernen, gelang es ihm, das Weinglas seines Vorgesetzten umzuwerfen. Dedlock fluchte, als Tee‐ und Weinb�chlein �ber den Tisch liefen und sich zu einem Wasserfall in Richtung Boden vereinten.

�Velzeihung, Saa! Velzeihung!� Unter seiner Schminke und der Maskierung hatte Mackenzie‐Cooper zu schwitzen begonnen.

Dedlock wollte das Vergossene rasch vom Tisch wischen, doch gerade als er die Hand ausstreckte, bemerkte er etwas h�chst Sonderbares: Dort, wo Wein und Tee miteinander in Ber�hrung kamen und sich vermischten, schienen die Fl�ssigkeiten ein wenig zu sprudeln, zu brodeln und zu dampfen – eine unnat�rliche Reaktion, wie ihm schien.

Mackenzie‐Cooper sah es auch. Eine Sekunde lang starrten die beiden einander mit offenem Mund an – der eine erschrocken dar�ber, dass ihn ein so unbedeutendes Missgeschick auffliegen lie�, w�hrend der andere entsetzt zu begreifen suchte, was sich vor seinen Augen abspielte.

Mackenzie‐Cooper schleuderte die Kanne zu Boden, wo das teure Porzellan mit ohrenbet�ubendem Krachen zersplitterte, und rannte zum Ausgang. Dedlock sprang (mit verbl�ffender Gelenkigkeit f�r einen Mann seines Alters) auf und st�rmte hinter ihm her – und das alles in einer einzigen, verwischten Bewegung. Mackenzie‐Cooper jaulte auf, als ihn Dedlock, noch bevor er die T�r erreichte, wie ein alter Rugbyspieler stoppte, zu Boden riss und dort festnagelte.

�Warum?�, knurrte Dedlock. Mackenzie‐Cooper sagte nichts, nur seine Blicke schossen angstvoll von einer Seite zur anderen.

Dedlock schlug ihm hart ins Gesicht. �Warum?�, wiederholte er. Der Mann sah aus, als w�rde er jeden Moment in Tr�nen ausbrechen. Ein weiterer Schlag. �Warum?�

Da verzerrte sich Mackenzie‐Coopers Gesicht, er stie� ein w�rgendes Gurgeln hervor und begann zu sabbern wie ein zahnender S�ugling. Dedlock starrte ihn an. �Was ist los?�

Als ihm klar wurde, was das zu bedeuten hatte, war es zu sp�t. Mackenzie‐Cooper verzog wieder das Gesicht, schluckte hart und erzitterte wie von einem kurzen Krampf gesch�ttelt. Seine Wangen �berzogen sich mit dunkelroten Flecken, w�hrend wei�e Schaumbl�schen zwischen seinen Lippen aufstiegen. Sekunden sp�ter schien sein K�rper in sich zusammenzufallen, er wand sich, zuckte ein paarmal und blieb dann reglos liegen. Mit einem lauten Br�llen machte Dedlock seinem ohnm�chtigen Zorn Luft, stie� den Toten zur Seite und stand schwankend auf.

�Zyankalikapsel�, erkl�rte er – �berfl�ssigerweise, wie Skimpole fand. Er tauchte eine Fingerspitze in die Pf�tze auf dem Tisch und roch ausgiebig daran. �In der Kanne war genug Gift, um uns beide zu t�ten�, stellte er fest. �Wie viel hast du getrunken?�

�Gar nichts�, log Skimpole.

�Bist du sicher?�

�Nat�rlich�, antwortete der Albino hastig. �Ich habe nichts davon getrunken.�

Dedlock nickte geistesabwesend.

Skimpole blickte hinab auf den verkr�mmten Leichnam. �Sagtest du nicht, er k�me direkt von der Universit�t in Oxford?�

Dedlock beugte sich �ber den Toten und zog dem Mann St�ck f�r St�ck die Maskierung vom Gesicht; zum Vorschein kam nicht der junge, noch unerfahrene Absolvent einer Eliteschule, den sie erwartet hatten, sondern ein kahlk�pfiger Fremder mittleren Alters – schlaff und verfallen.

�Irgendwie habe ich jetzt doch meine Zweifel an Eton�, sagte Dedlock.


M�glicherweise interessiert es Sie, dass der wahre Mackenzie‐Cooper – ein echter, umg�nglicher Eton‐Absolvent mit einem viel zu vertrauensseligen Naturell, um als Mitarbeiter des Direktoriums erfolgreich zu sein – drei Tage sp�ter in einem versperrten Badezimmer einer der verkommensten Herbergen der Stadt entdeckt wurde; sein Sch�del war eingeschlagen, und seine erstarrten Gesichtsz�ge verrieten nichts als blankes Entsetzen. Also kein gl�ckliches Ende f�r ihn.


�Wer ist das?�

�Du erkennst ihn nicht?�, fragte Skimpole �berrascht.

�Kl�r mich auf.�

�Declan Slattery. In der Vergangenheit Spitzel einer irischen Untergrundorganisation, bis er sich vor einigen Jahren selbst�ndig machte. So etwas wie eine Legende auf seinem Gebiet. Aber seine beste Zeit hat er l�ngst hinter sich. Ziemlich verbraucht, der Mann. Muss seit Ewigkeiten das erste Mal sein, dass ihm wieder jemand einen Auftrag gegeben hat!�

�Aber wer?�, fragte Dedlock. �Wer m�chte uns tot sehen?�

Skimpole zuckte die Achseln. �Ich h�tte eine lange Liste anzubieten.�


Die Kirche des Sommerk�nigreichs wurde von einem kleinen B�ro im dritten Stock eines Geb�udes am Covent Garden aus gef�hrt, in dem es nach Staub und schlechtem Atem roch. Merryweather, Moon und der Schlafwandler wurden von einem Mann in Empfang genommen, dessen gutm�tig‐derbes, stark ger�tetes Gesicht besser in eine Schankstube denn auf eine Kanzel zu passen schien.

�Donald McDonald�, sagte er, streckte ihnen eine fleischige Pranke entgegen und kniff ein Auge zusammen, ehe er hinzuf�gte: �M�tterchen hatte eine humorvolle Ader.�

Moon durchbohrte ihn mit einem abf�lligen Blick, und er zog die Hand zur�ck. Ungesch�ttelt.

�Worum geht es, meine Herren?�

�Wir m�chten uns mit Ihnen �ber ein Mitglied Ihrer Gemeinde unterhalten�, sagte Merryweather. �Eine Mrs Honeyman.�

�Ich bin so froh, dass endlich jemand etwas unternimmt! Wir machen uns die gr��ten Sorgen! Ich bin schon v�llig au�er mir deswegen!�

Der Inspektor holte sein Notizbuch hervor. �Wie oft haben Sie sie gesehen?�

�Sie war eines unserer eifrigsten Mitglieder. Eine der Hauptst�tzen unserer kleinen Kirchengemeinde. Einer der Eckpfeiler, k�nnte man sagen.�

�Verzeihen Sie, wenn ich frage –�, Merryweather kritzelte ohne Unterlass, �– aber wie genau stehen Sie in Beziehung zu dieser Kirche?�

�Oh, ich bin nichts Besonderes.� McDonalds Bescheidenheit wirkte wenig �berzeugend. �Ich bet�tige mich gelegentlich als Laienprediger … helfe aus, wo ich gebraucht werde … unterst�tze unseren Pastor in seinen guten Taten.�

�Und wer ist das?�

�Ja, von Rechts wegen sollten Sie eigentlich mit ihm sprechen. Unser F�hrer, Sir. Unser Hirte. Reverend Doktor Tan.�

Pflichtbewusst notierte Merryweather den Namen. �Wann k�nnen wir mit diesem Tan reden?�

�Er ist gegenw�rtig nicht in der Stadt. Ich bin ein schwacher Ersatz, ich wei�, aber Sie m�ssen leider mit mir vorlieb nehmen. �brigens muss ich mich f�r den Zustand unseres B�ros entschuldigen; �blicherweise sind wir ordentlicher.�

Merryweather hatte die dicke Staubschicht bereits bemerkt und enthielt sich taktvoll jeglichen Kommentars. �Und wo befindet sich Ihre Kirche, Sir? Die Gottesdienste werden doch gewiss nicht hier abgehalten.�

�Oh …� Die Frage schien McDonald zu irritieren. �Wir verrichten unsere Andacht … nicht weit von hier.�

Moon hatte genug vom st�ndigen Hin und Her des Gespr�chs und widmete sich der Erforschung des Raums; in unverhohlener Neugier schn�ffelte er frech zwischen B�cherschr�nken, Regalen und Vitrinen herum. �ber der T�r hing ein Kreuz, und darunter befand sich eine unauff�llige Tafel, die eine schwarze Blume mit f�nf Bl�tenbl�ttern zeigte. Daneben standen die Worte: �Wenn ein Mann im Traum durchs Paradies wandern k�nnte und erhielte eine Blume zum Beweis, dass seine Seele tats�chlich dort gewesen war, und er f�nde diese Blume beim Erwachen in seiner Hand – was dann?�

Donald McDonald trat zu Moon. �Ich sehe, Sie haben unser Motto entdeckt.�

�Motto? Ich f�rchte, mir entgeht die Bewandtnis, die es damit auf sich hat.�

�Das Paradies, Mister Moon! Elysium. Der Zustand, nach dem wir alle streben.�

�Das stammt aber nicht aus der Heiligen Schrift.�

�Nat�rlich nicht! Es stammt von S. T. Coleridge. Der hochw�rdige Doktor Tan ist ein gro�er Bewunderer von ihm. Unsere Kirche verehrt ihn und seine Werke.�

�Coleridge?�, wiederholte Moon ungl�ubig. �Darf ich fragen, welche Art von Kirche einen weltlichen Dichter verehrt?�

McDonald l�chelte selbstgef�llig. �Zweifellos finden Sie das seltsam. Das tun viele. Doch ich kann Ihnen versichern, dass jeder, der einige Zeit bei uns verbringt, fr�her oder sp�ter unsere Einstellung sch�tzen lernt.�

�Die Blume unter dem Kruzifix�, begann Merryweather in dem Versuch, sich wieder ins Gespr�ch einzubringen. �Was soll sie darstellen?�

�Ein Motiv, das wir uns aus der griechischen Mythologie angeeignet haben.� Donald McDonald brachte einen entr�ckten Gesichtsausdruck zustande. �Die unsterbliche Blume, die im Paradies f�r alle Dichter erbl�ht. Der Amarant.

�Und was ist Ziel und Zweck des Ganzen?�, herrschte Moon ihn an. �Womit besch�ftigt ihr Leute euch eigentlich?�

�Wir sind Missionare.�

�Missionare? In Covent Garden?�

�Der hochw�rdige Doktor Tan sieht keinen Grund, England zu verlassen, solange es vor unserer Haust�r so viel geistige Armut gibt, so viel Leid und Elend. London hat gr��eren Bedarf am reinigenden Licht der Offenbarung als selbst die finstersten Winkel des Kongo. Wir erledigen unsere Aufgabe unter den Vergessenen, unter jenen, die, von der Stadt fallengelassen, in den Vierteln der Armen und Hoffnungslosen verrotten.�

�Wir haben genug geh�rt.� Moon drehte sich elegant auf dem Absatz um und schritt entschlossen zur T�r. �Kommen Sie, Inspektor.�

�Sie werden es uns doch wissen lassen, sollten sich irgendwelche neuen Erkenntnisse ergeben, nicht wahr?� McDonalds Stimme troff vor falscher Sorge, geheuchelter Anteilnahme. �Ich schlie�e Mrs Honeyman in meine Gebete ein.�

Der Inspektor folgte Moon nach drau�en. �Habe ihm kein Wort geglaubt�, sagte er, als sie auf der Stra�e standen. �Der Mann wei� mehr, als er sagt. Was denken Sie?�

�Ich bin mir nicht sicher�, gestand Moon. �Diese j�ngste Entwicklung kam etwas unerwartet, muss ich zugeben.�

�Was sollte diese Sache mit der Tafel unter dem Kruzifix?�

�Coleridge�, erkl�rte Moon unergr�ndlich.

�Hat es damit irgendetwas Bedeutungsvolles auf sich?�

�Sind Sie ein Liebhaber der poetischen Dichtung, Inspektor?�

�Habe seit der Schulzeit keine Zeile davon zu Gesicht bekommen.�

�Dann haben Sie heute wenigstens eine wertvolle Lektion gelernt.�

�Und welche?�

�Lesen Sie mehr!�

Sp�t abends, in den Schlaf gesungen vom rhythmischen Schnarchen seiner Frau, sollte Inspektor Merryweather, gerade als er am Hinwegd�sen war, eine schlagfertige Entgegnung auf Moons Bemerkung einfallen. Doch leider w�rde der Augenblick dann Vergangenheit sein und ihm selbst nichts anderes �brigbleiben, als sich zur Seite zu drehen und auf angenehme Tr�ume zu hoffen.

Jetzt hingegen schien Moon aufgeregt. �Haben Sie die Blume unter dem Kreuz wiedererkannt?�

�Schien mir ziemlich nichtssagend.�

�Das gleiche Symbol fiel uns am Wohnwagen des Fliegenmenschen auf!�

Merryweather hob die Schultern. �Zufall?� Er blickte um sich. ��brigens, vergessen Sie nicht jemanden?�

�Wen?�

Er grinste. �Den Schlafwandler.�


Bedauernd stellte Mister Skimpole seine vierte leere Teetasse hin; es ging ihm durch den Sinn, dass das leise Klingeln, wenn sie in die daf�r vorgesehene Vertiefung auf der Untertasse glitt, eine der kleinen, aber vollkommensten Freuden des Lebens war. Das Ger�usch hatte etwas unfassbar Wohltuendes an sich, etwas Beruhigendes, Warmes und sehr Britisches. �Sind Sie ganz sicher, dass Sie nicht sagen k�nnen, wann er zur�ckkommt?�

Bei der Frage versp�rte Mrs Grossmith den v�llig uncharakteristischen Drang, ihre geballte Wut und Ohnmacht in einem gellenden, schrillen Schrei loszulassen – einerseits verursacht durch die verfluchte Hartn�ckigkeit des Albinos, doch zum gr��ten Teil durch die lebenslang aufgestaute, beflissene Willf�hrigkeit gegen�ber den Marotten von M�nnern, die einem die Galle hochkommen lie�en. Doch sie hielt sich zur�ck. �Nein�, sagte sie und gab sich M�he, ihren �rger nicht zu zeigen. �Ich habe keine Ahnung, wo er ist und wann er heimkommt. Mister Moon ist durchaus f�hig, ohne Vorwarnung tage‐ und sogar wochenlang am St�ck zu verschwinden. Einmal, als er diese Crookback‐Angelegenheit untersuchte, blieb er f�r den Gro�teil eines Jahres weg.�

Nach den unerfreulichen Vorf�llen im Direktorium am Vormittag hatte Skimpole mit Moon sprechen wollen und ihn nicht angetroffen. Es war zu Zeiten wie diesen, dass er sein Versprechen, sich im Hintergrund zu halten, bereute.

�Noch Tee?�, fragte Mrs Grossmith und w�nschte insgeheim, der Mann w�rde ablehnen.

Das tat Skimpole mit einer Handbewegung, und die Erleichterung dar�ber zeigte sich umgehend in Mrs Grossmiths Gesicht.

�Ich bin schon l�nger hier als erw�nscht, nicht wahr?�

�Keineswegs.� Ihr L�cheln wirkte angestrengt, war aber noch vorhanden. Seltsam, dass es eine Zeit gegeben hatte, da ihr dieser Mann als bedrohlich erschienen war …

Mit einem aufreizend tiefem Seufzer lie� sich der Albino in seinem Sessel zur�cksinken. �Wenn ich es recht �berlege�, sagte er, �w�re mir eine weitere Tasse gar nicht unlieb. Falls m�glich …�

�Nat�rlich�, sagte Mrs Grossmith gottergeben.

W�hrend sich die Haush�lterin am Teekessel zu schaffen machte, murmelte Skimpole: �Ich w�re heute fast gestorben.�

�Wie bitte?�, fragte sie merklich unbeteiligt. �Was sagten Sie gerade?�

Bevor Skimpole antworten konnte, spazierte Arthur Barge ins Zimmer. �Immer noch da?�

�Wie Sie sehen.�

�Wissen Sie, es ist nur so, dass ich vorhatte, mit Mrs Grossmith auszugehen. Eine kleine Einladung. Ich sch�tze, die hat sie sich verdient. Sie sind ein Mann von Welt, so wie ich, Mister Skimpole, ich bin sicher, Sie verstehen, was ich meine.�

�Nicht ganz, nein.�

�Wei� der Himmel, ob Mister Moon heute Nacht noch heimkommt. An Ihrer Stelle w�rde ich nach Hause gehen.�

Widerwillig erhob sich Skimpole vom Sessel. �Also gut, dann gehe ich.�

�Ich werde ihm sagen, dass Sie hier waren, Sir, darauf k�nnen Sie sich verlassen�, versicherte ihm Mrs Grossmith.

�Ich komme gleich am Morgen wieder. Es ist unbedingt erforderlich, dass ich mit ihm spreche.�

Barge geleitete den Gast zur T�r. �Dann sehen wir uns also morgen, Sir, es wird mich sehr freuen.�

Kaum hatte der Albino den Raum verlassen und die T�r hinter sich zugemacht, war die Luft schon erf�llt vom br�nstigen Gurren der Wollust und den schrillen, fast wimmernden Lauten des Sinnenrausches – den f�r Skimpoles Ohren so unangenehmen Ger�uschen sp�ter Leidenschaft. Er verdrehte die Augen und machte sich auf den Heimweg.

Und daheim war er, wie es nun einmal so geht, in Wimbledon – eine Stunde und Welten entfernt von der goldgerahmten Behaglichkeit von Moons Hotel.

Im Unterschied zu Mister Dedlock hatte sich Skimpole nie eingebildet, ein faszinierender oder m�chtiger Mann zu sein. Dedlock legte Wert auf vornehmes Auftreten und darauf, seine Arbeit als etwas Einzigartiges und atemberaubend Spannendes darzustellen; Skimpole hingegen reichte es – ja, es machte ihn stolz –, als das angesehen zu werden, was er war: ein Mann im Dienste der Allgemeinheit, ein Beamter – und ein verdammt guter dazu. Sein Kollege stolzierte so gro�spurig durch die Welt, als w�re er ihr Mittelpunkt, doch Skimpole war immer schon mit seinem Leben stiller Pflichterf�llung und Routine zufrieden gewesen. Dass diese Pflichterf�llung und Routine des �fteren aus Brandstiftung, Erpressung, Bespitzelung und Mord unter staatlicher Schirmherrschaft bestand, schien ihm nie aufzufallen.

Der �ffentliche Dienst bot ihm eine ansehnliche, wenngleich keineswegs gro�z�gige Besoldung, und so hatte sich Skimpole in der Lage befunden, ein bescheidenes Reihenhaus anzuschaffen, nicht weiter als einen H�userblock vom Park entfernt. Und eine Stunde, nachdem er Mrs Grossmith in den Armen ihres Verehrers zur�ckgelassen hatte, sperrte Skimpole die Eingangst�r auf, wobei er unter dem Get�se, das aus dem Nebenhaus drang, den Kopf einzog. Die Mauern waren d�nn, und Skimpoles Nachbarn waren gr�lenden Zusammenk�nften und volkst�mlicher Musik weitaus inniger zugetan als er.

In seinem eigenen Haus �bert�nten andere, angenehmere Willkommensger�usche den L�rm von nebenan: ein beharrliches Tap‐tap, ein metallisches Klingeln und dazu das Pfeifen und Keuchen unregelm��iger, schwerer Atemz�ge.

Skimpole h�ngte den Hut an den Haken; zum ersten Mal an diesem Tag hatte er tats�chlich ein L�cheln auf den Lippen. Ein strohblonder Junge von acht oder neun Jahren, kr�nklich und blass aussehend, schleppte sich auf ihn zu. Sein Vorankommen wurde stark behindert von den metallenen Klammern und Schienen, die seine Beine wie eine Panzerung umschlossen, und von den beiden schweren h�lzernen Kr�cken, auf die er sich st�tzte.

�Papi!�, rief er kl�glich aus; von der Anstrengung war seine Stimme zittrig und heiser. Er blieb stehen, hustete mitleiderregend kraftlos und schwankte, aus dem Gleichgewicht gebracht, unsicher auf den zerschundenen Beinen. Der Albino beugte sich hinab, um den Jungen festzuhalten, und k�sste ihn z�rtlich auf die Stirn.

�Hallo�, sagte er leise. �Tut mir leid, dass es so sp�t wurde.� Er nahm den Kneifer von der Nase und steckte ihn in die Jackentasche.

�Du hast mir so gefehlt�, murmelte der Junge.

�Aber jetzt bin ich ja da�, sagte sein Vater und richtete sich fr�hlich auf. �Hungrig?�

Der Junge lachte. �ja! Ja! Ja!�

Skimpole zauste ihm liebevoll das Haar und wollte sich gerade auf den Weg in die K�che machen, als er unvermutet von einem heftigen krampfartigen Schmerz in seinem Inneren �berfallen wurde – einem m�rderischen �tzenden Ausbruch unertr�glicher Pein, die ihm schier die Eingeweide zerrei�en wollte. Er biss sich fest auf die Unterlippe, um nicht laut aufzuschreien, w�hrend er sekundenlang die entsetzlichste H�llenqual seines ganzen Lebens durchlitt. Er dankte dem Himmel, als der Schmerz so rasch verschwand, wie er gekommen war.

Selbstverst�ndlich hegte er keinen Zweifel, was das zu bedeuten hatte. Das Gift hatte zu wirken begonnen.

Halb von Sinnen vor Kummer und Angst brach Mister Skimpole zu seiner eigenen �berraschung in Tr�nen aus. Gemartert von lautem Schluchzen stand er in der Diele seines mittelm��igen Heimes und vergoss hei�e, besch�mende Tr�nen, w�hrend sein Sohn in stummer Verwirrtheit zu ihm hochblickte.


Meyrick Owsley war mit sich zufrieden. Er hatte lange auf dies hier gewartet, hatte Tage und Stunden gez�hlt, hatte gebetet und den Moment herbeigesehnt. Monatelang hatte er ausgeharrt, und jetzt endlich war es soweit: Heute Abend w�rde er Barabbas zum letzten Mal lebend sehen.

�Sir?�

Der Koloss lag zusammengesunken und fast nackt in der Ecke seiner Zelle und suhlte sich in S�nde und Verworfenheit. Er hatte seinen heimlich gehorteten Schatz aus dem Versteck in der Mauer geholt und etwa ein Dutzend seiner Lieblingsst�cke vor sich ausgebreitet – darunter Ringe, M�nzen und Moons Krawattennadel. �Willst du nicht reinkommen?�, murrte er ohne auch nur den Kopf zu heben. �Ich bewundere nur meine Sammlung. Ein wenig Glanz, kleine Prisen Sch�nheit in einer Welt aus Elend und Leid.�

Owsley warf einen ver�chtlichen Blick auf das magere H�ufchen Tand. �Ich sorge daf�r, dass das alles nach deinem Tod wohlt�tigen Zwecken zugef�hrt wird.�

�Mein Tod. Ist er also gekommen?�

Owsley grinste. Pl�tzlich wirkte er hungrig und grausam; herabgerissen war die Maske der Unterw�rfigkeit. �Das k�nnte man so sagen.�


Ich f�rchte, ich k�nnte, was Mister Owsley betrifft, nicht ganz aufrichtig gewesen sein …


Barabbas schien die Ver�nderung an seinem J�nger nicht wahrgenommen zu haben. �Wann?�, fl�sterte er.

Owsley fuhr sich mit der Zunge �ber die Lippen. �Jetzt.�

Der Gefangene machte keinen Versuch zur�ckzuweichen, sondern schob sich vielmehr nach vorne und scharrte �ber den Boden, um seine Kostbarkeiten einzusammeln. Dann presste er sie an die Fettw�lste seiner Brust, die sich m�hsam hob und senkte. �Also bist du es?�, fragte er, obwohl er die Antwort schon kannte.

�Ich, jawohl�, fauchte Owsley. �Und ich war es immer!� Er beugte sich �ber Barabbas, umwabert von scheu�licher, schwarzer B�sartigkeit. �Du h�ttest unser Angebot annehmen sollen! Du h�ttest den Himmel auf Erden haben k�nnen. Stattdessen hast du dich f�r das hier entschieden.�

�Ich habe meine Prinzipien�, murmelte Barabbas. Fast im Plauderton f�gte er hinzu: �Darf ich dich etwas fragen?�

�Meinetwegen.�

�Warum jetzt? Ich hatte gehofft, noch mitzuerleben, wie alles ausgeht.�

�Du h�ttest ihm nie dieses Buch geben d�rfen.�

�Edward wird dahinterkommen. Seine F�higkeiten reichen fast an meine heran.�

Owsley lachte auf. Er zog ein langes d�nnes Skalpell aus der Jackentasche – ein leidenschaftsloses, t�ckisches Pr�zisionswerkzeug des Todes. �Deine Bestrafung wurde festgesetzt�, knurrte er, die Dramatik des Augenblicks auskostend. �Und sie lautet auf Tod.�

Der Gefangene g�hnte und bewegte tr�ge eine feiste Hand. �Dann fang an mit …�, begann er, doch noch ehe er den Satz beenden konnte, stie� ihm Owsley mit wonnig zuckendem Gesicht das Messer tief in den fetten Leib.

Ein leises, nasses Blubbern entrang sich der Kehle seines Opfers. Owsley drehte die Klinge im Fleisch, zog sie heraus und stie� von neuem zu. Barabbas st�hnte auf; ein blutiges Rinnsal drang ihm wie Lava aus dem Mund, f�rbte seine Lippen und Z�hne dunkelrot und spritzte ihm �bers Kinn.

Immer noch am Leben fl�sterte er seinem J�nger etwas zu, das f�r Owsley selbst w�hrend all der zahllosen Male, die er diese Szene geprobt und im Geist durchgespielt hatte, nicht vorherzusehen war: �K�ss mich!�

Meyrick Owsley hatte noch nie zuvor einen Menschen get�tet. Die �berm�chtigkeit dieses Gef�hls drohte ihn zu erdr�cken; er war gefangen in der trunkenen Erregung seiner eigenen Verwandlung, wie besessen von der erhebenden S�ndhaftigkeit seiner Tat. Zweifellos war es all dem zuzuschreiben, dass er sich in Sicherheit wiegte, dass er sich f�r unverwundbar hielt, als er sich vorbeugte, um Barabbas auf den Mund zu k�ssen. Triumphierend, berauscht vom Mord, wollte er sich wieder aufrichten, als er sp�rte, wie der Sterbende sich bewegte. Mit einer gewaltigen Hand hielt Barabbas den Kopf seines einstigen Lakaien fest, mit der anderen griff er nach seinem Hort der Sch�nheit und zog Moons Krawattennadel hervor, die er in Erwartung dieses unvermeidlichen Augenblicks zugefeilt und gesch�rft hatte. Sein J�nger schlug um sich und wollte sich losrei�en, doch mit einem letzten Aufflackern von Kraft hob Barabbas die Nadel an Owsleys Kehle und zog sie erbarmungslos von einer Seite zur anderen. Zufrieden h�rte er, wie die Adern mit einem leisen platzenden Laut zersprangen, und schloss die Augen, bevor ein Schwall Blut auf sein eigenes Gesicht sprudelte.

Meyrick Owsley wollte vor Schmerz und hilfloser Wut aufschreien, brachte jedoch nur ein Gurgeln hervor. Er fiel auf den Mann, der sein Herr und Meister gewesen war, und so lagen sie beide in einer grausigen Umarmung da – zwei verschlissene Lumpenb�ndel, verschn�rt f�r den Gang in die Unterwelt.

Unmittelbar bevor er starb, versuchte Barabbas noch den Namen des Mannes zu fl�stern, den er liebte – ein Akt, der ihm stets als sehr passend f�r sein Ende erschienen war. Wann immer er sich seinen eigenen Tod vorgestellt hatte, war dieser stets von einem gewissen Grad an Pathos begleitet gewesen, um jene Art von einzigartiger und tragischer Szene entstehen zu lassen, die sp�ter einen K�nstler dazu inspirieren k�nnte, sein Atelier scharlachrot auszumalen oder ein, zwei Klagelieder zu verfassen. Doch als er nun dalag, an seinem eigenen Blut erstickte und das Leben mit entsetzlicher Geschwindigkeit aus seinem Leib tropfte, merkte er zu seiner gro�en Entt�uschung, dass er zum Sprechen bereits zu schwach war.

Und so starb der Unhold von Newgate still und stumm.


Merryweather und Moon trafen den Schlafwandler dort an, wo sie ihn zu allererst suchten – in der Schankstube des �Gew�rgten Bengels�. Das Wirtshaus hatte das Feuer �berlebt, doch gegen�ber stand noch das Theater als schwarzes, ausgebranntes Gerippe, ein trostloses Zeugnis f�r Moons Scheitern.

Der Detektiv bestellte seinem Freund einen Krug Milch und fragte so behutsam wie m�glich, warum er verschwunden war. Der Schlafwandler griff nach seiner Tafel.

SPEIGHT GESEEN

�Speight?� Merryweather blickte neugierig �ber Moons Schulter. �Den Landstreicher?�

Der Riese nickte.

�Und wie sah er aus?�, erkundigte sich Moon geistesabwesend.

ANZUG

�Er trug einen Anzug?�, fragte Moon zweifelnd.

SER SCHIK

�Bist du sicher?�

Der Schlafwandler nickte, sichtlich ungehalten.

BANK

�Er stand vor einer Bank?�, dr�ngte der Inspektor.

Der Schlafwandler sch�ttelte heftig den Kopf.

�Er arbeitet in einer Bank?�, fragte Moon ungl�ubig.

Dankbar nickte der Riese.

Merryweather schnaubte erbost. �L�cherlich.�

TARNUNG

�Tarnung?� Moon wollte soeben zu der Frage ansetzen, was der Freund damit meinte, als von drau�en die Stimme eines Zeitungsjungen hereindrang, der die Schlagzeilen ausrief.

Als er h�rte, wie sie lauteten, st�rmte Moon aus der Schenke und auf die Stra�e.

�Gr�sslicher Mord in Newgate!�, schrie der Junge wieder. �Der Unhold ist tot!�

Moon schnappte sich eine Zeitung und bl�tterte sie hastig durch. Als seine Freunde bei ihm angelangt waren, sahen sie, dass er dumpf in das Blatt starrte, wobei ihm Tr�nen in den Augenwinkeln standen. Diskret zogen sie sich ein wenig zur�ck.

Moon lie� die Zeitung auf das Stra�enpflaster fallen, wo sie in der Folge zertrampelt, zerrissen und durchn�sst zur Seite geschleudert wurde – ein winziges Teilchen im Strandgut der Stadt. Moon hingegen war mit einem Mal klar, dass die Kr�fte des Zufalls dabei waren, sich gegen ihn zu verschw�ren. Allein und reglos stand er da – und dann, zu seiner eigenen Verbl�ffung, musste er laut auflachen. Es lag keine Heiterkeit darin, kein wirklicher Frohsinn, doch angesichts all dessen, was passiert war, erschien es ihm als einzig richtige Reaktion. Der unparteiische Beobachter mochte es jedoch eher f�r das Betragen eines Mannes halten, dessen klarer Verstand, ausged�rrt wie sonnenverbrannter Lehm, schlie�lich Risse bekam.


W�hrend all dessen schl�ft der alte Mann unter der Stadt.

Vielleicht sagt ihm ein Rest seines Bewusstseins, dass in den Stra�en da oben Ver�nderungen stattfinden, dass die Geschehnisse auf ihren unvermeidbaren H�hepunkt zusteuern. Vielleicht wei� er sogar, dass er sich bald aus seinem Schlummer erheben und der wachen Welt gegen�bertreten muss. Doch f�r den Augenblick bleibt er noch tief versunken in seinen Tr�umen.

Zuerst ist er wieder ein junger Mann – in der Gesellschaft von Freunden, lange bevor einer von ihnen mit der harschen Wirklichkeit des Lebens in Ber�hrung gekommen ist. Southey ist bei ihm – der liebe, gute Southey –, zu einer Zeit, die vor seinem Verrat und den darauffolgenden Fehden liegt. Es sind ernste Gespr�che, die die Freunde f�hren, vielleicht etwas zu steif, aber typisch f�r ihre damalige Art.

Der alte Mann seufzt und bewegt sich, unangenehm ber�hrt, im Schlaf; er erinnert sich an gl�cklichere Zeiten.

Die jungen M�nner reden �ber ihre Hoffnungen und Ziele, �ber das gro�e Experiment. Southey spricht schw�rmerisch von einer Bruderschaft, von ihren Pl�nen, auszubrechen und sich zu vervollkommnen.

Der Tr�umer sieht sich selbst lebhaft und mit blitzenden Augen sprechen – �ber Dichtung und Metaphysik und die dringende Notwendigkeit einer besseren Welt.

Susquehanna. Das Wort taucht ohne Vorwarnung auf. Es hat keine Bedeutung f�r ihn, aber der Klang, der angenehme Rhythmus gefallen ihm. Und so wiederholt er es bei sich: Susquehanna.

Dann erscheint Edith neben Southey und unterbricht mit Kuchen und Wein das Gespr�ch; der alte Mann sieht, dass die Kluft zwischen ihnen beiden sich bereits weitet. Sara streift im Vorbeigehen an ihn, und er wird abgelenkt. Der Traum verlagert sich wieder.

Jetzt ist er alt, und seine Freundschaften sind verdorrt wie Beeren an einer trockenen Ranke. Die Kompromisse des Alters haben die klare Sicht seiner Jugend tr�be und unscharf gemacht. Jetzt ist er ein ganz anderer Mann, ein Mann, den die Klauen der Armut fest in ihrem Griff haben; und er wird gequ�lt von einem �blen Verlangen. Mit nacktem Oberk�rper, die Hosen bis unter die Knie hinabgezogen, sitzt er auf einem Abort, presst, angestrengt und �chzend, ganz krank von dem Wissen, dass er sich diese Plage, diesen hartn�ckigen Widerstand seiner Eingeweide, selbst zugef�gt hat – dass er die alleinige Schuld an seinem Zustand tr�gt. �Mein K�rper ist �bergeschnappt�, schreibt er, aber diese Zerr�ttung ist das Ergebnis einer Vorliebe f�r Medizin, Folge einer Torheit: der n�rrischen Leidenschaft f�r eine treulose Geliebte, in deren Bann er sich zu lange befand. Er murmelt vor sich hin, w�hrend er dasitzt, entw�rdigend gekr�mmt, und presst und dr�ckt.

Schlie�lich kehrt er in die Mansarde in Highgate zur�ck, zu Gillman und dem Jungen. Ned ist da, jetzt nicht mehr so jung. Er streckt die Hand aus, und der alte Mann, fiebrig und dem Tode nahe, ergreift sie. Er ersucht Gillman, sie beide allein zu lassen, und der Arzt respektiert den Wunsch seines Patienten und gehorcht.

Jetzt, da ihm der Tod durch die Augen des Alten entgegenblickt, scheint Ned keine Angst mehr vor ihm zu haben. Er m�chte dem Jungen erkl�ren, wie viel er ihm bedeutet, will ihm sagen, dass er ihn wieder zum Leben erweckt und seine Tr�ume neu entfacht hat. Doch – �berraschend f�r jemanden, der stets so redegewandt gewesen war – er kann die rechten Worte nicht finden. Er stottert eine Weile herum und begn�gt sich dann damit, die hingehaltene Hand zu dr�cken; aber er ist sicher, dass der Junge – dieser besondere, auserw�hlte Junge – es wei�. Der Alte wird ihm ein Verm�chtnis hinterlassen; Ned soll sein Nachfolger werden, sein Erbe. Er dr�ckt die Hand und blinzelt ein paar letzte Tr�nen weg.

Im Schlaf ringt er nach Luft, w�lzt sich unruhig auf seiner eisernen Liege und wei�, dass das Ende nahe ist.

W�re er in der Lage, den Ablauf der Zeit wahrzunehmen, die genaue Chronologie seiner Gefangenschaft, dann w�re er vielleicht daran interessiert zu erfahren, wie lange genau es noch dauert, bis er erwacht.


Aber Ihnen traue ich das zu. Sie haben es sich mittlerweile zusammengereimt, da bin ich ganz sicher.

Vier Tage. Vier Tage, bis der Traum zu Ende ist, der alte Mann erwacht und die Stadt f�llt.


VIERZEHN

Berufsm��ige Gehsteigmaler sind eine moderne Erscheinung. In London entstanden sie, als die H�ter der Gassen und Stra�en der Stadt die Wirtschaftlichkeit von Asphalt der aufwendigen Umst�ndlichkeit einer Pflasterung vorzuziehen begannen. Zur Zeit von Moons letztem Fall hatte das holprige, ruppige Gepr�ge der alten Stra�en schon der makellosen Gl�tte des neuen Jahrhunderts Platz gemacht. Als Folge dessen hatte die Stadt eine unwillkommene Vermehrung von Landstreichern und abgerissenen Hungerleidern erlebt, die sich als Stra�enk�nstler bet�tigten. Eine besonders unangenehme Sorte von ihnen war unter der Bezeichnung �Schmierer� bekannt – Almosen heischende Leute, die kaum mehr waren als Bettler; ohne dieses Quentchen k�nstlerische Begabung h�tten sie zweifellos Z�ndh�lzer verkauft oder mit dem Hut in der ausgestreckten Hand Passanten bel�stigt.

Am Tage nach Barabbas’ Tod k�mpfte sich Mister Dedlock durch die Menschenmenge, die aus unerfindlichem Grund diesen Morgen gew�hlt hatte, um sich auf den Stra�en von Limehouse zusammenzurotten und ihm im Weg zu sein. Sie stie�en, schubsten und rempelten wie eine fern�stliche Fu�ballmannschaft, die sich nach dem Spiel um die Theke einer Schenke dr�ngte. Es musste sich wohl um einen religi�sen Feiertag handeln, ging es Dedlock durch den Kopf, um irgendein heidnisches Fest, das diese l�stigen, �rgerlichen Unannehmlichkeiten zeitigte. Als er endlich den wohlbekannten Laden erblickte, musste er verschwitzt und mit pfeifendem Atem innehalten, um wieder Luft zu bekommen. Seine Triumphe auf dem Rugbyfeld lagen immerhin Jahre hinter ihm; diese Welt geh�rte jetzt schlankeren, j�ngeren M�nnern, die in besserer k�rperlicher Verfassung waren als er.

Ein Schmierer hockte ein paar Schritte von der T�r des Metzgerladens entfernt auf dem B�rgersteig. Er war in geradezu groteskem Ma�e ungepflegt und hatte sein Kunstwerk halbherzig mit Kreide vor sich hingekritzelt. Dedlock schritt an ihm vorbei, entschlossen, dem Mann nicht den leisesten Funken von Beachtung zu schenken. Doch als er einen Seitenblick auf das Erzeugnis des Schmierers warf, stach ihm etwas ins Auge – ein Wort, das ihn auf der Stelle erstarren lie�:

Dedlock.

Der genannte Herr r�mpfte die Nase bei dem Geruch, der von dem Schmierer aufstieg. �Kennen wir uns?�

�Gefahr!�, zischte der Bettler. �Gefahr!�

�Gefahr? Welche Gefahr?�

�Gefahr.�

�Sie sind betrunken�, stellte Dedlock von oben herab fest.

�Erkennen Sie mich nicht, Sir?�

Dedlock schnaubte ver�chtlich und wollte sich gerade wieder in Bewegung setzen, als irgendetwas an diesem Individuum noch einmal seinen Blick auf sich zog. Er sah genauer hin. �Grischenko? Sind Sie es?�

Der Schmierer nickte etwas verlegen.

�Was, zum Teufel, tun Sie hier?�

�Gefahr�, wiederholte er feierlich. �Gefahr.�

�Das sagten Sie schon.�

�Gefahr.�

Dedlock verdrehte die Augen. �Wischen Sie sich den Dreck vom Gesicht und kommen Sie mit. Sie k�nnen mir das alles genausogut drinnen erz�hlen.�

Der Mann rappelte sich hoch und folgte Dedlock, der gro�spurig wie immer den Laden betrat.

Mister Skimpole wartete bereits missmutig und nerv�s auf seinem Stuhl am gro�en runden Tisch. In Anbetracht der auch sonst stets leichenblassen Hautfarbe des Albinos war es schwer zu beurteilen, aber Dedlock fand, dass er heute ganz besonders ungesund aussah.

Beim Eintreten seines Kollegen scheuchte Skimpole eine Schar als Chinesen verkleidete Beamte weg, die ihn umdr�ngt und ihm �bereifrig Berichte hingehalten hatten, die gelesen werden mussten, Briefe, die unterzeichnet, und Pl�ne f�r Komplotte und Intrigen, die genehmigt werden mussten.

�Wer ist denn das?�, fragte er und starrte den Schmierer entgeistert an. Seine Stimme war in lichte H�hen geklettert wie die eines Mannes, dessen Scho�hund soeben etwas von der Fauna des Waldes in den Salon geschleppt hatte, wo es nun zwar tot, aber immer noch blutend dalag.

�Das ist Mister Grischenko�, erkl�rte Dedlock, und der Zerlumpte nickte zerstreut dazu. Er wirkte kribbelig und hinterh�ltig und blickte sich immerzu um, als h�tte er schreckliche Angst vor irgendeiner heimlichen Bedrohung, die knapp au�erhalb seines Gesichtsfelds lauerte.

�Einer von den deinen?�, fragte Skimpole mit vernichtendem Blick.

Aber der Mann mit der Narbe dachte nicht daran, sich zu rechtfertigen. �Einer von meinen.�

�Und wer?�

Dedlock senkte die Stimme zu einem dramatischen Fl�stern: �Er ist unser Mann bei den Russen. Ein Doppelagent.�

�Was um Himmels willen macht er hier? Ich hatte gehofft, dass du nach dem Slattery‐Fiasko in solchen Dingen vorsichtiger w�rst!�

�Ich glaube, er hat Informationen f�r uns.� Dedlock zeigte auf einen Stuhl und bellte: �Setzen Sie sich hin!�

Immer noch japsend vor Nervosit�t, tat Grischenko wie gehei�en; seine Tarnung als zerlumpter Stromer hatte er teilweise abgelegt.

�Warum sind Sie hier?�, fuhr Dedlock ihn an. �Und warum in dieser albernen Maskierung?�

Grischenko sprach sorgf�ltig, langsam, umst�ndlich und mit einem starken Akzent. �Ich muss Sie �beraus eindringlich warnen�, begann er. �Ich komme hierher in dieser hervorragenden Verkleidung, weil die M�nner, die mir nachsp�ren, sie sind gef�hrlich. Es ist h�chst wahrscheinlich, dass sie uns beobachten selbst in diesem Moment! Ich konnte mir nicht gestatten, als Grischenko aufzutreten. Sie verstehen?�

Dedlock verschr�nkte die Arme. �Sie sind hier v�llig sicher, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Und ich nehme an, dass Mister Skimpole und ich durchaus in der Lage sind, es mit jedem Abschaum aufzunehmen, den Ihre Leute nach uns werfen k�nnten.�

�Nein, nein!� Grischenko schien pl�tzlich mit Leben erf�llt. �Nat�rlich ich verstehe, dass meine Landsleute nicht M�nnern Angst machen w�rden, welche so k�hn und tapfer sind wie Sie beide. Aber es sind nicht meine Leute, welche mich verfolgen. Nicht Russen. Nein, meine Herren, Sie kennen diese Leute nicht, obwohl ich vermute, ihre T�tigkeiten sind Ihnen nicht verborgen geblieben. M�chtige Leute, meine Herren. Sehr m�chtig. Seit langem haben sie sich gegen die Stadt verschworen. Jetzt wissen Sie, von wem ich spreche, nicht wahr?�

�Vielleicht�, sagte Skimpole gelassen.

�Es sind uns gewisse Ger�chte zu Ohren gekommen�, sagte Dedlock, anders als sein Partner, frei heraus, �und wir w�ren f�r jede Information dankbar, die Sie uns anbieten k�nnten. Das Direktorium ist ein starker Verb�ndeter, wir k�nnen f�r Ihre Sicherheit garantieren. Wer sind diese Leute? Wie nennen sie sich?�

�Wir haben keinen Namen, Sir, aber ich bin der �berzeugung, diese Personen kennen keine Skrupel. Sie haben den Iren Slattery gedungen, um Ihnen Einhalt zu gebieten. Er versagte, ich wei�, aber man wird nicht z�gern, es noch einmal zu versuchen. Diese Leute werden nicht innehalten, ehe das Direktorium zu Fall gebracht ist!�

�Wie wollen Sie das wissen?�

�Mister Dedlock�, zischte der Russe, �ich wei� es, weil sie versucht haben, auch mich umzudrehen!�

�Sie?�

�Mich�, wiederholte Grischenko mit einer Spur von Stolz in der Stimme. �Ich widerstand nat�rlich. Ich schleuderte ihnen ihr schamloses Angebot ins Gesicht! Ich bin ein Mensch mit Grunds�tzen.�

�Aber selbstredend.�

�Und es gibt noch etwas.�

Dedlock bedeutete ihm mit einer Handbewegung fortzufahren.

�Bei mir es ist ihnen nicht gelungen, bei einem anderen Mann waren sie jedoch erfolgreich. Bei einem alten Kollegen von mir.�

�Was meinen Sie damit?�

�Es gibt einen Schl�fer.�

�Einen Schl�fer?�

�Unseren unfehlbarsten, t�dlichsten. Und dieser Mann, dieser Auftragsm�rder, ein Mann, den wir selbst vor vielen Jahren in dieses Land eingeschleust haben – er ist nun f�r jene Sache angeworben worden.�

�Und wer ist das?�, fuhr Dedlock ihn an. �Sagen Sie schon, wie er hei�t!�

�Er tritt unter vielen Namen auf�, antwortete der Russe unschl�ssig. �Sein wahrer Name ist verlorengegangen.�

Dedlock runzelte die Stirn.

Grischenkos Miene hingegen hellte sich auf. �Aber er besitzt einen Decknamen.�

�Und der w�re?�

Grischenko murmelte etwas, das klang wie: �Der Mongoz.�

�Der Mongoz?�, wiederholte Skimpole ungl�ubig.

Dedlock unterdr�ckte ein Kichern. �›Mongoz‹ wie der Halbaffe?�

Der Russe hob die Schultern. �Die Namen gingen uns aus.�

�Sagt mir jedenfalls nichts�, schnaubte Dedlock.

�Er hat schon viele Dutzend Menschen umgebracht und noch nie versagt. Er ist das Schlimmste, was das Menschengeschlecht je hervorgebracht hat, Mister Dedlock. Bitte, meine Herren, dar�ber m�ssen Sie sich v�llig im Klaren sein: Er hat es auf Sie beide abgesehen. Er wird kommen.�

�Er wird kommen?�, echote Skimpole.

Grischenko nickte langsam und d�ster. �Wie der bleiche Sensenmann�, murmelte Grischenko, �auf seinem schaurigen Klepper.�

Skimpole versp�rte ein Schaudern.

Grischenko rappelte sich auf. �Ich muss gehen�, stie� er hervor, zog seine Verkleidung zurecht und wollte sich davonmachen.

�Warten Sie!�, rief der Albino, aber Grischenko blieb nur kurz stehen und sagte: �Seien Sie wachsam. Versprechen Sie es mir, meine Herren. Seien Sie wachsam.�

Und mit diesem letzten knappen Ratschlag verschwand er im Aufzug.

�Wir h�tten ihn zur�ckhalten m�ssen!�, wetterte Skimpole, �Und mitnehmen sollen. Zu einem ordentlichen Verh�r.�

�Lass ihn gehen. Er hat uns alles gesagt, was er wei�.�

�Du glaubst ihm?�

�Er hat doch wohl sein Leben riskiert, um uns zu warnen. Ehrlich gesagt, ich glaube, wir sollten uns auf das Schlimmste gefasst machen.�

�Wer sind diese Leute?�, fragte Skimpole ver�rgert. �Was wollen sie? Lieber Himmel, h�tten wir blo� die Bagshaw nicht verloren!�

�Du siehst nicht gut aus. Geh nach Hause. Ich halte dich �ber alle Entwicklungen auf dem laufenden.�

�Ich w�rde lieber bleiben.�

�Du gehst�, beharrte Dedlock nicht unfreundlich. �Aber sei vorsichtig. Wir sollten beide auf der Hut sein; wie es aussieht, befindet sich das Direktorium ab sofort im Belagerungszustand.�


Der �Gew�rgte Bengel� �ffnete schon fr�h am Morgen seine Tore. Selbst als Edward und Charlotte Moon kurz nach zehn eintraten, waren sie keineswegs die ersten G�ste des Tages; diese zweifelhafte Ehre konnten jene Stammkunden f�r sich verbuchen, die schon jetzt vor ihrem zweiten oder dritten Glas sa�en. Charlotte war unangenehm ber�hrt von dem scharfen Geruch nach Bier und M�nnlichkeit, der ihnen bei ihrem Eintritt entgegenschlug, aber Moon schien das nicht zu bemerken. Er schob seine Schwester auf einen wackeligen Stuhl und bestellte die Getr�nke.

�Hast du gesehen, wie sie unsere alte Bleibe wieder aufbauen?�, fragte Moon, als er sich neben sie setzte.

Charlotte sah aus dem Fenster hin�ber zu dem ausgebrannten Gerippe des Theaters, wo Schw�rme von Arbeitern auf den Bauger�sten herumkrabbelten wie Schmei�fliegen auf einer Leiche.

�Das passt mir gar nicht recht, Edward�, sagte Charlotte. �Ich dachte, wir h�tten uns geeinigt, einander eine Zeit lang nicht zu sehen.�

�Es ist ein Notfall.�

�Aber ich bin sehr besch�ftigt!�

�Womit? Warten denn so viele weitere Entlarvungen auf dich?�, fragte Moon.

�Wir haben ein Medium in Bermondsey, eine Frau, die imstande sein will, Haushaltsgegenst�nde mit der Kraft ihrer Gedanken zu bewegen und Verstorbene in ihrem Wohnzimmer erscheinen zu lassen.�

�Und du glaubst, sie ist eine Schwindlerin?�

�Die Gegenst�nde h�ngen an F�den, und die Toten sind Komplizen in wei�en Laken und Verbandmull.�

�Charlotte, wenn ich etwas aus meinen j�ngsten Erfahrungen gewonnen habe, dann ist es die Einsicht, dass es ebenso gef�hrlich sein kann, nichts zu glauben, wie alles zu glauben!�

�H�r auf mit den Belehrungen und sag mir endlich, weshalb ich kommen sollte.�

Moon griff in seine Aktentasche und holte eine dick geschwollene Mappe mit Schriftst�cken heraus. Er schluckte etwas verlegen. �Ich muss dich um einen Gefallen bitten�, sagte er und zog ein B�ndel Papiere hervor, die er behutsam vor sich hinlegte. �Der Schlafwandler und ich sind nicht unt�tig gewesen. W�hrend du hinter zwielichtigen Tischer�ckern her warst, haben wir einen Fall verfolgt, der mich seit langem nicht mehr losl�sst.�

�Honeyman?�

�Du wei�t von seiner Mutter? Und von jener Philip Dunbars, des anderen Opfers des Fliegenmenschen? Sie sind beide verschwunden. Verschollen mitten in der Stadt, ohne die geringste Spur zu hinterlassen.�

�Immerzu verschwinden Leute spurlos�, warf Charlotte ein.

�Ich habe mittlerweile entdeckt, dass beide Frauen ma�gebliche Pers�nlichkeiten in einer kleinen, aber �u�erst wohlhabenden religi�sen Gruppierung namens ›Kirche des Sommerk�nigreichs‹ sind.�

�Von denen habe ich schon geh�rt.�

Moon war �berrascht. �Tats�chlich?�

�Alberner Name, aber soweit harmlos, scheint mir.� Sie unterbrach sich. �Du denkst da anders, nehme ich an.�

�Ich habe den Verdacht, dass sie nicht so menschenfreundlich sind, wie sie erscheinen wollen.�

�Wie kommst du darauf?�

�Zu viele auff�llige Zusammentreffen. Zu viele Verkettungen. Irgendwie stehen sie alle mit dem Fliegenmenschen in Verbindung, dessen bin ich ganz sicher. Das Emblem dieser Leute – eine schwarze Blume mit f�nf Bl�tenbl�ttern – war auf seinen Wohnwagen gemalt. Soweit ich es verstanden habe, ist es praktisch das Symbol dieser Kirche. Und Coleridge auch.�

�Coleridge?�

�Barabbas gab mir eine Ausgabe seiner Lyrischen Balladen. Diese Kirche – falls es sich �berhaupt um eine solche handelt – scheint sich um seine Vorstellungswelt zu drehen.�

Charlotte seufzte. �Edward�, sagte sie in einem Ton, in dem man zu einem geliebten alten Verwandten spricht, der, obwohl einst von wachem und scharfem Verstand, l�ngst in umnebelter Senilit�t versunken ist. �Du darfst kein Wort von dem glauben, was dieser Mensch dir erz�hlt! Nicht von ungef�hr nennt ihn die Presse den ›Unhold‹.�

Moon wurde aschfahl und sagte nichts darauf; Charlotte war froh �ber die Ablenkung, als ein M�dchen die Getr�nke brachte, die Gl�ser vor sie beide hinknallte und sich schwerf�llig wieder trollte.

�Du hast erw�hnt, dass du einen Gefallen von mir erwartest�, sagte sie, nachdem Moon einen st�rkenden Schluck genommen hatte.

�Ich habe die Nacht im Archiv verbracht.�

�Du verbringst dein halbes Leben dort.�

�Die Kirche des Sommerk�nigreichs ist eine der reichsten Organisationen in London.�

Charlotte sch�rzte die Lippen. �Ist das sicher?�

�Keine Frage. Die Leute dort verheimlichen das gut. Ich musste mich durch Berge von Papieren w�hlen, aber ich bin auf eine F�hrte gesto�en. Es brauchte nur jemanden, der hartn�ckig genug war, um sie bis zu ihrem Ursprung zu verfolgen.�

�Und was hast du herausgefunden?�

�Dass die Kirche fast g�nzlich von einer einzigen Gruppe finanziert wird. Einer Vereinigung namens … Love.�

�Love?� wiederholte Charlotte ungl�ubig.

�Bankiers und Makler. Allerlei Leute mit viel Geld. Schwerreich und mit gro�em Einfluss in der Stadt. Der ganze Name dieser Gruppe ist, du wirst es nicht glauben, Love, Love, Love und Love.�

�Klingt wie ein Scherz.�

Moon l�chelte nicht. �Der Schlafwandler und ich haben ihr B�ro besucht. Er kannte das Geb�ude, sagte, er habe Speight – ausgerechnet Speight! – hineingehen sehen, bekleidet mit einem noblen Anzug und in einer Haltung, als w�rde ihm das ganze Haus geh�ren.�

Charlotte lachte auf. �Er wird sich geirrt haben. Oder er war betrunken; eigentlich macht er den Eindruck, als w�re das durchaus denkbar.�

�Der Schlafwandler ist bei Weitem der vern�nftigste und besonnenste Mensch, den ich kenne. Au�erdem habe ich ihn noch nie etwas anderes als Milch trinken sehen.�

�Das R�tsel wird immer undurchdringlicher�, bemerkte sie. �Du musst entz�ckt sein.�

�Aber siehst du nicht auch, dass hier irgendetwas im Gange ist?�

Charlotte leerte ihr Glas und sprach wieder, diesmal ruhig und beherrscht. �Ich stimme dir zu. Das alles ist verd�chtig. Aber wie kann ich da helfen?�

�Ich habe dir eine Anstellung bei Love besorgt.�

�Ganz sch�n dreist von dir.�

�Verzeih mir. Aber die Zeit dr�ngt.�

�Wie ist dir das gelungen?�

�Skimpole. Das Direktorium hat seine n�tzliche Seite.�

Charlotte seufzte. �Und was soll ich also tun?�

�Du sollst dich bei Love einnisten und herausfinden, welche Verbindung zur Kirche besteht, was sie im Schilde f�hren.�

�Eine Aufgabe, die ja praktisch keinerlei Anforderungen stellt!�

�Du musst mir �ber alles Bericht erstatten, ganz gleichg�ltig, wie unwesentlich oder nicht zur Sache geh�rig es dir erscheint! Bitte, sei gewissenhaft, ich verlasse mich auf dich!�

�Und was hast du vor, w�hrend ich mit all dem besch�ftigt bin?�

�Der Schlafwandler und ich m�ssen einer anderen Spur folgen, aber sei versichert, ich passe auf dich auf.� Moon fischte eine Gesch�ftskarte aus seiner Jackentasche. �Hier ist die Adresse. Sei vorsichtig. Ich hoffe bei Gott, dass ich dich damit nicht in Gefahr bringe.�

�Gefahr? Was erwartest du denn?�

�Falls Madame Innocenti recht hatte, dann bleiben uns nur noch drei Tage.�

�Und du glaubst ihr?�

�Ich hoffe, ich irre mich, aber ich denke, wir fangen an, klarer zu sehen.�

�Du tust schon wieder so geheimnisvoll!� Charlottes Stimme klang �rgerlich.

�Ich wei�.� Er hob die Schultern. �So bin ich nun mal.�


Dedlock nahm eine Droschke in die Innenstadt und verlie� sie mitten im Getriebe am Piccadilly Circus, diesem Mekka f�r Schlemmer, Schlampen und Schweren�ter. Dedlock blieb nicht stehen, um sich die Freuden des Orts vor Augen zu f�hren, sondern steuerte auf die vornehme Ruhe des St.‐James‐Parks zu, in dessen N�he sich sein Klub befand, eine feudale Oase, nur wenige Sekunden vom Trubel der Stadt entfernt.

Seit Tagen herrschte im Direktorium eine Atmosph�re der Nervosit�t; ein fast greifbares Gef�hl von Bedrohung lag in der Luft. Der Zwischenfall mit Slattery hatte alle ersch�ttert – und die Aussage Grischenkos noch mehr. Dedlock hatte alle �Chinesen� entfernt, um sie nach dem Mackenzie‐Cooper‐Debakel eingehend auf Herz und Nieren pr�fen zu lassen.

Skimpole hatte sich f�r den Rest des Tages nach Hause verzogen, tr�bsinniger und be�ngstigender aussehend als je zuvor. Mit dem Albino war ganz offensichtlich etwas nicht in Ordnung, aber Dedlock war es in all den Jahren, die sie sich nun bereits kannten, schon immer schwergefallen, Mitgef�hl f�r den Mann aufzubringen; die ewig �berreizte Unruhe seines andauernd kr�nklichen Kollegen widerte ihn an.

Er bog von der Pall Mall in eine schmale Gasse ein und blieb bald vor einem Haus stehen. Ein Bronzeschild war neben der T�rglocke angebracht, auf dem in klaren schwarzen, schmucklosen Lettern stand:

KLUB DER �BERLEBENDEN
NUR F�R MITGLIEDER

Dedlock klingelte, und von drinnen n�herten sich humpelnde Schritte. Ein vom Alter gebeugter, verschrumpelter Mann �ffnete die T�r; seine gewaltigen wei�en Augenbrauen sahen aus wie stachlige Kaulquappen, die zu ihrer zehnfachen Normalgr��e angewachsen waren, und hingen bedenklich tief herab, wobei sie seltsame Schatten �ber sein Gesicht warfen. Er erkannte Dedlock auf den ersten Blick. �Wie sch�n, dass Sie uns wieder besuchen, Sir. Bitte treten Sie ein!�

Der vertraute Geruch umfing Dedlock gleich nach den ersten Schritten ins Innere des Hauses – ein unbestimmtes, wohltuendes Gemisch aus Whisky, Portwein, kaltem Tabakrauch, staubigen Teppichen und m�nnlicher Ausd�nstung.

�Es ist heute recht ruhig, Sir�, sagte der Mann mit den buschigen Brauen entschuldigend, als er Dedlocks Mantel �bernahm. �Sie sind noch ein wenig fr�h dran.�

�Nicht schlimm. Ich gehe gleich durch.�

�Wie Sie w�nschen, Sir.�

Dedlock spazierte �ber einen langen Gang in den letzten von vier offenen R�umen. �Abend!�, sagte er als Gru� an die Allgemeinheit, worauf ihm ein Chor aus Brummen und Murmeln antwortete; er stammte von dem halben Dutzend anwesenden Herren im Salon, die sich an ihren Zigaretten, Zigarren oder Pfeifen festhielten.

Dedlock lie� sich in seinem gewohnten Lehnsessel neben der T�r nieder. Ihm gegen�ber, versunken hinter der Gazette, sa� ein schlanker, gro�er Mann, gekleidet in einen Anzug und eigentlich v�llig unscheinbar, w�re da nicht der Umstand gewesen, dass ihm beide Beine fehlten und der unterste Teil seines Torsos nur mehr ein schlaffer Stumpf war, der kraftlos �ber die Kante des Stuhls hing.

Zu seiner Rechten sa� ein Mann, so gr�sslich entstellt, dass die meisten von uns bei seinem Anblick aufgeschrien oder kurz vor einer Ohnmacht gestanden h�tten. Dedlock hingegen nickte ihm mit der gleichen unbefangenen H�flichkeit zu, die er auch jedem anderen, leichter als menschliches Wesen erkennbaren Bekannten entgegengebracht h�tte – einem Freund, dem er auf der Stra�e begegnete, oder einem Arbeitskollegen an der Theke. Der Mann war ganz offensichtlich irgendwann das Opfer eines schrecklichen Feuers geworden; sein Gesicht war zur H�lfte verw�stet, die Kopfhaut und damit sein Haar zur G�nze verbrannt, die Haut bl�ulichrot verf�rbt. Zweifellos, dachte Dedlock, war der arme Kerl in der Welt da drau�en ein Objekt des Mitleids, aber ebenso zweifellos wurde er von den Kindern verspottet, wenn er seinen t�glichen Verrichtungen nachging, wurde angestarrt und ausgelacht, und man zeigte mit dem Finger auf ihn. Es h�tte Dedlock keineswegs �berrascht zu erfahren, dass selbst Marktweiber nicht vor lautstarken Zweifeln an seiner Manneskraft zur�ckschreckten, sobald er auch nur den Hut zum Gru�e hob. Aber hier, in diesem exklusivsten aller Klubs der Stadt, hier konnte dieser Mensch sich ohne Scheu und hocherhobenen Kopfes unter seinesgleichen entspannen. Und heute schien er eindeutig fr�hlich gestimmt, wie er so seine uralte Bruy�repfeife hielt und begeistert drauflospaffte.

Ein paar Schritt weiter sa� ein Mann mit Augenklappe und einem schartigen roten Loch dort, wo eigentlich seine Nase hingeh�rt h�tte; seinem Nachbarn fehlte ein halber Arm, und er neigte zu krampfhaften Anf�llen von heftigem Zittern und Beben. Direkt hinter den beiden fiel Dedlocks Blick auf einen knochigen Kerl, dessen Gesicht aussah wie das eines Hundes oder Dachses nach einer ganz besonders blutigen Rauferei.

Dedlock rutschte in seinem Lehnsessel hin und her; er f�hlte sich pl�tzlich nicht mehr wohl und irgendwie fehl am Platz. Also gab er dankbar der Versuchung nach, nahm die Krawatte ab, kn�pfte das Hemd auf und zog es aus, um die zwei spektakul�ren gekreuzten milchwei�en Narben auf seinem Oberk�rper zu enth�llen. Er lie� die Finger �ber die tiefen Furchen gleiten und strich �ber die altvertrauten Linien ihres Verlaufes. Der Mann mit der Pfeife blickte her�ber und nickte anerkennend.

Dedlock griff nach seinen Zigaretten und lehnte sich zur�ck, ein seltenes L�cheln der Zufriedenheit auf dem Gesicht. Endlich war er zu Hause.


Als er erwachte, war der Raum still, dunkel und leer. W�hrend er daranging, seine Gliedma�en zu einem ann�hernd wachen Bewusstseinszustand zu strecken, kam ihm als erstes die Frage in den Sinn, warum ihn der Alte mit den buschigen wei�en Brauen nicht geweckt hatte. Er f�hlte sich v�llig steif, und seine Gelenke schmerzten vom langen reglosen Sitzen. Er rieb sich die Augen und befasste sich gerade ernsthaft mit dem Gedanken, sich aus dem Lehnsessel hochzurappeln, als er das unbehagliche Gef�hl hatte, beobachtet zu werden.

�Ist da jemand?�, fragte er.

Seine Finger tappten nach dem Revolver, den er stets verborgen in seiner Weste trug, als ihm zu sp�t einfiel, dass er sich ja in seiner Solidarit�tsbezeugung f�r die anderen �berlebenden halbnackt ausgezogen hatte.

�Sie sind also wach�, sagte eine Stimme.

�Wer ist da?�, fragte Dedlock noch einmal.

Eine Gestalt bewegte sich auf ihn zu, und er vermeinte, zwei weitere Personen an ihrer Seite auszumachen.

�Wissen Sie, wer wir sind?�, fragte eine andere Stimme.

�Erraten Sie es?�, sagte eine dritte.

Alle drei M�nner sprachen mit unterschiedlichen, jedoch deutlich ausgepr�gten Akzenten. Gemeinsam waren sie unverkennbar.

�Ich wei�, wer ihr seid�, sagte Dedlock, w�hrend tausend Nadeln an seinem R�ckgrat auf und ab tanzten.

�Ich wette, Sie h�tten nicht gedacht, dass es uns wirklich gibt�, sagte der erste Mann.

�Ich wusste es.�

Einer von ihnen lachte, und die anderen stimmten ein.

�Mister Dedlock?�

Er schluckte hart, entschlossen, seine Furcht nicht zu zeigen. �Ja?�

�Uns sind gewisse Geschichten zu Ohren gekommen. �ber eine Verschw�rung, ein Komplott gegen die Stadt.�

Dedlock r�usperte sich und zwang sich, so gelassen und ruhig zu sprechen, als w�rde er einer der zahllosen Kommissionen oder Beh�rden, denen gegen�ber er rechenschaftspflichtig war, Bericht erstatten. �Das Direktorium wei� von einer Bedrohung f�r London. Einer unserer M�nner ist mit den Untersuchungen betraut – Edward Moon. Vielleicht haben Sie schon von ihm geh�rt.�

In der Dunkelheit sch�ttelten drei M�nner gleichzeitig den Kopf.

�Dedlock? Wir brauchen Gewissheit. Hat das etwas mit dem Geheimnis zu tun? Ist das Geheimnis keines mehr?�

Ein kaltes Schwei�b�chlein kroch an seinem R�cken hinab. �Das Geheimnis ist nach wie vor gewahrt.�

�Es ist Ihnen klar, was gesch�he, wenn es ans Licht k�me?�

Eine andere Stimme: �Im Vergleich dazu w�re dies hier ein Sturm im Wasserglas.�

Dedlock konnte nicht mehr feststellen, welcher der M�nner gerade sprach. �Ich verspreche Ihnen, das Geheimnis bleibt gewahrt. Nicht einmal Mister Skimpole kennt es.�

�Und es ist unerl�sslich, dass es so bleibt.�

�Sie haben mein Wort.�

Obwohl es stockdunkel war, hatte Dedlock das sichere Gef�hl, dass alle drei M�nner l�chelten – und dass ihr L�cheln kein wohlmeinendes war. �Dann m�ssen wir uns darauf verlassen.�

Ein knisterndes, klickendes Ger�usch, und die drei waren verschwunden. Seltsamerweise versp�rte Dedlock jetzt kein Verlangen mehr, sich aus dem Lehnsessel zu erheben. Vielmehr schlief er fast augenblicklich wieder ein, und die Begegnung verschmolz mit seinen Tr�umen.

Als er das n�chste Mal erwachte, sangen drau�en die V�gel.


Haben Sie Mitleid mit Mister Skimpole.

Eine merkw�rdige Bitte, ich wei�, wenn man von seinem bisherigen Verhalten als perfider Schuft ausgeht. Aber man m�sste ein Herz aus Stein haben, wenn er einem nicht leid t�te, wie er da ungl�cklich heim nach Wimbledon trottete. Seine Atemz�ge kamen rauh und unregelm��ig, und er wirkte unsicher auf den Beinen und schwankte hin und her wie ein Betrunkener, der sich einbildet, n�chtern zu sein. Die Aura eines Gescheiterten umgab ihn, des Schwergepr�ften, Todgeweihten.

Er schloss die T�r seines kleinen Hauses auf und wollte fast schon nach seinem Sohn rufen, als er sich erinnerte, dass heute ja ein Schultag war, dass er Unterricht hatte und – falls stimmte, was der Junge ihm erz�hlt hatte – dass das Kind gerade in dieser Minute das Ziel gefl�sterter Sticheleien und erbarmungslosen Spotts war. Da konnte der Albino mitf�hlen; seine eigene Schulzeit war eine einzige verschwommene Erinnerung an h�misches Grinsen, �belste Beschimpfungen und unerwartete Pr�gel auf dem Spielplatz – an all die gemeinen Dem�tigungen und endlosen Grausamkeiten der Kindheit.

Wie als Antwort auf diesen ungewollten R�ckblick versp�rte Skimpole ein neuerliches Bersten in seinem Magen, ein weiteres Aufwallen h�llischer Qual. Er taumelte zu einem Stuhl, schnappte keuchend und pfeifend nach Luft und zwang sich, ruhig zu bleiben und nicht daran zu denken, welche Bewandtnis es mit dieser Pein hatte. Aber er kannte die Bedeutung dieses schleimigen Zerrens in seinen Eingeweiden nur allzu gut – war sich von dem Moment an, als Slattery auf dem Boden des Direktoriums sein Leben ausgehaucht hatte, v�llig dar�ber im klaren gewesen. Die Zeit lief ihm davon – es blieben ihm nur mehr ein paar Tage –, und er war entschlossen, das Beste aus dieser Zeit zu machen, um etwas zu hinterlassen, auf das er stolz sein k�nnte.

Man wird sich an mich erinnern, entschied er mit verbissenem Gesicht, zu schwach, um sich zu bewegen, w�hrend das Blut durch seinen Kopf dr�hnte und der Schmerz wieder in ihm hochstieg. Man wird sich an mich erinnern.

Das war sein letzter Gedanke, bevor er in einen ersch�pften Schlaf glitt, eine gn�dige Erl�sung von der Qual. Er wachte auf, als sein Sohn in der T�r stand.

�Papi, was hast du denn?�

Mit einer gewaltigen Willensanstrengung richtete sich der Albino auf. �Nichts. Gar nichts habe ich. Bin blo� ein wenig eingenickt. Wie war es in der Schule?�

Der Junge wandte verlegen den Blick ab.

�Komm her.� Skimpole klopfte sich aufs Knie.

Sein Sohn hinkte durchs Zimmer und kletterte schwerf�llig auf Skimpoles Scho�. Das Kind war eigentlich schon zu gro� daf�r, aber dies war ein altes, hei�geliebtes Ritual, das leichtfertig aufzugeben beide nicht willens waren. Der Albino zog ihn eng an sich, und in dem Versuch, sich auch nicht den Hauch seiner eigenen Beschwerden anmerken zu lassen, begann er zu singen – ein vertrautes Schlaflied, seine Lieblingsmelodie aus der Kindheit. Der Junge lachte; in den sanften Kl�ngen der v�terlichen Stimme verloren sich all die scheu�lichen Qu�lereien des Schultags, und ein paar s��e, fl�chtige Momente lang l�chelte auch Skimpole selbst.


Sie werden sich erinnern, dass ich am Anfang dieser Erz�hlung versprochen habe, Ihnen an mancher Stelle der Geschichte eine schamlose L�ge aufzutischen. Ich will ehrlich sein und gestehen, dass genau dies ein solcher Zeitpunkt ist. Alles, was sie soeben �ber Mister Skimpole und sein verkr�ppeltes Kind gelesen haben, ist reine Erfindung.

Was f�r ein zartsinniger Gef�hlsmensch ich doch bin, nicht wahr?


Zur�ck zur Wahrheit.

Meistens schien der Schlafwandler keinerlei feste Nahrung zu ben�tigen; so etwas wie Tafelfreuden war ihm fremd, und manchmal gingen Tage oder sogar Wochen ins Land, ohne dass auch nur ein Kr�mel �ber seine Lippen kam. Doch bei den unregelm��igen Gelegenheiten, zu denen er offenbar doch f�r sein leibliches Wohl sorgen musste, pflegte er in vortrefflicher Art und Weise zu tafeln.

Sp�t am Morgen nach Barabbas’ Tod sa� er im Speisesaal des Hotels und genoss ein ausgiebiges Fr�hst�ck. Er schaufelte sich rosafarbene Speckstreifen zwischen die Z�hne, abgel�st von Eiern, Tomaten, Sardinen und getoastetem Brot, und schwemmte das alles mit Glas um Glas kalter Milch hinunter. Moon war noch nicht aufgetaucht, und der Schlafwandler war �bergl�cklich gewesen, auch seinen Platz leerzufuttern. Eine Reihe von G�sten, denen durch das ger�uschvolle Kauen des Riesen der Appetit vergangen war, hatten ihm ihre eigenen Teller �berlassen, auf denen sich immer noch die fettigen Reste eines meist kaum ber�hrten, vollst�ndigen englischen Fr�hst�cks t�rmten. Das hatte zur Folge, dass dem Schlafwandler alles in allem der gr��te Teil der Mahlzeiten von f�nf oder sechs Personen verg�nnt war. W�hrend ihn die Frage besch�ftigte, was wohl zu Mittag auf dem Speisezettel stand, winkte er einen Kellner zu sich. Z�gernd und mit hochn�siger Miene setzte sich der Mann in Bewegung.

NOCH MILCH

Mit jener Mischung aus Unlust und Arroganz, die britischen Kellnern so beispiellos zu eigen ist, verbeugte sich der Mann und verschwand – wobei es ihm gelang, selbst darin widerwillig zu wirken. Die noch verbliebenen G�ste verlie�en kurz darauf den Saal, nicht ohne im Vorbeigehen ein paar letzte Speckschnitten auf den Teller des Schlafwandlers gleiten zu lassen. Und da traf schlie�lich Moon ein, unertr�glich aufgeregt – so aufgeregt, dass ihm zur Erleichterung des Schlafwandlers entging, dass von seinem Fr�hst�ck nichts mehr �brig war.

�Komm rasch�, sagte er, ohne sich zu setzen, �wir haben eine Verabredung.�

Der Riese warf einen bedauernden Blick auf die Speckreste. Ohnehin fehlte es ihm an jeglicher Begeisterung f�r diese geheimnisvolle Verabredung, denn eigentlich hatte er mit dem Gedanken gespielt, ein, zwei Wochen Winterschlaf einzulegen.

Moon jedoch war unerbittlich. �Wir werden in Highgate erwartet.�

Der Schlafwandler zuckte die Achseln.

�Es ist wichtig. Ich glaube, wir sind nahe dran.�

Der H�ne schob den Teller von sich und stand auf.

�Braver Junge.�

Der Kellner kam mit einem gro�en Krug zur�ck. �Ihre Milch, Sir.�

Der Schlafwandler bedachte den Krug mit einem sehnsuchtsvollen Blick, aber Moon blieb hart.

Der Riese verzog das Gesicht, und Moon lenkte ein: �Dann nimm sie eben mit. Du kannst sie ja unterwegs trinken.�


Etwas mehr als eine Stunde sp�ter trafen sie in Highgate ein. Ihr Ziel war ein unscheinbares H�uschen, das etwas von der Stra�e zur�ckversetzt stand. Es befand sich auf einem Hang, der sehr steil, fast senkrecht verlief und der nur ein kleines St�ck von jener Stelle entfernt war, an der Whittington angesichts der erm�denden Steigung angeblich aufgegeben hatte und in die Stadt zur�ckgekehrt war.

WARUM?

fragte der Schlafwandler, w�hrend er sich nach Kr�ften bem�hte, die flockigen Milchflecken wegzuwischen, die wie erste Regentropfen im trockenen Stra�enstaub auf seinem Hemd erschienen waren.

�Coleridge lebte hier.�

Der Gesichtsausdruck des Riesen lie� deutlich erkennen, was er von der Tragweite dieses Umstands hielt. Und so deutete er erneut auf seine Tafel.

WARUM?

�Erinnerst du dich an das Buch, das Barabbas mir gegeben hat? In der Widmung stand ein Name. Gillman. Ich habe ein wenig nachgelesen und denke, er k�nnte versucht haben, uns hierher zu f�hren.�

Der Schlafwandler l�schte seine Frage und kritzelte eilig:

MISTER GOLERIGE IS TOD

�Und da soll ich mich nicht �ber deine Rechtschreibung aufregen!�, wetterte Moon.

Es sah ganz so aus, als w�rde der Riese jeden Moment die Faust erheben, und so beeilte sich Moon mit der Erkl�rung: �Ich glaube, dass Coleridge auf irgendeine Weise der eigentliche Kern der ganzen Sache ist.� Er wollte weitersprechen, doch da ging die T�r auf, und eine grauhaarige Frau guckte heraus.

�Mister Moon?�

�Miss Gillman? Es ist mir eine Ehre. Dies ist mein Assistent, der Schlafwandler.�

Der H�ne hob linkisch die Hand zu Gru�e, und die Frau nickte zur�ck. �Treten Sie ein. Tee und Kuchen warten schon.�

�Das trifft sich ausgezeichnet! Der Schlafwandler steht kurz vor dem Verhungern.�

Aber der Riese reagierte nicht. Einen kurzen Moment lang schob er die Aussicht auf Essen beiseite, denn er versp�rte die seltsame, unerkl�rliche Gewissheit, dass es hier war – hier, in diesem unauff�lligen H�uschen mit seinem leisen Duft nach Lavendel und Seife –, wo das Ende schlie�lich beginnen w�rde.


Mein lieber Edward!

Ich hoffe, dieser Brief findet tats�chlich seinen Weg in Deine H�nde. Infolge der Umst�nde, die ich sogleich schildern werde, sah ich mich nicht in der Lage, ihn pers�nlich zu �berbringen, und war gezwungen, diese Zeilen einem �Mittelsmann� anzuvertrauen – einer jungen Frau, deren Bekanntschaft ich hier gemacht habe. Vielleicht ist es schon der zaghafte Anfang einer Freundschaft oder sogar eines B�ndnisses; dennoch kann ich Dir ihren Namen nicht nennen. Auch daf�r werde ich den Grund in K�rze erkl�ren.

Nun also zu meinen ersten Eindr�cken von Love, Love, Love und Love (um der K�rze willen ab nun einfach Love genannt). Die letzten Stunden haben mich zu der Auffassung gebracht, dass dies – mit betr�chtlichem Vorsprung der absonderlichste Verein in ganz England sein muss. Ich bin jetzt �berzeugt davon, dass Dein Gef�hl Dir recht gibt: Irgendetwas hier scheint ganz und gar nicht zu stimmen! Doch wie auch immer sich das Bild darstellen mag, ich habe davon jedenfalls erst einen winzigen Ausschnitt zu Gesicht bekommen.

Ich glaube, Du hast erw�hnt, dass Du das Geb�ude kennst – diese gro�e, schwarze Festung nahe der Eastcheap‐Street, im Schatten des �Monuments�. Gar nicht weit davon befindet sich die Kirche St‑Dunstan‐in‐the‐East – ein zweitrangiger Wren‐Bau, aber dennoch von hervorstechender Sch�nheit. Wenn Du und Mister Cribb das n�chste Mal einen eurer historischen Spazierg�nge unternehmt, solltet ihr vorbeischauen und das selbst beurteilen. Hat der Schlafwandler eigentlich je den Grund f�r seine ablehnende Haltung gegen�ber Mister Cribb genannt? Meiner Meinung nach ist das alles sehr verd�chtig.

Ich bin von Love als B�rokraft mit einer Reihe untergeordneter Schreibaufgaben eingestellt worden. Feststellen muss ich, dass dieses Unternehmen erstaunlich frauenfreundlich in der Wahl seiner Angestellten ist – allein auf meiner Etage arbeiten drei weitere Damen. Meine Pflichten sind einfach, aber langweilig, und der t�gliche Trott von neun Uhr morgens bis f�nf am Nachmittag ist nicht zu vergleichen mit dem schwindelerregenden Abwechslungsreichtum meiner Auftr�ge beim Sicherheitsausschuss.

Edward, ich glaube, ich k�nnte hier sehr leicht ersticken: Es w�rde nicht lange dauern unter all dem Gewicht von Akten, Schriftst�cken, Korrespondenzen, Tinte und Staub.

Auf den ersten Blick arbeitet Love wie jedes andere gro�e Unternehmen in der Stadt – altmodisch, seri�s und schwinds�chtig. Dennoch gibt es zwei bemerkenswerte Gegebenheiten, welche die Organisation einzigartig machen.

Zum einen wird f�r die gesamte Belegschaft das Quartier zur Verf�gung gestellt – womit ich sagen will, dass wir tats�chlich im Haus selbst wohnen, tief in den Kellergeschossen. Dabei handelt es sich jedoch keinesfalls um eine Gro�z�gigkeit, die man in Anspruch nehmen oder ablehnen k�nnte, sondern es ist f�r alle Mitarbeiter zwingend vorgeschrieben. Mehr als das: selbst das Verlassen des Geb�udes – wann und zu welchem Zweck auch immer – wird nicht gern gesehen. Es wird von uns erwartet, dass wir Tag und Nacht hierbleiben; alles, was wir ben�tigen, finden wir innerhalb dieser Mauern. Ich hatte keine andere Wahl, als diese Bedingungen zu akzeptieren, und so schreibe ich jetzt in dem winzigen Zimmer, das ich mit einem zweiten M�dchen teile. Zum ersten Mal verbringe ich die N�chte in einem Stockbett – was in Dir vermutlich nur vertraute Gef�hle wecken w�rde. Jedenfalls hoffe ich sehr, dass der mysteri�se �Hinweis�, dem Du zusammen mit Deinem hoch gewachsenen Freund aus dem Luxus Eurer �ppig ausgestatteten Hotelsuite heraus folgst, bedeutsam genug ist, um die spartanischen Lebensumst�nde zu rechtfertigen, zu denen Du Deine einzige Schwester zwingst.

So seltsam diese Umst�nde auch anmuten – es herrscht ein gutes Gemeinschaftsgef�hl hier. Dass wir alle gemeinsam essen, schlafen und arbeiten, scheint ein Klima der Kameradschaftlichkeit zu erzeugen, ganz wie in meinem alten College oder wie es wohl f�r Matrosen auf See zutreffen mag. Besorgniserregend finde ich jedoch diese Atmosph�re der gespannten Erwartung, die hier herrscht. Ich bin �berzeugt davon, dass diese Leute mit etwas Bestimmten rechnen; sie kommen mir vor wie eine Rugbymannschaft vor dem ersten Spiel der Saison oder eine Armee, die des Einsatzbefehls harrt.

Selbstverst�ndlich ist es nicht nur die Eigenart ihrer inneren Ordnung, die diese Firma als ungew�hnlich kennzeichnet. Weitaus sonderbarer mutet da schon die Gepflogenheit an, den richtigen Namen der Leute zwangsweise durch eine Nummer zu ersetzen; erst diese Nummer erm�glicht eine Identifikation, denn so verr�ckt das auch klingen mag, es tr�gt jede Person in diesem Geb�ude denselben Nachnamen: Love.

So existiert also Charlotte Moon nicht mehr, und an ihrer Stelle schreibt Dir nun Love 999. Meine Beinahefreundin ist Love 893. Du siehst jetzt, wieso ich Dir ihren Namen nicht nennen konnte.

All das kommt mir h�chst eigenartig vor und einigerma�en unheimlich. Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass ich schon sehr neugierig bin, was Du zu der ganzen Sache sagst.

Noch etwas stellt mich vor ein R�tsel: Der Schlafwandler hatte recht. Heute sah ich Mister Speight, nicht nur sauber und ordentlich beieinander, sondern mehr noch: elegant gekleidet in einen beunruhigend teuren Anzug. �Love 903�, so seine Bezeichnung, erkannte mich nicht, als wir im Korridor aneinander vorbeigingen, und w�rdigte mich keines zweiten Blickes. Er arbeitet auf einer der oberen Etagen und scheint daher ein wichtiger Mann hierzu sein, ein hohes Tier; die Tage mit seinem h�lzernen Banner liegen offenbar weit hinter ihm.

Ich kenne den Grund nicht, aber gleich heute wurde uns aufgetragen, massenhaft Schriftst�cke zu verbrennen. Ich konnte noch rechtzeitig einen Blick darauf werfen, ehe alles im Feuer landete: Das Material stammte aus j�ngster Zeit und bezog sich auf irgendeine Art von Zusammenlegung der betr�chtlichen Verm�genswerte der Organisation. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, weshalb Love Unterlagen vernichten sollte. Vielleicht m�sste ich nur fragen, aber bisher habe ich mich Deinen Anweisungen entsprechend bem�ht, so wenig wie m�glich aufzufallen. Ich m�chte nicht pl�tzlich neugierig erscheinen und dadurch Misstrauen erwecken.

Das ist alles, was ich Dir f�r den Augenblick berichten kann. Ich werde Dir schreiben, sobald es mir wieder m�glich ist.

Deine Dich liebende Schwester

Charlotte


F�NFZEHN

Ich bin seit langem der �berzeugung, dass die Stadt, das Land, ja, auch die �brige Welt drau�en ausgerechnet von den falschen Leuten gef�hrt werden. Angefangen von der Regierung �ber die gro�en Kreditinstitute und den Hochadel bis zur Polizei wird unser Leben ausnahmslos von den Dummen und Habs�chtigen, den Bestechlichen, Raubgierigen und unverdienterma�en Reichen kontrolliert. Um wie viel angenehmer w�re es, w�rden sich die Herrschenden dieser Welt nicht aus jenen rekrutieren, die durch ihre Kennerschaft f�r Banken und ihre Bilanzen, ausl�ndische Geheimkonten und Wahlurnen hervorstechen, sondern aus den Reihen der ganz gew�hnlichen Leute – der ehrlichen, gutm�tigen, beherzten Alltagsmenschen.

Im Laufe dieses Berichts haben wir wenige solch vorbildliche Personen kennengelernt. Mrs Grossmith, vielleicht. Den Schlafwandler. Mina, die B�rtige. Dieser Liste k�nnen wir nunmehr einen weiteren Namen hinzuf�gen: Miss Gillman, die sanftm�tige Dame aus Highgate.

Als Moon und der Schlafwandler auf ihrer Schwelle erschienen, fanden sie und der H�ne augenblicklich Gefallen aneinander; vielleicht sp�rten sie eine gewisse Verwandtschaft ihrer Seelen – und die sie verbindende nachsichtige Betrachtung der Welt.

Aber der Schlafwandler war verwirrt. Er musste sehr an sich halten, um dem Drang, sich den Kopf zu kratzen, zu widerstehen – verursacht teils durch echte Verwirrung, teils durch seine Per�cke, die scheu�lich juckte. Einen kleinen Trost lieferte ihm jedoch der Umstand, dass Miss Gillman ganz genauso durcheinander schien wie er. Und wie so oft war die einzige Person, die den �berblick �ber das Geschehen hatte, Edward Moon.

�Miss Gillman�, fragte er, als die Gastgeberin an ihrem Tee nippte, �erkennen Sie dies hier?� Er hielt ihr das d�nne schwarze Buch hin, das Barabbas ihm in Newgate gegeben hatte – seine Ausgabe der Lyrischen Balladen.

Die alte Dame klappte den Umschlag auf und las die Widmung darunter. �Das ist meines!�, rief sie verbl�fft. �Und ich dachte, es w�re f�r immer verlorengegangen!�

�Die Widmung … bezieht sie sich auf Ihren Vater?�

�Wie gelangte es in Ihre H�nde?�

�Ein Erbst�ck.� Moon log gewandt und ohne Hemmung. �Ich glaube, der letzte Eigent�mer hat es bei einer Auktion ersteigert.�

�Tats�chlich? Ich muss gestehen, ich hielt Sie nie f�r einen Liebhaber poetischer Verse … Ihr Ruf eilt Ihnen nat�rlich voraus. Es �berrascht mich wirklich.�

�Ich interessiere mich erst seit kurzem daf�r. Auf Empfehlung eines alten Freundes.�

�Aber ich f�rchte, ich sehe nicht recht, worin ich Ihnen eine Hilfe sein k�nnte. Es ist ein Jammer, dass mein Vater nicht mehr lebt. Er w�re Ihnen von weitaus gr��erem Nutzen gewesen als ich.�

�Erz�hlen Sie uns einfach, soviel Sie k�nnen.�

�Es ist doch schon so lange her�, bemerkte sie zweifelnd.

�Von all denen, die die Ehre hatten, den Dichter pers�nlich zu kennen�, sagte Moon und gab dem Schlafwandler einen Klaps auf die Hand, ehe dieser sie zum neunten Mal nach dem Kuchenteller ausstrecken konnte, �sind Sie, soweit mir bekannt ist, die letzte noch lebende Zeitzeugin.�

Der Anflug eines sarkastischen L�chelns. �Was auf seine Weise wohl auch eine Ehre ist�, sagte Miss Gillman. �Aber ich war nat�rlich noch ein kleines M�dchen, als Mister Coleridge starb. Wussten Sie, dass er ganz in der N�he, auf unserem Friedhof, begraben liegt? Er war trotz allem ein lieber Mensch.�

�Und er lebte hier bei Ihnen?�

�O ja, er wohnte jahrelang oben im Stock. Ich zeige Ihnen gern sein Zimmer. Mein Vater sorgte f�r ihn, bis er starb; Vater erhielt wohl eine Art regelm��iges Entgelt, aber ich glaube, er tat es in erster Linie aus Menschenliebe. Mister Coleridge geh�rte zur Familie. Ein zweiter Gro�vater f�r mich, wenn Sie so wollen. Zu der Zeit hatte er bereits fast v�llig aufgeh�rt zu schreiben; seine besten Tage lagen da schon lange zur�ck. Und wie Sie wissen, war er mittlerweile zum Sklaven dieses ekelhaften Opiums geworden. Es erwies sich f�r uns alle als ein Quell gro�en Kummers.�

�Fahren Sie fort.�

Miss Gillman sprach fast eine Stunde lang, gl�cklich, ihre Erinnerungen an den bemerkenswerten Mann, mit dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, wieder aufleben zu lassen. Sie erz�hlte, wie der Dichter, verlassen von Frau und Kind, entflohen aus einer ungl�cklichen Liebe und fallen gelassen von Freunden und Bewunderern, nach Highgate gekommen war, um als eine Mischung aus Mieter und Patient im Haushalt der Gillmans unterzukommen, wo alle hofften, der vor�bergehende heilsame Aufenthalt w�rde ihn von seiner Sucht befreien. Wie sich herausstellen sollte, war es ein Aufenthalt f�r den Rest seines Lebens.

Moon lauschte artig, der Schlafwandler machte kurzen Prozess mit den noch vorhandenen K�chlein, und die Zeit flog in einem Strom aus Anekdoten und Erinnerungen dahin. Es war wie in einer gro�en Seifenblase, fand der Riese, weit weg von der �brigen Welt, und wenn er Miss Gillman zuh�rte, hatte er das Gef�hl, als w�rde sich die Lebensgeschichte eines Fremden pl�tzlich und ohne Vorwarnung seiner und Moons eigener aufpr�gen.

�Und dann gab es da nat�rlich noch den Jungen�, sagte die alte Dame.

Moon blickte auf. �Erz�hlen Sie uns von ihm.�

�Er war ein Lehrjunge, ein Kind noch, nicht �lter als neun oder zehn. Er brachte dem alten Mann immer seine Medizin ins Haus. Medizin – das war das Wort, das er stets benutzte. Eigentlich hat keiner von uns gern laut ausgesprochen, worum es sich wirklich handelte.�

Moon dr�ngte sie fortzufahren; er war merkw�rdig �berzeugt von der Bedeutsamkeit der Geschichte.

�Als Botenjunge, so kam er das erste Mal zu uns. Aber Coleridge schloss den kleinen Kerl bald ins Herz, er nahm ihn mit auf seine Spazierg�nge, las ihm Gedichte vor. Meine Familie besa� damals ein Haus in Ramsgate, wo wir die Ferien verbrachten. Ich erinnere mich, dass er uns sogar dort einmal besucht hat. Sie spielten am Strand. Das Verh�ltnis zu seinem eigenen Sohn war immer schon angespannt gewesen, und so wurde Ned f�r den alten Mann eine Art Ersatzsohn. Ned ist mein Erbe, sagte Mister Coleridge immer. Mein Nachfolger.�

�Ned?�

�So hie� der Junge.�

�Und wie war sein Zuname?�

Miss Gillman trank ihren Tee aus. �Love�, sagte sie. �Ned Love.�

Moon und der Schlafwandler starrten sie mit offenem Mund an.

�Oh�, fragte sie, �sagt Ihnen der Name etwas?�


Kurz darauf, nachdem sie jeden weiteren Nachschub an Tee, Kuchen und wehm�tigen Erinnerungen h�flich zur�ckgewiesen hatten, verabschiedeten sich die beiden von Miss Gillman. Bevor sie gingen, gab Moon ihr das Buch zur�ck.

�Ich glaube, das hier geh�rt Ihnen.�

�Sind Sie sicher? Es muss recht wertvoll sein.�

�Ich ben�tige es nicht mehr. Bitte nehmen Sie es.�

Sie z�gerte.

�Bitte. Ich w�re sonst sehr beleidigt.�

Sie nahm es nat�rlich und lie� die beiden, Gott befohlen, gehen.

Trotz seiner unz�hligen Fehler war Moon gelegentlich zu �u�erst gro�m�tigen Gesten f�hig, die aus seiner schwarzen Misanthropenseele hervorschimmerten wie Sonnenstrahlen aus einem bedeckten Himmel.

Sie verlie�en Miss Gillmans H�uschen und gingen die halbe Meile zum Friedhof von Highgate zu Fu�. Der Schlafwandler – der, �bers�ttigt von seinem Mehrfachfr�hst�ck und den Desserts bei Miss Gillman, nicht aufh�ren wollte zu g�hnen – fragte wiederholt nach dem Zweck dieses Friedhofsbesuchs, aber Moon verlor kein Wort, sondern legte eine strapazi�se Marschgeschwindigkeit vor – ein Marathonl�ufer kurz vor dem Ziel, der so schnell wie m�glich das Rennen beenden wollte.

Sie kamen zur Kirche und wateten durch das hohe, ungem�hte Gras des Friedhofs, zwischen Reihen von Grabsteinen, Kreuzen und Gedenktafeln hindurch, von denen viele krumm und schief dastanden, so als h�tte sich die Erde w�tend gesch�ttelt und sie aus dem festen Untergrund gepresst. Hier war die Stimmung nicht friedlich, es herrschte kein Gef�hl der sanften Ruhe, sondern eher der Vernachl�ssigung, der Bedrohung.

Moon und der Riese blieben vor einem nichtssagenden Grab stehen. Die Inschrift auf dem Stein lautete:

HIER RUHT SAMUEL TAYLOR COLERIDGE
1772 – 1834
Aus den Tiefen rufe ich zu Dir

Der Schlafwandler beugte seltsam ehrerbietig den Kopf, so als w�rde er, weil er so viel von dem Mann geh�rt hatte, der zu ihren F��en in der Erde lag, eine Andeutung von Trauer �ber seinen Tod versp�ren.

Moon hingegen zeigte keine derartige Gef�hlsregung. �Sieh mal an!�, murmelte er, als er neben dem Stein kauerte und sachte am Gras zog, das das Grab bedeckte. Der Rasen lie� sich in gleichm��igen Streifen abheben, und das Erdreich darunter sah frisch umgegraben aus.

Zum dritten oder vierten Male in ebensovielen Stunden war der Schlafwandler v�llig verwirrt.

WANDALEN?

fragte er.

�Nein. Zu planm��ig, zu akkurat.�

Als der Riese daraufhin nachdenklich zu Boden starrte, dr�ngten sich ihm bestimmte schreckliche M�glichkeiten auf.

Moon erhob sich. �Es ist schlimmer, als ich vermutete. Wir sollten uns beeilen. Ich habe das dunkle Gef�hl, dass uns nicht gen�gend Zeit bleibt.�

Sie entfernten sich vom Grab und vom Friedhof, lie�en die Toten ruhen und kehrten f�r den Augenblick in die Welt der Lebenden zur�ck.


Lieber Edward,

Der n�chste Bericht aus der H�hle des L�wen.

Mein zweiter Tag bei Love, Love, Love und Love ist fast genauso verlaufen wie der erste. Acht Stunden langweilige Plackerei im B�ro, dazwischen eine magere halbe Stunde f�r den Mittagsimbiss, und der Abend in diesem gr�sslichen gemeinschaftlichen Aufenthaltsraum im Kellergeschoss, wo ich beten oder den Gedichtvortr�gen meiner Kollegen lauschen durfte – und widerwillig eine Runde Whist vervollst�ndigte. Um dies hierzu schreiben, musste ich mich heimlich in unser Zimmer davonstehlen. Meine Freundin – Love 893 – hatte sich f�r den Fall, dass nach mir gefragt w�rde, bereit erkl�rt, etwas von einem Unwohlsein meinerseits zu erz�hlen. Au�erdem habe ich meine Grenzen, was das Ertragen der Fr�mmelei dieser Leute betrifft.

Ich bin erstaunt, dass es Mister Skimpole �berhaupt gelungen ist, diese Anstellung f�r mich zu beschaffen. Alle anderen arbeiten seit Monaten hier, manche seit Jahren. Als neuester Zuwachs sp�re ich deshalb wohl auch eine gewisse k�hle Zur�ckhaltung mir gegen�ber. Bestimmt gibt es eine Menge f�r mich zu entdecken, aber keiner hier scheint erpicht darauf mir etwas zu verraten. Selbst 893 wird pl�tzlich schweigsam und verschlossen, wenn ich sie auf die verwickelten Finanzen von Love anspreche. Nicht, dass ich bisher offene Neugier gezeigt h�tte, das m�chte ich betonen; wie versprochen, tue ich mein Bestes, so harmlos wie m�glich zu erscheinen, und ich bezweifle auch, dass man mich als etwas anderes als eine unscheinbare Kanzleihilfskraft sieht. Vielleicht war ich sogar zu wenig wissbegierig, vielleicht ist mein offensichtlicher Mangel an Neugier selbst verd�chtig. Vielleicht sollte ich ein bisschen mehr herumschn�ffeln.

Heute sah ich Speight wieder, er schritt mit flatternden Rocksch��en wichtigtuerisch den Korridor entlang, einen Schwarm Lakaien im Kielwasser. Seine Verwandlung ist so grundlegend, dass ich annehme, Du w�rdest ihn kaum mehr erkennen, er scheint halbnackt ohne seine Tafel. Ich frage mich, wie es diese Leute anstellten, eine so vollst�ndige Metamorphose zustandezubringen. Oder, besser gesagt, warum.

Doch selbst er ist nicht der absonderlichste unter den Angestellten von Love. Heute Morgen erblickte ich etwas schlechterdings Beispielloses: eine Frau mit Vollbart, die mit B�chern und Aktenordnern besch�ftigt war und bei den anderen weder vorwitzige Blicke noch irgendein halb unterdr�cktes Glucksen hervorrief. Normalerweise w�rde man sie eher in einem Zirkuszelt vermuten, aber hier wird sie als eine von uns akzeptiert. Offenbar ist Love in all seiner Verschrobenheit eine recht weitherzige Gemeinschaft, denn obwohl diese Frau ein verh�ltnism��ig neuer Zugang ist (Love 986, glaube ich), scheint sie bereits in hohem Ansehen zu stehen – ein aufgehender Stern, in den gro�e Erwartungen gesetzt werden.

Und jetzt zu meinen Neuigkeiten. Gegen Ende meiner Schicht trat mein unmittelbarer Vorgesetzter, ein pausb�ckiger Glatzkopf namens Love 487, an mich heran und erkl�rte mir nach einigem belanglosem Geplauder, dass ich dazu auserw�hlt sei, den Pr�sidenten des Verwaltungsrats pers�nlich kennenzulernen. Anscheinend wird dies als gro�e Ehre betrachtet, und beim Abendbrot war ich daher Gegenstand zahlreicher neidischer Blicke.

Offenbar ist der Pr�sident (oder Love 1, wie er von meinen Vorgesetzten genannt wird) eine Art Einsiedler. Nur wenige meiner Kollegen haben den Mann (es ist nat�rlich ein Mann – selbst bei Love ist man nicht derart fortschrittlich!) je kennengelernt. Dieses bedeutsame Treffen wurde f�r �bermorgen festgesetzt. Sobald ich davon zur�ck bin, werde ich Dir alles berichten.

Wieder muss ich Dir diesen Brief �ber 893 zukommen lassen. Ich bekam die Zusage f�r ein Verlassen des Hauses Ende der Woche, also werde ich dann vermutlich meine n�chste Botschaft an Dich absenden k�nnen.

Die Atmosph�re hier erscheint mir noch angespannter als gestern. Diese Leute warten auf etwas – und worum es sich dabei auch handelt, ich fange an zu argw�hnen, dass man sich nur bei Love �ber sein Eintreffen freuen wird.

Ich schreibe wieder, sobald ich kann. Herzliche Gr��e an den Schlafwandler.

Charlotte


Mister Skimpole schleppte sich niedergeschlagen in die R�ume des Direktoriums; seine Stimmung war dank der hartn�ckigen Dienstverweigerung des Aufzugs und der darauffolgenden Notwendigkeit, die Treppe zu nehmen, noch elender geworden. Obwohl er sich nach Kr�ften bem�hte, seine Vergiftungssymptome zu verschleiern, waren sie heftig, unerbittlich und unumkehrbar. Andauernd heiser und kurzatmig, dazu unsicher auf den Beinen, war er wie ein alter S�ufer gezwungen, seine ganze Konzentration aufzubieten, nur um aufrecht und geradeaus zu gehen. Manche m�gen es als Ironie betrachten, dass ein Mann nach einem Leben der Abstinenz und M��igung enden sollte wie die Kopie eines Trunkenbolds. Selbstredend w�rde ich selbst mich nie zu solch einer derben, gef�hllosen Anmerkung hinrei�en lassen.

Beim Ankleiden am Morgen hatte Skimpole das Vorhandensein von f�nf oder sechs frischen wunden Stellen entdeckt, die sich �ber seinen ganzen Unterleib verteilten und seine Genitalien mit einem schuppenden, juckenden Ausschlag sprenkelten. Noch schlimmer war der Umstand, dass die Schmerzattacken sich zusehends h�uften; sogleich bei ihrem Einsetzen musste Skimpole den Raum verlassen, bevor ihre Kneifzangen gnadenlos in seine Eingeweide bissen.

Aber heute kam er nicht allein ins Direktorium: Sein Sohn war bei ihm. Als der Junge die Treppe hinab und durchs Zimmer zu dem runden Tisch humpelte, erinnerte das Klick‐klack seiner Kr�cken an einen Zug, der �ber die Nahtstellen alter Schienen rattert. Es war ein kl�gliches Paar, das die beiden abgaben – zwei Ausrei�er aus einem Heim f�r Kr�ppel oder ein Duo vom Schicksal Gebeutelter, denen ein besonders grausames Armenhaus die Aufnahme verweigert hatte.

Dedlock war bereits da und wartete auf seinem gewohnten Stuhl, aber neben ihm sa� ein Fremder – ein hoch gewachsener, elegant gekleideter glattrasierter Mann, der Zur�ckhaltung und guten Geschmack ausstrahlte. Verglichen mit den beiden f�hlte Skimpole sich noch spindeld�rrer und k�mmerlicher als je zuvor. Er zog ein Taschentuch hervor, wischte sich �ber die Stirn und holte tief Atem, fest entschlossen, seine Schw�che nicht zu zeigen. So brachte er zwar gerade noch ein �Guten Morgen� hervor, danach jedoch verfiel er in hilfloses Stottern.

Ungl�ubig starrte Dedlock den Jungen an.

Skimpole versuchte ein L�cheln, doch es verging ihm auf halbem Wege, als er die steinernen Mienen der beiden M�nner sah. �Kennen Sie meinen Sohn?�, fragte er so gelassen wie m�glich. Der Junge versuchte einen Gru�, brachte jedoch nur einen j�mmerlichen keuchenden Hustenanfall zustande.

�Ihren Sohn?�, fragte der Fremde in einem Tonfall, als h�tte er das Wort noch nie geh�rt. �Ihren Sohn?�, wiederholte er – wahrscheinlich nur um sicherzugehen, dass man ihn beim ersten Mal richtig verstanden hatte. �Wollen Sie uns im Ernst sagen, dass Sie ein Kind hierher gebracht haben? Nicht einmal drei Dutzend Menschen ist die Existenz dieser �rtlichkeit bekannt, und Sie bringen Ihren Sohn her? Gott im Himmel, Mann! Wo, glauben Sie, befinden Sie sich hier?�

�Es tut mir leid�, stammelte Skimpole, �ich wollte nur bei ihm sein.�

�Ich f�rchte, du musst ihn nach Hause schicken�, sagte Dedlock in sanfterem, weniger aggressivem Tonfall als der Fremde.

Skimpole k�mpfte mit den Tr�nen. �Das kann ich nicht. Ich brauche ihn in meiner N�he. Er darf nicht allein nach Hause gehen. Ich bin sicher, wir wurden auf dem Weg hierher verfolgt. Wir haben sie abgesch�ttelt, aber es ist ja nicht das erste Mal. Bei weitem nicht.� Verzweifelt wandte er sich an Dedlock. �Bist du nicht auch der Meinung? Wer immer sie sind, sie haben die Hunde auf uns gehetzt!�

�Schicken Sie das Kind nach Hause. Oder ich lasse es wegbringen.� Der elegante Fremde schnalzte mit den Fingern, und vier falsche Chinesen tauchten folgsam im Hintergrund auf.

Dedlock versuchte, die Spannung ein wenig zu l�sen. Mit einer Handbewegung deutete er auf den Fremden. �Dies ist Mister Trotman.�

�Ich komme vom Ministerium�, sagte der Mann d�ster, als w�rde das alles erkl�ren.

Skimpole wirkte ungewohnt eingesch�chtert. �Ich verstehe. Wie k�nnen wir helfen?�

�Das Direktorium f�llt seit kurzem in meinen Zust�ndigkeitsbereich …� Er lie� den Satz taktvoll ausklingen. �Es wird Ver�nderungen geben.�

�Ver�nderungen?�

�Bringen Sie den Jungen hinaus�, forderte Trotman. �Dann k�nnen wir reden.�

Skimpole beugte sich hinab und fl�sterte seinem Sohn ins Ohr: �Geh nach oben. Warte dort auf mich.�

Der Junge nickte und schleppte sich m�hsam davon; mannhaft nahm er die beinahe un�berwindbare Treppe in Angriff – allein und ohne Hilfe. Das ganze kurze Leben seines Sohnes hindurch hatte Skimpole nie aufgeh�rt, die Tapferkeit des Kleinen zu bewundern.

�Setzen Sie sich�, sagte Trotman, nachdem der Junge gegangen war. �Es wird nicht lange dauern.�

Dem�tig tat Skimpole wie gehei�en.

�Ich m�chte ohne Umschweife sprechen�, sagte Trotman. �Ich bin ein einfacher Mensch.� (Nach dem Schnitt seiner Kleider und der fast greifbaren Ausstrahlung von Wohlstand zu schlie�en, entsprach dies nicht der Wahrheit.) �Ich erwarte Offenheit von meinen Untergebenen und habe vor, Ihnen umgekehrt das gleiche Recht zuzugestehen.�

Dedlock und Skimpole nickten, als ob sie das zu sch�tzen w�ssten.

�Das Direktorium ist zu einer Belastung geworden. Ihre Vorgangsweisen sind regelwidrig, Ihre Agenten nicht rechenschaftspflichtig, Ihre Sicherheitsvorkehrungen l�cherlich einfach zu �berwinden. Slattery h�tte nie auch nur in Sichtweite dieses Raums kommen d�rfen!�

Dedlock setzte zu einem Einspruch an, doch Trotman brachte ihn mit einer Handbewegung zum Verstummen. �Lassen Sie mich ausreden. Sie k�nnen zu gegebener Zeit das Wort ergreifen.� Er r�usperte sich, ehe er fortfuhr: �Ich bezweifle auch die Notwendigkeit f�r all dieses klammheimliche Nacht‐und‐Nebel‐Getue. Sich unter einem Metzgerladen in Limehouse zu verstecken! Die Agenten, die alle in dieser Maskerade herumrennen! Pah!� Voll Missfallen sah er sich im Raum um, sichtlich abgesto�en von dem l�cherlichen Schauspiel. �Ich bin sicher, h�tten Sie diese seltsame Vorliebe nicht zur Regel gemacht, w�re Slattery niemals so weit gekommen. Um ehrlich zu sein, meine Herren – der vorherrschende Eindruck unter meinen Kollegen ist, dass das Direktorium von M�nnern geleitet wird, die mit dem gr��er Vergn�gen Zeit, Geld und sonstige Reserven vergeuden und viel zuviel Gefallen daran finden, sich zu kost�mieren.�

�Darf ich sagen …�, begann Dedlock.

�Nein, Sie d�rfen nicht�, unterbrach ihn Trotman barsch. �Sie kennen die korrekte Vorgangsweise, Ihre Sicht der Dinge vorzubringen, und ich denke, es ist h�chste Zeit daf�r. Sie haben sich zu lange als �ber den Gesetzen stehend betrachtet. Es ist mir nicht unbekannt, dass mein Vorg�nger eine gewisse sentimentale Schw�che f�r Sie hatte. Seien Sie versichert, ich teile diese Sympathie nicht.�

�Was werden Sie also tun?�, fragte Skimpole ruhig.

�Das Direktorium ist mit sofortiger Wirkung aufzul�sen. Falls sich jemals die Notwendigkeit ergeben sollte, es wieder zu aktivieren, dann – das kann ich Ihnen versichern – unter anderer Leitung.� In ged�mpfterem Tonfall fuhr Trotman fort: �Aber es besteht kein Grund zur Sorge, meine Herren, f�r Ihren Ruhestand wurde vorgesorgt. Ihr Unterhalt ist gesichert. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, Mister Skimpole, Sie sehen wirklich nicht gut aus. Einem Mann in Ihrem Zustand h�tte man nie gestatten sollen, so viel Verantwortung zu �bernehmen. Ich bin �berzeugt, der Ruhestand wird Ihnen bekommen.�

�Haben Sie unsere Berichte nicht gelesen?�, fragte Skimpole aufgebracht. �Es bleiben uns gerade noch zwei Tage bis zum Angriff auf die Stadt!�

Trotman durchbohrte den Albino mit einem vernichtenden Blick. �Meiner Meinung nach �bertreiben Sie mit Ihrer angeblichen Krise. Ich habe keine stichhaltigen Beweise f�r eine Verschw�rung zu Gesicht bekommen und erhielt keinerlei Informationen wesentlichen Inhalts von Ihnen. Ich halte Ihre Berichte daher f�r leichtsinnige Panikmache und finde im �brigen Ihre Methoden zur Einholung von Ausk�nften �u�erst fragw�rdig. Ich bin entsetzt, dass sich eine Regierungsbeh�rde auf das Wort einer Wahrsagerin st�tzt! Wir schulden dem Sicherheitsausschuss in dieser Angelegenheit daher auch gr��te Dankbarkeit, wie ich meine.�

�Aber es wird geschehen�, beharrte Skimpole. �Die Innocenti hat recht!�

Trotman l�chelte �berheblich. �Dass wir uns mit einer verschwommenen Bedrohung, heraufbeschworen von einem sogenannten Medium, ernsthaft besch�ftigen m�ssten, ist wohl stark zu bezweifeln, oder? Meiner Meinung nach ist diese Mrs Bagshaw in Amerika viel besser aufgehoben. Es ist ein gutgl�ubiges V�lkchen, dr�ben, auf der anderen Seite des Atlantiks. Sie wird dort einen Haufen Geld machen.� Trotman erhob sich. �So vergn�glich es ist, mit Ihnen zu plaudern, meine Herren, muss ich mich jetzt dennoch verabschieden. Drei weitere Termine warten heute Vormittag noch auf mich.�

Dedlock stand unsicher auf. �Bitte …�

Trotman unterbrach ihn mit einer unwirschen Geste. �Falls Sie Beschwerde einlegen m�chten, sprechen Sie mit meinem Sekret�r. Ich danke f�r Ihre Aufmerksamkeit. Meine Beh�rde wird sich in K�rze mit Ihnen in Verbindung setzen. Guten Tag, meine Herren.�

Leise vor sich hinpfeifend schlenderte Trotman aus dem Raum (er geh�rte zu jenem Typus Mann, der oft und gerne vor sich hinpfeift), offenbar g�nzlich unber�hrt von den niedergeschmetterten Gem�tern, die er zur�cklie�. Und Dedlock fehlten ausnahmsweise die Worte.

Nach einer Weile sagte er: �Ungeheuerlich! Das k�nnen sie nicht tun!�

Skimpole schien nicht zugeh�rt zu haben. �Wie dumm von ihm�, murmelte er. �Damit liefert er die Stadt jedem Angriff aus!�

�Wir werden uns beschweren! Mit seinen Vorgesetzten sprechen! Wir wenden uns an die h�chsten Stellen!�

Skimpoles Stimme klang ged�mpft, wie aus weiter Ferne: �Das hat keinen Sinn. Wir m�ssen uns seiner sofort entledigen. Und ich kenne nur zwei Personen, denen das zuzutrauen ist. Ohne Aufsehen. Dennoch nicht ohne Risiko.�

�Wer?�, fragte Dedlock begierig.

�Du kennst ihre Namen. Ich will sie hier nicht aussprechen.�

Dedlock sank langsam zur�ck auf seinen Stuhl; die gesunde R�te war aus seinem Gesicht gewichen, und er wirkte pl�tzlich aschfahl. �Das ist doch nicht dein Ernst?�

�Ich f�rchte, doch.�

�Du hast keine Vorstellung, wozu sie f�hig sind!�

Skimpole beugte sich vor. �Ich kann nicht zulassen, dass dies alles zerst�rt wird! Es ist der einzige Beweis daf�r, dass ich �berhaupt je gelebt habe!�

�Du hast eine morbide Ader, mein Alter.�

Der Albino erhob sich wackelig auf die Beine. �Ich muss weg, mein Sohn wartet. �berlass die Sache mir.�

Dedlock lie� ihn gehen. Er hielt ihn nicht zur�ck, obwohl er ahnte, was Skimpole im Sinn hatte. Er schnalzte mit den Fingern, und einer der Ersatzchinesen erschien an seiner Seite. �Du hast alles geh�rt?�

Der Mann verbeugte sich. �Jawohl, Saa.�

�Wunderbar. Dann bring mir eine Flasche Brandy.� Er grinste. �Und zwei Gl�ser.�


Skimpole hatte kaum den Raum verlassen, als der Anfall �ber ihn hereinbrach. Er klappte zusammen wie ein Taschenmesser und fasste vergeblich nach dem Gel�nder der Treppe, um sich daraufhin krampfhaft den Leib zu halten. Er biss sich auf die Zunge, um einen Aufschrei zu verhindern, und hoffte verzweifelt, dass Dedlock nicht aus der T�r kommen und ihn in diesem Zustand vorfinden w�rde.

Als der schlimmste Schmerz vor�ber war und er sich halbwegs dazu in der Lage f�hlte, nahm er die Treppe zum Laden wieder in Angriff. Oben angekommen sah er, dass sein Sohn friedlich mit dem Metzger plauderte und gl�cklicherweise nichts von alldem wusste, was da unten vorgefallen war.

�Ich danke dir�, keuchte er und schleppte sich zu seinem Jungen, �Ich danke dir, dass du dich um meinen Sohn gek�mmert hast.�

�Gern geschehen.�

Skimpole war zusammen mit dem Jungen auf dem Weg zur T�r, als er stehenblieb und sich umdrehte. �Wenn man es recht bedenkt�, sagte er, �habe ich dich noch nie gefragt, wie du hei�t.�

Der Chinese grinste. �So ist es, Sir.� Er nannte Skimpole seinen Namen, irgendetwas Kurzes mit einem �W� am Anfang. Selbstverst�ndlich verga� ihn der Albino auf der Stelle wieder, doch wenigstens hatte er sich einmal danach erkundigt.

Drau�en auf der Stra�e wollten die beiden eine Droschke nehmen, aber etliche fuhren an ihnen vorbei, obwohl sie leer waren; offenbar wollten sie auf so bedenklich aussehende Fahrg�ste lieber verzichten, und so verging eine ganze Weile, ehe eine anhielt.

�Wo fahren wir hin?�, fragte der Junge, als sie sich m�hsam auf das Trittbrett k�mpften.

�Zu einem ganz besonderen Ort. Er liegt unter der Erde.�

�Und wie hei�t er?�

�Ich w�rde gegen die Vorschriften versto�en, wenn ich es dir sage.�

�Oh.� Der Junge machte ein entt�uschtes Gesicht, aber selbst in seinem zarten Alter kannte er bereits das Gebot der Verschwiegenheit.

Skimpole zauste ihm liebevoll das Haar und beschloss einzulenken. Die Zeit f�r Geheimnisse war vorbei.

�Das ›Archiv‹�, fl�sterte er. �Der Ort hei�t ›Archiv‹.�


Mister Cribb blickte Edward Moon �ber den Kaffeehaustisch hinweg an. �Wie sch�n, Sie zu sehen�, sagte er. �Beim letzten Mal, als wir uns trafen, waren Sie nicht so freundlich.�

�Wir m�ssen uns kurz fassen. Der Schlafwandler wei� nicht, dass ich hier bin.�

�H�tte er etwas dagegen?�

�Irgendwie sind Sie f�r ihn … es klingt l�cherlich … wie ein rotes Tuch.�

�Tats�chlich? Und haben Sie eine Vermutung, weshalb?�, fragte Cribb.

�Absolut keine.�

�Nun ja.�

�Also: Sie schleppen mich durch halb London, Sie reizen mich mit Andeutungen und Fingerzeigen; es scheint Ihnen Freude zu machen, unangek�ndigt in meinem Leben aufzutauchen und mich mit Splittern der Wahrheit zu locken. Weshalb? Zu welchem Zweck? Dieser Spaziergang zu den Docklands – ich bin sicher, Sie haben mich mit voller Absicht zu Lud gef�hrt!�

�Habe ich das?� Cribb wirkte ehrlich verbl�fft. Er kratzte sich an der linken Hand, die, wie Moon bemerkte, bandagiert war, als h�tte er sich vor kurzem daran verletzt. �Sie meinen wohl eher, ich werde. Sie scheinen zu vergessen, dass Ihre Vergangenheit meine Zukunft ist.� Er grinste. �Und umgekehrt.�

�Was war das damals? Ein Ulk? Lachen Sie �ber mich?�

�Hm. Ich habe keine Ahnung. Sie h�tten mich damals fragen sollen.�

�Ich habe das Gef�hl, als w�rde ich in die Dunkelheit sausen, und es sind Sie, der mich hineingesto�en hat.�

�Na, na. Daf�r ist doch wirklich kein Grund!�

Moon schnaubte unwirsch, und endlich, endlich war Cribb bereit, ein wenig Licht in die Sache zu bringen.

�Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht schulde ich Ihnen wirklich eine Erkl�rung.� Er seufzte. �Ich habe die Zukunft gesehen, Edward. Nicht indem ich dorthin gereist w�re, sondern indem ich dort lebte. Verzeihen Sie mir, ich wei� nicht recht, wie ich diese Vorg�nge in Worte kleiden k�nnte, sodass sie einen Sinn f�r Sie ergeben … Betrachten Sie es so: Der Ablauf der Zeit ist f�r Sie einfach und klar – vorhersehbar und jeden Tag frisch erbl�ht. Auf Montag folgt Dienstag, auf Dienstag folgt Mittwoch. Nicht jedoch f�r mich. Ich durchwandere mein Leben r�ckw�rts. Ich erwache am Mittwochmorgen, und der Tag davor war Donnerstag. Mein Leben ist ein ewiges Davongleiten, ein st�ndiges Verlieren von Ber�hrungspunkten. Aus Ihrer Perspektive werden wir uns noch zweimal treffen. N�chstes Mal werde ich nicht ich selbst sein, und danach werde ich Sie kaum wiedererkennen. Ich werde mich verabschieden an dem Tag, an dem wir uns kennenlernten.�

�L�cherlich.�

�Sie wissen, dass es so ist.�

�Dann wissen Sie, was mit uns geschehen wird? Mit dem Schlafwandler und mit mir und mit der ganzen Stadt?�

�Ich wei� es, darf es aber nicht sagen.�

�Und warum nicht?�

�Es gibt Regeln, die ich nicht brechen kann�, erkl�rte Cribb. �Meine Stellung ist eine privilegierte, und obwohl ich gro�e Achtung vor Ihnen und Ihren Methoden habe, werde ich sie nicht in Gefahr bringen.�

�Sprechen Sie eigentlich je offen und ohne Umschweife?�

�Ob Sie es glauben oder nicht, ich dr�cke mich nie mit Absicht nebul�s oder zweideutig aus. Ich habe stets mein Bestes f�r Sie getan.�

�Hatte die Innocenti recht?�, wechselte Moon das Thema. �Wenn ja, dann bleiben uns nur noch zwei Tage.�

�Also gut, vielleicht sollten wir uns die Vorw�rfe f�r eine andere Gelegenheit aufheben. Warum sollte ich herkommen?�

�Ich brauche Ihre Hilfe.�

�Das habe ich mir schon gedacht.�

�Es gibt einen Mann, den ich finden muss – das letzte Glied in der Kette, die ich geschmiedet habe.�

�Sein Name?�, fragte Cribb, aber es klang so, als w�sste er die Antwort bereits.

�Love.� Moon fasste sein Gegen�ber ins Auge, um nach Anzeichen zu forschen, dass ihm der Name bekannt war. �Ned Love.�

�Aha.� Die Auskunft schien Cribb zu gefallen.

�Aha?�, wiederholte Moon aufgebracht. �Was meinen Sie mit ›aha‹? Kennen Sie ihn?�

�Ich kann Ihnen nur sagen, dass Sie nahe dran sind. Sehr nahe. Das ist alles.�

�Aber k�nnen Sie ihn finden? Er m�sste schon ein alter Mann sein.�

�Wenn er sich irgendwo in der Stadt befindet, dann ja, dann k�nnen Sie auf mich z�hlen. Sobald ich ihn gefunden habe, lasse ich es Sie wissen.�

�Ausgezeichnet.�

�Also dann.� Der h�ssliche Mann erhob sich und wandte sich zum Gehen.

�Cribb?�

Er drehte sich um.

�Bitte sagen Sie mir, wie es endet.�

�Tut mir leid.� Cribb l�chelte. �Sie haben keine Ahnung, wie kompliziert es ist, ich zu sein.� Er ber�hrte die Krempe seines Hutes und verlie� das Kaffeehaus.

Moon beglich die Rechnung und wanderte heimw�rts, voller Sorge und nach einer L�sung fiebernd. Dieser Fall, so einzigartig er auch war, hing schon zu lange �ber ihm. H�chste Zeit, ihn zu Ende zu bringen.


E,

Ich entschuldige mich schon jetzt, wenn dieser Brief k�rzer wird als die letzten. Love 893 wurde aus meinem Zimmer verlegt und durch eine andere Frau ersetzt, weit �lter als 893 und eine langj�hrige Mitarbeiterin der Gemeinde. Love 101 ist ein scharfgesichtiges altes Weib, das mich vom ersten Augenblick an nicht leiden konnte und anscheinend beschlossen hat, mehr W�rterin als Stubenkameradin f�r mich zu sein. Weshalb 893 so blitzartig aus dem Zimmer entfernt wurde, wei� ich nicht sicher, aber nat�rlich habe ich so meine Vermutungen.

Ich werde ohne Unterlass beobachtet, und es ist mir nicht mehr gestattet, den gemeinschaftlichen Abendgebeten fernzubleiben. Immer mehr f�hle ich mich hier als Gefangene – eine, die bei den anderen H�ftlingen weder wohlgelitten noch geachtet ist. Selbstredend finde ich auch keinen geruhsamen Schlaf – meine N�chte sind kaum entspannend, und ich habe Alptr�ume.

Morgen bin ich vor den Pr�sidenten bestellt. Er ist ein wahrer Halbgott f�r diese Leute – ein kleiner K�nig in ihrem kleinen K�nigreich; sein Name wird von den Gl�ubigen nur mit absurder Ehrfurcht und halb hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen.

Er ist Love 1, die Nummer Eins der Organisation, der Ur‐Love. Wie mir scheint, ist �1000� die festgelegte Zahl f�r den Umfang der Gemeinde, eine Quote, die offenbar nicht �berschritten werden soll. Diese Zahl ist schon fast erreicht, und ich glaube, sobald Love 1000 gefunden ist, wird das verwirklicht, was diese Leute die ganze Zeit �ber planen.

Nicht um alles in der Welt kann ich herausfinden, wie ernst es ihnen ist. Manchmal bin ich �berzeugt, dass sie, mit all ihren Gedichten und Gebeten, harmlose Eiferer sind, die mit Wonne Verschw�rungen aushecken und R�nke schmieden, deren Ausf�hrung sich jedoch auf ihre �berreizten Hirne beschr�nkt. Doch in zunehmendem Ma�e habe ich das Gef�hl, hier in Gefahr zu sein, das Gef�hl, dass meine Kollegen auf irgendein verheerendes Ziel hinarbeiten – auf irgendeine Ungeheuerlichkeit, die an der Stadt verbrochen werden soll. Also, was f�r ein Hinweis Dich auch dazu gebracht hat, mich hier einzuschleusen (und ich weigere mich einfach anzunehmen, dass ein Scharlatan wie diese Bagshaw irgendeine Rolle bei deiner Entscheidung gespielt haben k�nnte), Du hast gut daran getan, ihn zu beachten. Was auch immer diese Menschen planen, sie haben vor, es bald geschehen zu lassen.

Meine Arbeit heute war wie immer langweilig, aber zuf�lligerweise bin ich �ber eine Kleinigkeit gestolpert, die es wert ist, erw�hnt zu werden. W�hrend ich mich durch einen ganz besonders �den Teil der Buchf�hrung hindurcharbeitete, stie� ich auf Unterlagen �ber einige Transaktionen der Organisation. Bis vor kurzem kaufte Love, Love, Love und Love in gro�em Ma�stab unterirdische Liegenschaften auf – zumeist veraltete und nicht mehr in Gebrauch stehende Teile des Kanalsystems und einige Tunnelabschnitte, die von der Eisenbahn nicht mehr benutzt werden. Ich habe keinen Zweifel, dass dies von Interesse f�r Dich ist, obwohl ich selbst im Moment keine Bedeutsamkeit darin erkennen kann.

Ich werde danach trachten, mehr dar�ber herauszufinden, wann immer ich dazu in der Lage bin, doch gerade jetzt muss ich sehr vorsichtig zu Werke gehen. Ich stehe unter dauernder Beobachtung und w�rde f�r den Fall, dass man den wahren Zweck meines Hierseins entdeckt, keinen Deut mehr f�r meine Sicherheit geben. Wann darf ich denn wieder weg? Ich f�hle mich zusehends wie die unbedarfte Heldin eines Groschenromans, die blau�ugig ins Verderben rennt.

Jetzt muss ich aufh�ren. Das Alleinsein hat ein Ende, ich h�re meine W�rterin kommen.

C.


SECHZEHN

Kein lebender Mensch kannte die Stadt besser als Thomas Cribb. Wie ein langj�hriger treuer Liebhaber war ihm jede ihrer Rundungen und Spalten, jede �ffnung, jeder Winkel bekannt – all die intimen Pl�tzchen ihres Leibes; er war H�ter ihres geheimen, verborgenen Bereichs. Und so war Cribb imstande, innerhalb weniger Stunden jede Person in London aufzusp�ren – vom einfachsten Stra�enkehrer bis zum h�chsten Aristokraten, ganz gleich, wie spurlos verschwunden sie sich auch glaubten. Er durfte sich r�hmen, bei zahlreichen Gelegenheiten die Polizei in genau dieser Hinsicht unterst�tzt und so Dutzende gesuchte Verbrecher vor den Richter gebracht zu haben – Kriminelle, die sich in eitler Selbst�bersch�tzung f�r alle Zeiten unauffindbar gew�hnt hatten.

Aber mit Ned Love war es eine andere Sache. Fast schien es, als w�rde die Stadt selbst ihn verstecken. Noch nie zuvor hatte sich jemand als so schwer fassbar erwiesen – nicht einmal in jener fernen Zukunft, wenn (so versicherte mir Cribb) die Stadt noch dichter bev�lkert sein w�rde als heute.

Folglich war es tags darauf schon sp�t am Nachmittag, als Moon und der Schlafwandler von dem h�sslichen Mann Nachricht erhielten, und die D�mmerung war l�ngst hereingebrochen, als sie endlich auf der Schwelle des Heims ihrer Jagdbeute standen.

Ned Love lebte in einem �rmlichen, sch�bigen Viertel, und sein Haus mit den vernagelten Fenstern und der verriegelten T�r machte den Eindruck v�lliger Verlassenheit – was so weit ging, dass der Schlafwandler �rgerlich die Vermutung kritzelte, Cribb k�nnte sie an der Nase herumgef�hrt und aus reiner Bosheit auf diese vergebliche Expedition geschickt haben.

Moon ignorierte diese Unterstellung und klopfte, so fest es ging. �Mister Love!�

Der Riese blickte sorgf�ltig in alle Richtungen, um sicherzugehen, dass man sie nicht beobachtete. In einer Gegend wie dieser war es gewiss nicht ratsam, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Gerade wollte Moon wieder rufen, als sich die Klappe des Briefeinwurfs knarrend �ffnete. Misstrauische Augen guckten heraus. �Gehen Sie weg!�, kr�chzte eine Stimme.

�Mister Love?�

�Wer will das wissen?�

�Mein Name ist Edward Moon. Dies ist mein Partner, der Schlafwandler.�

�Brauche keine Besuche. Hab keine Zeit f�r G�ste.�

Moon sah das Haus an: bauf�llig und mit geschlossenen Fensterl�den, als w�rde es nur auf seinen Abbruch warten. Es erstaunte selbst ihn (dem eine unkonventionelle Unterkunft keineswegs fremd war), dass irgendjemand ernsthaft daran denken k�nnte, hier zu wohnen.

�Wir m�ssen mit Ihnen sprechen�, erkl�rte Moon eindringlich. �Es k�nnte um viele Menschenleben gehen.�

�Machen Sie, dass Sie wegkommen. Sie k�nnen nicht rein. Ich mache nicht auf.�

�Ich habe … ein paar Fragen. Betreffend den Dichter.�

�Dichter? Ich kenne keinen Dichter.�

�Sie kannten ihn, als Sie ein kleiner Junge waren�, gab Moon barsch zur�ck; seine Geduld ersch�pfte sich zusehends. �Ich habe keine Zeit f�r Spielchen. Wenn meine Quellen zuverl�ssig sind, dann bleiben uns nur etwas mehr als vierundzwanzig Stunden, bevor es zum Angriff auf die Stadt kommt.�

�Dann ist es also soweit?� Er murmelte noch etwas, aber zu leise, um von den beiden vor der T�r geh�rt zu werden. Dann f�gte er hinzu: �Das habe ich schon bef�rchtet.�

Moon b�ckte sich, um durch den Briefeinwurf zu sprechen. �H�ren Sie, Mister Love, das ist nicht die angenehmste Art, diese Unterhaltung zu f�hren. Bitte lassen Sie uns ein. Wir brauchen Ihre Hilfe.�

�Warten Sie.� Die Augen verschwanden, der Einwurfschlitz wurde zugeklappt, und das darauffolgende Knarren und Rasseln verriet das �ffnen zahlloser Schl�sser, Ketten und Riegel. All dies dauerte weit l�nger als erwartet – selbst Barabbas war in den Mauern von Newgate nicht so sicher verwahrt gewesen wie Ned Love in seinem Heim. Im Fall eines Feuers h�tte es keine Rettung f�r ihn gegeben, denn noch vor dem �ffnen seiner eigenen Haust�r w�re er l�ngst darin umgekommen. Moon machte sich eine geistige Vormerkung, Skimpole nichts von diesem Umstand zu erz�hlen, denn in Anbetracht der Vorliebe des Mannes f�r Brandstiftung mochte es ihn auf h�ssliche Ideen bringen …

Zu guter Letzt ging die T�r doch noch auf, und ein sehr alter Mann wagte sich auf die Schwelle. Sein Gesicht war faltig und voller Runzeln wie ein verschrumpelter Apfel; er trug einen betagten braunen Anzug, an dem unverwechselbare Spuren darauf hinwiesen, dass h�ufig darin geschlafen wurde, und hielt eine halbleere Flasche einer gef�hrlich billigen Whiskymarke in der Hand. �Mein Name ist Love�, sagte er nicht ohne W�rde. �Aber Sie d�rfen mich Ned nennen.�

Sie folgten ihm ins Haus hinein, und er f�hrte sie �ber die Diele, die nach Schimmel und Tierhaaren roch, in einen Raum, der irgendwann einmal ein recht ansehnliches Wohnzimmer gewesen sein musste. Hatte je eine Gasleitung ins Haus existiert, so war sie wohl seit langem unterbrochen, denn nun wurde das Zimmer von etwa einem Dutzend Kerzen erhellt, die lustlos im Halbdunkel flackerten und ihr Wachs auf den Boden tropften. Ein kleiner Ofen stand in der Mitte des Zimmers, an einer Wand h�uften sich Unmengen von zusammengeschobenen Decken, und die verdorbenen �berreste etlicher Mahlzeiten lagen verstreut auf dem Boden herum. Muss Ungeziefer geradezu magnetisch anziehen, dachte der Schlafwandler (dessen Sinn f�r Sauberkeit und Hygiene nach Jahren gewissenhaftester Haushaltsf�hrung durch Mrs Grossmith aufs �u�erste gesch�rft war).

�Bitte nehmen Sie Platz, meine Herren.� Love wieselte um die Besucher herum und flitzte dabei mit einer Behendigkeit �ber die verstreuten Abf�lle, die sein fortgeschrittenes Alter L�gen straften. �Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?�

�Das, was Sie auch nehmen�, sagte Moon.

Von irgendwoher holte Love ein schmieriges Glas hervor und goss ein Schl�ckchen Whisky hinein. �Und Ihr Freund?�

MILCH

�Milch?� Der Alte staunte. �Lieber Himmel, was f�r ein ausgefallener Wunsch! Nun, es soll nicht hei�en, dass Ned Love nicht alles f�r seine Besucher tut. Ob sie nun eingeladen sind oder nicht.� Nachdem er eine Weile unter seinen Decken und Kissen gew�hlt und dabei ganze Wolken von Staub und Federn hochgeschleudert hatte, zauberte er eine schmutzige Milchflasche hervor, die noch etwa zu einem Viertel mit einer graugr�nen Fl�ssigkeit gef�llt war. Er reichte sie dem Schlafwandler. �K�nnen Sie gerne haben�, sagte er skeptisch, �aber f�r die Qualit�t kann ich mich nicht verb�rgen.�

Der H�ne ergriff die Flasche, schn�ffelte mit kaum verhohlenem Ekel daran und stellte sie daraufhin diskret zur Seite.

�Also, meine Herren�, begann Love, als alle Platz genommen hatten, �was kann ich f�r Sie tun? Ich h�tte Sie zwar nicht einlassen d�rfen, aber Sie schienen so erpicht darauf, mit mir zu reden. Soll ich mich geschmeichelt f�hlen? Wissen Sie, schon die Tatsache, dass Sie mich �berhaupt gefunden haben, spricht B�nde f�r Ihre Hartn�ckigkeit.�

�Warum leben Sie in solchen Verh�ltnissen?�, erkundigte sich Moon.

�Ich wei�, Sie finden das bestimmt unbegreiflich. Ich finde das manchmal auch, wenn ich morgens von dem einen oder anderen kleinen Tier geweckt werde, das an meinem Zeh knabbert und sich am Nagelh�utchen zu schaffen macht, als w�r’s ein Fr�hst�cksei. Ned, sage ich mir dann, Ned, alter Junge, warum lebst du eigentlich so? Lieber Himmel, das ist ja unw�rdig! Du hast dir doch so viel mehr vorgenommen!�

Moon hob eine Augenbraue. �Ganz recht.�

�Wissen Sie, nachdem man mich ausgeschlossen hat, war es immer meine Absicht, mich g�nzlich von der Welt abzuschirmen. Mir kam die Idee, Eremit zu werden, und zwar hier mitten in der Stadt. Ein Einsiedler nach alter Gepflogenheit. Ich beschloss, der materialistischen Welt zugunsten eines Lebens frommer Betrachtung abzuschw�ren, denn ich hatte die ewige Wahrheit entdeckt, dass man nicht Gott und dem Mammon zugleich dienen kann. Ich hatte gehofft, nie wieder zu einer Menschenseele sprechen zu m�ssen oder sie auch nur zu Gesicht zu bekommen, aber ich habe die Sache wohl nicht sorgf�ltig genug durchdacht. Ich muss ja doch h�ufige Abstecher nach drau�en machen – f�r Lebensmittel, Sie verstehen. Also nur f�r das absolut Notwendige! Ich geh�re nicht zu dieser Art von Einsiedlern, die jedes Mal, wenn ihnen nach frischem Brot ist, hinausst�rmen in die weite Welt! Ganz gewiss nicht. Nein, nein, ich bin sehr streng mit mir, gebe mir M�he, meine Beutez�ge auf einmal pro Woche zu beschr�nken. Wie auch immer: es bedeutet, dass ich ganz und gar kein musterhafter Eremit bin. Und das ist bei weitem nicht meine einzige S�nde. Ich bekomme auch Besuch. Von M�nnern wie Ihnen. Genaugenommen sollte ich ja �berhaupt nicht sprechen. Und so habe ich in letzter Zeit angefangen, mich zu fragen, ob ich eigentlich f�r ein Leben in Abgeschiedenheit geschaffen bin. Sei’s drum, ich h�re nicht auf, danach zu streben. Wie Sie wissen, hat der heilige Simeon siebenunddrei�ig Jahre auf einer S�ule verbracht. Hinterher behauptete er, es w�ren die besten Jahre seines Lebens gewesen. Unglaublich, finden Sie nicht? Absolut unglaublich!�

�Mister Love�, sagte Moon behutsam, �ich muss Ihnen einige ganz bestimmte Fragen stellen. Sie erw�hnten, dass man Sie ›ausgeschlossen‹ hat. D�rfen wir annehmen, dass sich das auf die Organisation Love, Love, Love und Love bezog?�

Der Alte antwortete nicht gleich, sondern nahm erst einen ger�uschvollen Schluck aus der Flasche. �Also wissen Sie von dem Unternehmen? Meine G�te, waren Sie aber flei�ig! Was wissen Sie noch? Oder sollte ich besser sagen …� Er wischte sich mit dem schmierigen �rmel seiner Jacke den Mund ab. �Was glauben Sie zu wissen?�

�Also ich wei�, dass die Stadt in unmittelbarer Gefahr ist – und zwar durch eine Verschw�rung, die von Love mit dem geheimen Einverst�ndnis einer religi�sen Gruppierung namens Kirche des Sommerk�nigreichs gelenkt wird. Und ich wei� auch, dass dieselbe Organisation f�r den Tod Cyril Honeymans und Philip Dunbars verantwortlich ist, f�r das Verschwinden der M�tter dieser beiden M�nner, f�r die T�tung von Barabbas in Newgate und f�r den Mordversuch an den Spitzen des Direktoriums. Ich wei�, dass diese Leute durch und durch skrupellos sind und vor nichts haltmachen, um ihre Ziele zu erreichen. Das einzige, wovon ich nichts wei�, ist die Beschaffenheit ihrer Pl�ne.�

�Oder vom Warum�, hauchte Love. �Davon wissen Sie auch nichts.�

�Dann streiten Sie es gar nicht ab?�

�Was soll ich abstreiten?�

�Dass das Unternehmen, das Ihren Namen tr�gt, hinter all dem Blutvergie�en steckt.�

�Ich hatte gehofft und gebetet, sie w�rden nicht so weit absinken�, seufzte Love. �Sie m�ssen mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass das Unternehmen in seiner gegenw�rtigen Form die urspr�ngliche Zielsetzung aufs sch�ndlichste entstellt.� Er hielt inne, um tief Atem zu holen. �Sie haben ohne Zweifel bereits erraten, dass ich der Gr�nder von Love, Love, Love und Love bin.�

�Ja, das hatten wir bereits angenommen.�

�Dann werden Sie auch wissen, dass die Organisation im Einklang mit den Vorgaben gegr�ndet wurde, die Samuel Coleridge in seinem Testament festgelegt hatte. Um Ihnen seine Motive f�r einen so sonderbaren Wunsch begreiflich zu machen, sollte ich mit meinen Erkl�rungen vielleicht weiter ausholen.�

�Ich bitte Sie darum. Und seien Sie so gewissenhaft und genau wie nur irgend m�glich.�

Der alte Mann nahm wieder einen gro�en Schluck aus der Flasche. �Sie haben nat�rlich ganz recht, ich kannte den Dichter, als ich ein Kind war. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er bei einem freundlichen Arzt – einem gewissen Doktor Gillman in Highgate. Seine Tochter wohnt immer noch dort. H�bsches M�dchen. K�nnte Ihnen wahrscheinlich viel mehr �ber diese Zeit erz�hlen als ich. Mein Ged�chtnis l�sst schon ein wenig nach.�

�Sie war es, die uns von Ihnen berichtet hat.�

Aber Love schien das nicht geh�rt zu haben. �Als ich Coleridge kennenlernte, war ich etwa acht oder neun. Kam aus einer einfachen Familie und war in meiner Jugend ein rechter Wirrkopf – war nicht weit her mit dem Lernen. Hatte von fr�h auf eher ein Auge aufs Geldverdienen. Die Gillmans stellten mich des �fteren als Laufburschen ein und f�r Gelegenheitsarbeiten, Handreichungen im Haus, Dinge in der Art.� Wieder ein Schl�ckchen. �Ich hatte schon einen Monat dort gearbeitet, als ich den Dichter zum erstenmal sah. Er wohnte oben im Dachst�bchen und blieb zumeist in seinem Bett. Sie m�ssen bedenken, dass er zu diesem Zeitpunkt schon stark opiums�chtig war. Gillman versuchte zwar alles in seiner Macht Stehende, um dieses krankhafte Verlangen zu d�mpfen, aber soweit ich es feststellen konnte, hatte es keinen Zweck. Der alte Mann war bereits hoffnungslos in den F�ngen des Gifts. Und gerade diese Sucht war es, die mich zum ersten Mal zu ihm f�hrte. Ich hatte irgendeinen kleineren Auftrag f�r die Frau des Doktors erledigt, als Coleridge mich nach oben rief. Er h�tte einen Botengang f�r mich, sagte er, und w�rde mich gro�z�gig entlohnen. Er trug mir auf, rasch zum Laden zu laufen und etwas zu kaufen, was er als seine ›Medizin‹ bezeichnete. Er nannte das Kind nie beim Namen, Sie verstehen. In dieser Hinsicht war er regelrecht abergl�ubisch. Jedenfalls tat ich wie gehei�en. Gillman sah nicht hin, der Alte bekam, was er wollte, und alle waren es zufrieden. Daraus wurde dann eine Gewohnheit, und mit der Zeit freundeten wir uns an, der Dichter und ich, und wurden sogar so etwas wie gute Kameraden. Er redete gern, wissen Sie – er war einfach gro�artig, wenn’s ums Plaudern ging –, und ich war sein Lieblingspublikum.� Love seufzte. �Was er mir alles erz�hlt hat … Als ich ihn kennenlernte, war er schon dem Tode nahe, aber immer noch h�rte man ihm hingerissen zu. Unvorstellbar, wie er erst auf der H�he seiner Schaffenskraft gewesen sein mag.� Und wieder eine kurze Einkehr bei der Flasche.

�Er erz�hlte von den Abenteuern seiner Jugend, von seinem schrecklichen Dienst in der Armee und von der Universit�tszeit, wobei er den Geist Thomas Grays heraufbeschwor. Meine G�te, konnte der Mann ein Garn spinnen! Mir war nat�rlich klar, dass seine Geschichten h�chstwahrscheinlich �bertrieben waren, ausgeschm�ckt um der Wirkung willen, aber trotzdem saugte ich alles auf wie ein Schwamm. Welcher Junge h�tte das nicht getan? Er nahm mich sogar in die Ferien mit. Wir gingen zusammen am Strand von Ramsgate spazieren. Aber wovon er am meisten sprach, das war ein alter Traum von ihm – etwas, das er sich als junger Mann zusammen mit seinen besten und engsten Freunden ausgedacht hatte. Pantisokratie. So nannten sie es. Bestimmt haben Sie den Ausdruck schon geh�rt.�

Moon sch�ttelte den Kopf.

�Es handelte sich um einen Plan von au�erordentlicher K�hnheit, ein Versuch, so sagte er, das Ausma� menschlicher Vervollkommnungsf�higkeit auszuloten. Sie waren zu zw�lft, die Freunde, kamen ganz frisch von der Universit�t. Hatten vor, England zu verlassen. In Amerika, am Ufer eines Flusses namens Susquehanna wollten sie eine perfekte Gesellschaft schaffen und vollst�ndig unabh�ngig von fremder Hilfe leben. Es sollte ein Utopia werden, aufgebaut auf Landwirtschaft und Dichtkunst. Sie dachten, sie w�rden beim Holzhacken abstrakte Themen diskutieren, Verse besprechen bei der B�ffeljagd, Sonette verfassen, w�hrend sie hinter dem Pflug hergingen.� Love lachte auf, offenbar nahe daran, vor Schadenfreude in die H�nde zu klatschen. �Herrlich! Ganz, ganz wunderbar!�

�Es klingt f�rwahr gro�artig�, fuhr Moon dazwischen, �wenngleich ein wenig zu idealistisch.�

�Tja, da haben Sie’s schon. Das ist der Haken daran. Es h�tte nie funktionieren k�nnen. Sie zankten sich wegen des Geldes, konnten nicht genug Mittel f�r die Reise aufbringen. Das ganze Projekt wurde fallengelassen.�

�Aber ich f�rchte, ich sehe immer noch keine Verbindung zum Unternehmen Love.�

�Das hoffnungslose Scheitern der Pantisokratie war zum gr��ten Kummer im Leben des alten Mannes geworden, und als es dem Ende zuging, beherrschte es sein ganzes Denken. Er hatte das Gef�hl, seine einzige Gelegenheit, die Welt zum Besseren zu ver�ndern, vers�umt zu haben. Und als wir uns anfreundeten, kam dem Alten irgendwie der Einfall, dass ich sein Nachfolger sein sollte, dass es mir beschieden sein w�rde, Erfolg zu haben, wo er versagt hatte. Dass ich der Pantisokratie neues Leben einhauchen w�rde. Ich wusste nat�rlich, dass er fast schon im Sterben lag, also tat ich das einzig Anst�ndige und sagte ihm, was er h�ren wollte – dass ich alles in meiner Macht Stehende tun w�rde, um das Vorhaben auszuf�hren, dass ich nach Amerika gehen und sein Phantasiegebilde verwirklichen w�rde. Alles Quatsch, soweit es mich betraf, aber wenn es einen Todgeweihten gl�cklich machte, dann war wohl nichts dagegen zu sagen. Was ich dabei nicht erwartete: Coleridge war zwar kein wirklich reicher Mann, aber alles, was er besa�, hinterlie� er mir, und ich konnte sp�ter, bei meiner Vollj�hrigkeit, dar�ber verf�gen, wie es mir gefiel. So ist es nur der Gro�z�gigkeit des alten Mannes zu verdanken, dass ich auf eine Universit�t gehen konnte. Ein Teil des Verm�gens sollte jedoch der Gr�ndung eines Unternehmens vorbehalten sein, das sich der Wiedererweckung seines Pantisokratie‐Traums widmete. In seinem Testament war festgelegt, dass es meinen Namen tragen sollte. Ich sehe, dass sie sich fragen, Mister Moon, wo die anderen drei Loves im Firmennamen herkommen. Nun, zu der Zeit hatte ich noch S�hne.� Bei der Erw�hnung seiner Familie griff er wieder zur Flasche.

�Ich schloss die Universit�t mit Erfolg ab und entdeckte zu meiner gro�en Verbl�ffung, dass ich mit Zahlen gut umgehen konnte. Also tat ich wie gehei�en und gr�ndete das Unternehmen, wie Mister Coleridge es verf�gt hatte. Aber ich konnte kein rechtes Interesse an der Pantisokratie aufbringen, und w�hrend die Organisation scheinbar seinen Absichten und Vorstellungen treu blieb, gelang es mir, �ber die Jahre zu viel Geld zu kommen. Ich legte es in Immobilien an und spekulierte an der B�rse. Auf dem Gipfel des Erfolgs hatte das Unternehmen fast hundert Angestellte, und wir machten betr�chtliche Gewinne.�

�Und um des Geldes wegen haben Sie die Ideale Ihres Wohlt�ters verraten!�

Love schien aufgebracht. �Harte Worte, Mister Moon! Sehr harte Worte. Sie m�ssen verstehen, dass der alte Mann sehr krank war, bevor er starb; manche w�rden sagen, er war auch nicht mehr ganz richtig im Kopf. Ich habe jedenfalls mit meinem Erbe getan, was in meinen M�glichkeiten stand – habe es verdoppelt, ja vervielfacht. Und ich bin weder geizig noch selbsts�chtig. Ich ging gro�z�gig mit den Ertr�gen um. Es gab eine Zeit, da geh�rte ich zu den bekanntesten Wohlt�tern ganz Londons! Ich hatte ein schlechtes Gewissen, aber ein paar Tausender im Jahr schaffen da Abhilfe.�

�Und wie ging es weiter?�

�Vor f�nf Jahren war es dann vorbei mit den goldenen Zeiten. Ich war nicht mehr jung genug, um die Organisation zu f�hren, und sie war ein wenig altersschwach geworden, genau wie ich. Aber keiner meiner Jungen zeigte echtes Interesse an einer Nachfolge. Ich war am Ende meiner Weisheit, als eine Personengruppe an mich herantrat. Sie w�ren M�nner Gottes, behaupteten sie, Beauftragte einer Organisation namens Kirche des Sommerk�nigreichs. Ich sehe schon, dass Ihnen der Name etwas sagt. Zuf�llig sagte er auch mir etwas, denn ich hatte mehr als einmal f�r ihre Sache gespendet. Die M�nner, die mit mir verhandelten, hie�en – so unglaubw�rdig es klingt Donald McDonald und Doktor Tan. Sie sagten, sie w�ren Verehrer von Mister Coleridge, sagten, sie bewunderten den Mann und brachten mich fast in Verlegenheit mit ihrer �bertriebenen Ehrerbietung mir gegen�ber – einem der letzten Zeitgenossen, sagten sie, die den Dichter noch pers�nlich gekannt hatten. Sie wussten alles von dem Testament, von den Pl�nen des alten Mannes f�r das Unternehmen, und sie machten mir ein Angebot. Sie versprachen, Love mit all seinen bisherigen T�tigkeiten weiterzuf�hren, das Personal in ihren Diensten zu behalten und mich als Ehrenpr�sidenten einzusetzen – unter der einen Bedingung, dass wir uns wieder Coleridges urspr�nglichen Zielsetzungen zuwandten. Sie planten sogar, zur gegebenen Zeit als Pantisokraten zu leben! Es war die arglose Schw�che eines alten Mannes, und zweifellos halten Sie mich jetzt f�r t�richt, aber ich glaubte ihnen aufs Wort. Jetzt sehe ich, dass es redegewandte Schurken waren. Ich war damals der Gesch�fte ohnehin �berdr�ssig, und ich f�hlte mich schuldig, also �berlie� ich ihnen ein gewisses Ma� an Einfluss. Damals schien es das Richtige zu sein.�

�Lassen Sie mich raten�, warf Moon ein. �Die Kirche �bernahm die Z�gel zur G�nze und dr�ngte Sie aus dem Unternehmen.�

�Sie warfen mich auf die Stra�e! Danach meinte ich, der einzige Weg, der mir noch offen st�nde, w�re jener der Bu�e und Meditation. Und so finden Sie mich hier als erfolglosen Klausner.�

�Konnten Sie sich denn nicht wehren? Das Unternehmen selbst geh�rte doch gewiss noch Ihnen!�

�Sie hatten gewiefte Anw�lte. In meiner Dummheit hatte ich Dokumente unterschrieben, die diesen Leuten das Unternehmen v�llig in die Hand gaben. Ich muss es gestehen: Man hat mich gr�ndlich �bert�lpelt. Ich hatte mir einen Kuckuck ins Nest gesetzt. Und auch meine eigenen Jungen standen v�llig in ihrem Bann. Wie mir zu Ohren kam, spielten sie bei meinem Untergang eine tragende Rolle, obwohl ich das bis heute nicht recht glauben will. K�nnen Sie es mir also nachsehen, wenn ich mich jetzt hier vergrabe?� Er griff wiederum nach der Whiskyflasche und trank sie leer.

�Nur Mut, Mister Love. Welche Ver�nderungen wurden in der Organisation durchgef�hrt? Von diesem McDonald, diesem Reverend Tan?�

�Das sind nicht ihre wirklichen Namen, oder?�, fragte Love einigerma�en resigniert.

�Ganz sicher nicht. Aber sagen Sie mir, was passierte mit Love, Love, Love und Love weiter?�

�Von Anfang an hielten sie sich nicht an ihr Wort. Sie entlie�en einen Gro�teil der Belegschaft und brachten ihre eigenen M�nner unter – und sogar Frauen, wenn man den Ger�chten Glauben schenken kann. Ein wahrhaftig kurioser Haufen, mein Wort drauf! Seltsame Kerle, alle miteinander. Manche sahen aus, als h�tte man sie geradewegs aus dem Rinnsal aufgelesen – und wie ich Tan kenne, w�rde ich ihm das ohne weiteres zutrauen. Und dann fingen sie an zu bauen. Unterirdisch. Unterk�nfte, sagten sie, f�r die Angestellten. Zu der Zeit, als ich rausflog, lebten die meisten von ihnen schon dort. Und dann die Sache mit den Namen! Pl�tzlich hatten sie etwas gegen die Namen ihrer Leute, und sie fingen an, darauf zu bestehen, dass jedermann eine Nummer bekam. Abwegig. Abwegig und h�chst unchristlich. Ich w�nschte, ich h�tte etwas dagegen tun k�nnen.�

�Ich habe jemanden in der Organisation, auf den ich mich verlassen kann�, sagte Moon, �und so, wie es aussieht, hat sich dort seit Ihrem Abgang alles noch weiter zum Schlechteren gewendet.�

�Zum Schlechteren?�

�Jetzt hat man den Eindruck, es ist mehr ein Gef�ngnis als ein Unternehmen. Mittlerweile tragen s�mtliche Mitarbeiter Nummern. Wie Schlachtvieh. Und sie alle scheinen auf etwas zu warten. Wie eine Armee vor dem entscheidenden Kampf, so hat man es mir geschildert. Sagen Sie mir, Mister Love: Was haben diese Leute vor?�

Love wirkte von der langen, anstrengenden Rede ersch�pft. Au�erdem machte sich der Alkohol bemerkbar. Er lie� sich schlaff zur�ckfallen. �Das wei� ich nicht genau. Einmal machte Tan nach ein paar Gl�sern merkw�rdige Andeutungen �ber seine wahren Pl�ne. Damit h�tte der alte Coleridge keine Freude gehabt, das kann ich Ihnen versichern. M�glicherweise habe ich nicht das gemacht, was er sich w�nschte, aber ich w�rde nie so weit gehen wie diese Kirche. Ich bin sicher, es ist etwas Schreckliches im Gange. Aber sagen Sie mir, wer ist dieser Vertraute, den Sie bei Love haben?�

�Meine Schwester.�

�Ihre Schwester?� Entsetzt taumelte Love auf die F��e, nur um wieder das Gleichgewicht zu verlieren und zusammenzusinken. �Du meine G�te, Sie haben keine Ahnung, was Sie damit angerichtet haben!�

�Weshalb denn?�

Love sch�ttelte den Kopf. �Wie konnten Sie Ihre eigene Schwester dort hineinschicken? Sie m�ssen sie sofort wieder herausschaffen! Sie ist in h�chster Gefahr!�

�In Gefahr?�

�Diese Leute haben so ihre Methoden, andere … umzudrehen. Sie sind ungemein �berzeugend. Ihre Schwester ist nicht sicher dort! Sie m�ssen Sie augenblicklich zur�ckholen!�

�Ist das Ihr Ernst?�

�Gehen Sie auf der Stelle, meine Herren! Ich werde hier auf Sie warten.�

Moon stand auf und bedeutete dem Schlafwandler, ihm zu folgen. �Wir kommen wieder.�

�Bitte beeilen Sie sich! Ich k�nnte es nicht ertragen, wenn irgendetwas Furchtbares passiert.� Loves Sprechweise war jetzt schleppend und undeutlich geworden, und nach dem letzten Wort rollte er sich langsam auf den R�cken, wie es aussah, kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.

So verlie�en ihn Moon und der Riese und hasteten im Laufschritt zur�ck in die Altstadt und zu den schwarzen Toren von Love.


Die Archivarin war im Begriff, eine Serie von Berichten �ber den ber�chtigten Finchley‐Kannibalen von 1864 abzulegen, und �berlegte soeben, sich heute fr�her zur Nachtruhe zu begeben, als sie von einem pl�tzlichen Ger�usch aufgeschreckt wurde: dem unverwechselbaren Getrampel und Gepolter eines Besuchers, der sich in die D�mmerung ihres Reichs vortastete.

�Archivarin?� Die Stimme klang bekannt.

�Mister Skimpole? Sind Sie das?�

Wiederum heftiges Geklapper. Seltsam. Gerade dieser Besucher war sonst immer so still, fast katzenhaft in seinen Bewegungen. �Ja, ich bin es.�

�Ist jemand bei Ihnen?�

�Mein Sohn�, erkl�rte die Stimme.

Die Archivarin war ver�rgert. �Sie kennen doch die Vorschriften! Au�enstehende Besucher sind nicht zugelassen! Au�erdem m�chte ich anmerken, dass es schon sehr sp�t ist und dass Sie keinen Termin hatten.�

�Ich brauche Ihre Hilfe!�

Etwas an seiner Stimme war anders als sonst; sie klang so heiser, rau und gehetzt wie noch nie zuvor.

�Ich bitte um Vergebung. M�glicherweise habe ich durch mein Kommen sogar Ihr Leben in Gefahr gebracht.�

�Sie reden wirres Zeug, Mister Skimpole.�

�Das Direktorium ist in Gefahr! Dedlock und ich … Wir sind das Ziel! Jemand hat einen Meuchelm�rder auf uns gehetzt. Einen bezahlten M�rder, den sie ›Mongoz‹ nennen.�

Die alte Frau gab sich M�he, nicht zu l�cheln.

�Und das Schlimmste ist�, fuhr Skimpole fort, �dass ich … gesundheitlich nicht auf der H�he bin. Ich h�tte Sie schon gestern aufsuchen sollen, aber ich f�hlte mich so unendlich matt.�

�Und wie kann ich Ihnen helfen?�, fragte die Archivarin schlie�lich, als sie sp�rte, wie ernst der Besucher seine Lage einsch�tzte.

�Ein Schritt der Verzweiflung, f�rchte ich. Ich muss unbedingt mit bestimmten Personen in Verbindung treten.�

�Mit wem?�

�Ich werde ihre Namen hier nicht aussprechen, aber Sie wissen, wen ich meine.�

�Ich nehme es an.�

�Ich brauche das Verzeichnis.�

�Stehen die Dinge wirklich so schlimm?�

�Noch schlimmer.�

Die Archivarin versuchte, ihn zu warnen. �Es wird Ihnen nicht m�glich sein, sie unter Kontrolle zu halten.�

�Ich bitte Sie inst�ndig!�

�Mister Skimpole, sie sind unglaublich gef�hrlich! Sie verursachen nur Chaos und Zerst�rung! Niemand hat sie je eingesetzt, der unbeschadet davongekommen w�re!�

Jemand hustete; das Kind.

�Bitte!�, flehte Skimpole. �Mein Sohn ist krank.�

Die Alte seufzte. �Also kommen Sie mit.� Sie ging voran ins ewige Halbdunkel der hinteren R�ume. �Ich halte es stets unter Verschluss. Es steht auf der Verbotsliste des Innenministeriums, das wissen Sie. Ein Schwarzbuch. Meiner Meinung nach verk�rpert es selbst hier eine Gefahr.� Sie blieb vor der Glast�r eines Schranks stehen, �ffnete das Schloss mit dem Schl�ssel, der von ihrem Hals hing, und nahm ein schmales ledergebundenes Buch heraus. �Ich hatte gehofft, es nie wieder hervorholen zu m�ssen.�

Skimpole riss es ihr fast aus der Hand. �Ich bin Ihnen so dankbar!�

�Alles, was Sie brauchen, steht hier drinnen. Aber seien Sie vorsichtig. Sie werden l�gen und sich alle M�he geben, Sie reinzulegen. Was Sie auch immer von ihnen verlangen, sie werden es so drehen, dass es zu ihrem eigenen Vorteil ist!�

Aber ihre Warnung fiel auf taube Ohren; der Albino und sein Sohn hatten ihr schon den R�cken zugedreht und k�mpften sich lautstark die Stufen nach oben.

Als die Archivarin den Schrank wieder versperrte, versp�rte sie pl�tzlich die eisige Gewissheit, dass sie Mister Skimpole zum letzten Mal gesprochen hatte.


Das imposante Foyer von Love, Love, Love und Love hatte die Ausma�e und die Form eines Ballsaals; sein Fu�boden bestand aus Marmor, und es war erf�llt von nichts als Widerhall und Leere. In der Mitte des Raums befand sich eine kunstvolle Einlegearbeit im Boden; Moon und dem Schlafwandler fehlte der notwendige Abstand, aber h�tten sie es von einem h�heren Punkt aus betrachtet – etwa aus der sprichw�rtlichen Vogelperspektive – w�re ihnen das Bild sofort bekannt vorgekommen: eine Blume mit f�nf schwarzen Bl�tenbl�ttern, ausgef�hrt in Marmor und dunklem Stein. Am anderen Ende des Saals – in dem sich keines jener wirbelnden Paare zeigte, f�r die er offensichtlich vorgesehen war – sa� als kleiner dunkler Punkt ein M�nnchen hinter einem Empfangstisch.

Es sah auf, als Moon und der Riese eintraten und warf ihnen einen fl�chtigen Blick zu, bevor es die beiden mit jenen abf�llig herabgezogenen Mundwinkeln, die Menschen seines Schlages kennzeichnen, als belanglos abtat. Das Klack‐klack ihrer Schuhe t�nte laut und aufdringlich wie Pistolensch�sse, als Moon und der Schlafwandler auf ihn zuschritten. Der kleine Mann schnalzte missbilligend mit der Zunge.

�Mein Name ist Edward Moon.�

�In der Tat?�, fragte der Mann h�flich – ja geradezu �bertrieben h�flich; dennoch gelang es ihm, den Eindruck zu vermitteln, dass er f�r alle, die auf der falschen Seite seines Tisches standen, nichts als tiefste Verachtung �brig hatte.

�Ich m�chte eine Ihrer Angestellten sprechen�, erkl�rte Moon.

�Oh?� Die Ungl�ubigkeit im Tonfall des Mannes legte nahe, dass Moon so etwas wie eine Privataudienz im Vatikan gefordert hatte. �Hat der Herr einen Termin?�

�Nein.�

�Dann bin ich leider nicht in der Lage, Ihnen zu helfen.�

�Es handelt sich um meine Schwester …�

�Hier bei Love, Sir, ben�tigt man auch dann einen Termin, wenn man seine Schwester besuchen m�chte.� All das gab er in dem gleichen k�hlen, aufreizend mechanischen Tonfall von sich – v�llig ausdruckslos und trotzdem mit einem Hauch kaum verh�llter Belustigung.

Moon lie� nicht locker. �Kann ich einen Termin vereinbaren?�

�Selbstverst�ndlich, Sir.� Mit einer schwungvollen Geb�rde legte er einen Bogen Kanzleipapier vor Moon hin. �Wenn der Herr so freundlich w�re, dieses Formular auszuf�llen … Aber vielleicht sollte ich erw�hnen, dass bis fr�hestens Mittwoch n�chster Woche niemand imstande sein wird, Sie zu empfangen.� Er beugte sich vor, wie um seinem Gegen�ber ein gro�es Geheimnis anzuvertrauen. �Dies ist die Zeit des Jahres, in der wir am meisten zu tun haben.�

�Ich muss sie aber heute noch sehen!� Moon konnte den aufgebrachten Tonfall nicht mehr unterdr�cken. �Ihr Name ist Charlotte Moon.�

�Es tut mir leid, Sir. Wir haben keine Person dieses Namens bei uns.�

�Ich wei�, dass sie hier arbeitet, Mann! Versuchen Sie nicht, mir den Weg zu versperren!�

�Ich versichere Ihnen, Sir, ich habe diesen Namen noch nie in meinem Leben geh�rt, und ich bin bestens vertraut mit s�mtlichen neunhundertachtundneunzig meiner Kollegen. Au�erdem mag es Ihrer Kenntnis entgangen sein, dass wir hier bei Love, Love, Love und Love ohne die l�stige Erfordernis von Namen auskommen. Hier erfreuen wir uns alle derselben wundervollen Bezeichnung, n�mlich ›Love‹. Ich selbst bin Love zweihundertf�nfundvierzig – obwohl ich meinen engsten Bekannten gestatte, mich Zweihundertf�nfundvierzig zu nennen.�

�Meine Schwester ist Love neunhundertneunundneunzig.�

Das M�nnchen hinter dem Empfangstisch l�chelte. �Der Herr muss sich irren. Love neunhundertneunundneunzig ist ein Verfasser r�hrseliger B�hnenst�cke, fr�her bekannt als ›Squib‹ Wilson.�

�Wurden Sie eigentlich schon so widerw�rtig geboren oder hat man es Ihnen erst hier beigebracht?�, fragte Moon.

�Ein klein wenig von beidem – so w�rde ich es ganz gern sehen.�

�Wo ist meine Schwester? Ich bin durchaus nicht abgeneigt, es aus Ihnen herauszupr�geln!�

245 war gekr�nkt. �Es besteht keine Notwendigkeit f�r den Herrn, sich zu Drohungen herabzulassen. Ich br�uchte nur die Aufmerksamkeit meiner Kollegen auf mich zu lenken, um sie zu meinem Schutz herbeieilen zu lassen. In der Folge w�rde man Sie des unbefugten Betretens des Hauses und des �bergriffs gegen einen Angestellten beschuldigen und vor Gericht stellen. Wir w�ren also durchaus in der Lage, gesetzlich gegen Sie vorzugehen. Der letzte Mann, der an meinem Tisch die falschen Fragen stellte, verbrachte danach neun Monate in einer Nervenheilanstalt. Und selbst jetzt noch ist er davon �berzeugt, dass der Labrador seiner Mutter vorhat, ihn umzubringen.�

�Ich w�nsche meine Schwester zu sehen!�

�Der Herr muss sich irren. Hier befindet sich keine Schwester des Herrn.�

�Ist sie unten, ist es das? In diesen Katakomben, die ihr da unten habt?�

Der kleine Mann auf der anderen Seite des Tisches sah den Schlafwandler an. �F�hlt sich Ihr Freund auch gewiss wohl?�

Der Riese starrte ihn durchdringend an.

�Es ist stets ein wenig unangenehm, etwas Derartiges anzudeuten, aber manchmal kommt man um die Frage nicht herum: Hat der Herr m�glicherweise getrunken?�

Unter Aufbietung all seiner Willenskraft schluckte Moon seine Wut hinunter und kehrte dem Mann den R�cken zu. �Ich komme wieder!�, rief er, als er dem Ausgang zustrebte. �Und ich schw�re, ich werde alles aufdecken, was hier vorgeht!�

�Einen sch�nen Tag noch, Sir! Ich bin untr�stlich, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte.�

Als Moon und der Schlafwandler bei der T�r angelangt waren, kam ein Mann herein und dr�ngte sich in seiner Eile, zum Empfangstisch zu kommen, achtlos an ihnen vorbei. Blitzsauber und in schmuckes Dunkel geh�llt, die Aktentasche fest an sich gepresst, erinnerte er an eine schwarze K�chenschabe, die man aufrecht hingestellt und in Kleider aus der Savile Row gewandet hatte. Jeder Zoll ein LoveMitarbeiter – aber kein Fremder, wie sich herausstellte.

Moon rief seinen Namen: �Speight!�

Der Mann drehte sich um; kein zerzauster Bart bedeckte mehr sein jetzt sogar angenehm wirkendes Gesicht, und der Staub der Stra�e war abgewaschen. Er starrte Moon und den Schlafwandler an wie fl�chtige Bekannte, die er seit Jahren nicht gesehen hatte und deren Gesichter nur mehr eine entfernte Erinnerung wachriefen, w�hrend ihm ihre Namen v�llig entfallen waren. �Kann ich Ihnen helfen?�

�Geben Sie sich keine M�he, Sir!�, rief der kleine Mann vom Empfangstisch her�ber.

�Es ist keine M�he.�

�Speight!�, rief Moon wieder. �Sie sind es doch, oder?�

Der Mann kam zu den beiden zur�ck. �Mister Moon, nicht wahr? Und der Schlafwandler.�

�Sie erinnern sich doch noch an uns.�

�Es w�re mir lieber, Sie w�rden mich Neunhundertdrei nennen�, sagte Speight unverbl�mt.

�Ich ziehe Speight vor.�

�Dann sind wir an einem toten Punkt.�

Der Schlafwandler schrieb etwas auf seine Tafel.

WARUM SIN SIE HIR

�Ich habe zu arbeiten�, antwortete Speight knapp. �Gegenw�rtig ist viel zu tun.�

�Das habe ich schon geh�rt�, sagte der Detektiv. �Aber was man mir nicht erkl�rt hat, ist, warum.�

�Guten Tag, meine Herren. So vergn�glich es ist, hier zu stehen und sich mit Ihnen zu unterhalten, meine Anwesenheit ist anderswo erforderlich.�

�Sagen Sie mir, was ihr plant!�

�Geben Sie acht!�, zischte er, und seine glatte Fassade wurde eine Sekunde lang durch etwas ersetzt, das dem alten Speight gleichkam. �Eine gewaltige Woge wird �ber die Stadt hereinbrechen. Gehen Sie ihr aus dem Weg, Sir, oder Sie werden darin untergehen.� Und damit schritt der ehemalige Vagabund davon und verschwand in den Tiefen des Geb�udes.

Moon ging hinaus auf die Stra�e, erf�llt von Ratlosigkeit �ber das, was gerade stattgefunden hatte.

UN WAS JETZT

�Zur�ck zu Ned. Es gibt viele Fragen, auf die ich eine Antwort brauche. Und danach … Ich nehme an, du hast nichts dagegen, das Gesetz zu brechen, oder?�

Der Schlafwandler sch�ttelte den Kopf.

�Nun gut. Dann brechen wir heute Nacht bei Love ein.�


Etwas war anders, als sie wieder bei Ned Loves Einsiedelei eintrafen. Alles sah aus wie zuvor, die Fenster waren immer noch mit Brettern vernagelt, und alles am Haus war dichtgemacht und verriegelt – mit einer einzigen Ausnahme: Die Eingangst�r stand weit offen.

�Vielleicht ist er ausgegangen�, bemerkte Moon wenig �berzeugt.

Der Schlafwandler warf ihm einen sarkastischen Blick zu und schob sich an ihm vorbei ins Haus. Wenn es irgendwo nach Gefahr roch, dann bestand der H�ne stets darauf, ihr als erster ins Auge zu schauen.

Im Inneren sah auf den ersten Blick alles unver�ndert und unber�hrt aus, doch als sie die Diele durchquerten, wuchs in Moon die �berzeugung, dass irgendetwas nicht stimmte.

Folglich war keiner der beiden M�nner besonders �berrascht, als sie den Toten fanden.

Der arme Ned Love lag, die Whiskyflasche in der Hand, zusammengesunken an die Wand gelehnt, unnat�rlich verkr�mmt und h�sslich im Tode. Beim Betreten des Raums hatte Moon so etwas wie ein Rascheln vernommen, und erst jetzt wurde ihm klar, dass dieses Ger�usch wohl vom Davonhuschen der Ratten und des anderen Ungeziefers stammte, die sich schon eingefunden hatten, um den Leichnam anzunagen.

�Mister Love?� Moon kauerte sich neben dem Toten hin. �Ned?� Weil es die Gepflogenheit so wollte, pr�fte er den Puls des Mannes.

TOD?

�Ja, leider.�

ERW�RKT

Moon gab sich M�he, nicht beeindruckt zu klingen: �Wie kannst du das feststellen?�

Der Schlafwandler deutete auf die r�tlichen Flecken an der Kehle des Toten.

�Wird in Anbetracht der Menge Schnaps, die er getrunken hat, nicht schwierig gewesen sein, ihn umzubringen. Offenbar hat er zu viel geredet.�

LOVE?

�Darauf w�rde ich wetten.�

Sie lie�en den armen Ned dort, wo er lag, und kehrten nach drau�en, ins Freie zur�ck. �Jetzt reicht es�, entschied Moon, als sie auf der Stra�e standen; er klang unverst�ndlicherweise geradezu fr�hlich. �Zeit f�r die Schlussphase.�


SIEBZEHN

Etwas �ber eine Stunde nach Ned Loves Tod erschienen zwei Anzeigen in den Spalten �Pers�nliches� der Zeitungen Echo, Gazette, The Times und London Chronicle (Abendausgaben).

Die erste lautete:

Informationen erbeten
von Personen, die in den Tunneln der Untergrundbahn im Gebiet Eastcheap und Monument arbeiten oder gearbeitet haben.
Stattliche Belohnung.
Wenden Sie sich pers�nlich an Mister M.

Hier folgte die Adresse eines ber�hmten Stadthotels, die zu zensieren ich mich aus verst�ndlichen Gr�nden entschlossen habe.

Die zweite Anzeige – weitaus k�rzer und geheimnisvoller – lautete:

LUD
Sofort kommen!
Viel steht auf dem Spiel!
E.

Leider hatte der Mann, an den sich diese zweite r�tselhafte Botschaft richtete, nie Gelegenheit, sie zu lesen. Zum Zeitpunkt ihrer Ver�ffentlichung wurde er gegen seinen Willen auf eine Art und Weise festgehalten, die vorherzusagen ihm diesmal nicht gelungen war.

Cribb war alleine spazierengegangen, den Kopf randvoll mit einem Mischmasch aus kunterbunten Gedanken und unausgegorenen Betrachtungen, als er �berrascht bemerkte, dass eine Droschke neben ihm anhielt und der Kutscher ihn heranwinkte. Cribb spielte mit, trat n�her und h�rte aufmerksam zu, als der Passagier ihn nach dem besten Weg zur Tottenham Court Road fragte. Selbstredend war Cribb au�erstande, solch einer Einladung zu widerstehen – geschweige denn der Versuchung, eine Anzahl historisch wissenswerter Leckerbissen hinzuzuf�gen. Er sprach �ber dies und das und war mitten in einer Schnurre �ber die mittelalterliche Hexe von Kentish Town, als der Fremde ihn bat, zu ihm in die Kutsche zu steigen, um so – wie er behauptete – bequemer den Stadtplan konsultieren zu k�nnen. Cribb folgte der Einladung, doch in Anbetracht seiner prophetischen Begabung h�tte er vielleicht das Symbol erkennen sollen, das unauff�llig auf der T�r der Droschke angebracht war: eine Blume mit f�nf Bl�tenbl�ttern.

Zwei M�nner sa�en im Inneren – vom Aussehen her echte Rabauken, kraftstrotzende Typen von jener Sorte, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, dass sie anderen Leuten die Knochen brechen oder sie �berhaupt zum Kr�ppel schlagen. Als Cribb in die Droschke stieg, hieb sich einer der beiden vielsagend mit der rechten Faust in die linke Handfl�che und grinste l�stern.

�Ich habe euch nat�rlich erwartet�, bemerkte der h�ssliche Mann, �weil ich die Zukunft gesehen habe. Ich wei�, wie die Geschichte weitergeht.�

Worauf ihn einer der beiden M�nner gegen die R�ckenlehne der Sitzbank stie� und anfing, das zu tun, was vielen von uns bereits seit langem in den Fingern juckt: Er bearbeitete Cribb solange mit den F�usten, bis dieser – unaufh�rlich davon brabbelnd, dass die Zeit f�r ihn in einer anderen Richtung ablief – das Bewusstsein verlor.


Mittlerweile schwebte Mrs Grossmith auf einer Wolke des Gl�cks. Unermesslichen, unvorstellbaren, unerwarteten Gl�cks. Sie h�pfte geradezu ausgelassen durch die T�r ins Schlafzimmer ihres Dienstgebers, ohne sich mit Klopfen aufzuhalten.

�Mister Moon!�, trillerte sie mit sich �berschlagender Stimme. �Mister Moon!�

Doch als sie das Zimmer betreten hatte, wurde ihrer Hochstimmung schlagartig ein D�mpfer versetzt, und es ging ihr wie dem Hochzeitsgast, der irrt�mlicherweise in ein Leichenbeg�ngnis platzt.

Sichtlich irritiert von der St�rung wandten ihr drei M�nner die erstarrten Gesichter zu – Mister Moon, der Schlafwandler und ein zwielichtig aussehender Fremder.

�Was wollen Sie?�

In den zehn oder mehr Jahren, die sie schon in seinen Diensten verbrachte, hatte sich Mrs Grossmith an Moons ewige Gereiztheit und harschen Umgangston l�ngst gew�hnt. Daher nahm sie die bissige Frage – abgefeuert wie vom Staatsanwalt an den Zeugen der Verteidigung – genau so auf wie jede andere barsche Abfuhr und herbe Kr�nkung im letzten Jahrzehnt: indem sie ihm ihr sch�nstes L�cheln schenkte und unbeirrt ihr Vorhaben weiterf�hrte.

�Es tut mir leid, wenn ich st�re. D�rfte ich Sie kurz sprechen?�

�Kein guter Zeitpunkt.�

�Ich habe eine wichtige Neuigkeit�, beharrte Mrs Grossmith. �Sie kann nicht warten.�

�Mister Moon?�, schaltete sich der Fremde ein, w�hrend er Mrs Grossmith mit einem Nicken gr��te. �Entschuldigen Sie, Lady, aber das hier wiegt wirklich schwer.�

Er war ein magerer, schmutziger Mensch, soeben im Begriff, eine Reihe von Stra�enpl�nen auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers auszubreiten. Der Schlafwandler sah ihm dabei gebannt �ber die Schulter, offenbar fasziniert von dieser kartographischen Vielfalt.

Moon bewegte die Hand nachl�ssig in seine Richtung. �Das ist Mister Clemence. Er hat sich auf meine Anzeige hin gemeldet.�

�Sagen Sie einfach Roger zu mir�, bot der Fremde Mrs Grossmith an und kniff anz�glich ein Auge zu.

�Mister Clemence�, beendete Moon die Nettigkeiten, �was wollten Sie mir gerade sagen, als wir unterbrochen wurden?�

Clemence deutete auf eine der Karten. �Sehen Sie hierher. Da ist es passiert.�

Mrs Grossmith wollte die Stimme erheben, aber der Detektiv schnitt ihr sofort das Wort ab. �Bitte! Das ist von allerh�chster Wichtigkeit!� Er schritt an den Tisch, um die Karte zu betrachten, und Mrs Grossmith konnte nur hilflos schniefen; ihr ganzer �berschwang war dahin.

Moon lenkte ein. �Dieser Herr arbeitete fr�her bei der st�dtischen Bahngesellschaft. Das Hauptquartier von Love befindet sich unter der Erde. Wir versuchen, einen Weg dort hinunter zu finden.�

Die Haush�lterin seufzte. �Sicher sehr interessant.�

Clemence zeigte auf einen Teil der Karte. �Sehen Sie, hier, unter dem Monument, das sind alles aufgelassene Geleise. Man hatte urspr�nglich eine Abzweigung zur Station King William Street geplant. Die h�tte direkt unter Love gelegen. Aber es ist nie dazu gekommen.�

Der Schlafwandler, bem�ht, sich an dem Gespr�ch zu beteiligen, nickte ernsthaft und gewichtig.

Die ausgebreiteten Karten raschelten, als Clemence sich weit �ber den Tisch vorbeugte. �Wenn es Ihnen ernst damit ist, da runterzugehen, dann haben Sie wohl ein Recht, die Wahrheit zu erfahren.�

Mrs Grossmith r�usperte sich. �Ich muss Ihnen wirklich etwas mitteilen.�

�Jetzt nicht!�, knurrte Moon. �Warten Sie.�

Clemence d�mpfte die Stimme zu einem verschw�rerischen Wispern. �Ich kannte ein paar von den M�nnern, die an den Stollen zur King William Street arbeiteten. Alles vertrauensw�rdige Leute, glauben Sie mir. Na ja, ein, zwei von ihnen sollen gelegentlich mal zu tief ins Glas geschaut haben, aber sie k�nnen sich nicht allesamt geirrt haben – und sie sahen was da unten. Keine Frage.�

�Reden Sie schon! Sagen Sie, was die M�nner sahen!�

�Tunnel! Stollen, die auf keinem einzigen Plan eingezeichnet waren! Tunnel, die f�r keine Untergrundbahn gebaut waren! Von denen gibt’s ein ganzes riesiges Gewirr – wie Rattenl�cher, die in die Finsternis f�hren. Und eine Art gr�ne T�r, die direkt in den Erdboden eingelassen ist. Da drunter lebte irgendwas, das sagten alle. Nacheinander verschwanden zwei von den M�nnern, die hat keiner mehr gesehen, und hinterher bekamen die anderen immer mehr Angst oder wollten aus Aberglauben nicht mehr dort unten arbeiten.�

�Und wie ging es weiter?�, dr�ngte Moon.

�Die Arbeiten wurden eingestellt. Obwohl ein paar M�nner weitermachen wollten. Die Mutigen. Oder die Schwachk�pfe. Na, vielleicht doch keine Schwachk�pfe, denn die meisten von ihnen sind jetzt reich – viel reicher, als ein Eisenbahner von Rechts wegen sein d�rfte. Also wenigstens diejenigen, die nicht in der Klapsm�hle landeten.�

�In der Klapsm�hle?�

�Da muss irgendwas passiert sein. Einen von den M�nnern mussten sie einweisen lassen. Der arme Kerl fing an, irgendwelche Sachen zu sehen, die nicht da waren, und brabbelte Unsinn wie ein Idiot. Klar, es konnte einfach an dem Loch gelegen haben – so tief unter der Erde, immer finster und feucht … da kann’s schon mal vorkommen, dass uns die Phantasie einen Streich spielt.�

�Einige verschwanden, einige wurden reich. Und einige wurden wahnsinnig.� Moon klang, als w�rde er laut denken. �Ich danke Ihnen, Mister Clemence. Sie waren mir von unsch�tzbarem Wert.�

�Gern geschehen.�

Der Detektiv hielt ihm eine Handvoll M�nzen hin, doch als Clemence seinerseits die Hand danach ausstreckte, schloss Moon die Finger zur Faust. �K�nnen Sie mich dort hinf�hren?�

Der magere Mann zauderte, von Zweifeln geplagt. Moon warf einen vielsagenden Blick auf seine geschlossene Faust.

�Ich f�hre Sie zum Tunnel�, sagte er schlie�lich widerstrebend. �Aber nicht weiter. Was mir zu Ohren gekommen ist … also ich w�rde dort nicht runtergehen, nicht um alles in der Welt!�

�Das m�ssen Sie auch nicht�, beruhigte ihn Moon. �Der Schlafwandler wird mich begleiten. K�nnen wir es noch f�r heute Nacht planen?�

Clemence dachte kurz nach. �Sagen wir: um Mitternacht am Monument?�

�Ausgezeichnet!�, rief Moon und bugsierte den Gast zur T�r. �Dann treffen wir uns dort.�

Clemence nickte noch einmal h�flich in die Runde und spazierte davon – ein befremdlicher Gegensatz zum makellosen Goldbraun des Korridors, wo er einem strahlenden Arthur Barge begegnete, der in h�chster Eile zu Moons R�umen unterwegs war.

Dort klopfte der hochgewachsene Mann wohlerzogen an die T�r, trabte ins Zimmer und steuerte schnurgerade auf Mrs Grossmith zu. Er griff augenblicklich nach ihrer Hand, so unbefangen wie halb so alte Liebende, die einander nach langer Trennung wiedersehen. Diese beiden hier hatten jedoch vor kaum einer Stunde das Abendbrot miteinander geteilt.

�Hast du es ihm gesagt?�

Mrs Grossmith seufzte. �Ich hatte noch keine Gelegenheit dazu.�

�Mir was gesagt?�, fuhr Moon gereizt auf.

�Das, was ich Ihnen schon die ganze Zeit sagen wollte, Sir. Aber Sie haben es mir ja nicht erlaubt.�

Moon d�mpfte seine Stimme: �Dann berichten Sie es mir jetzt. Ich bin ganz Ohr.�

�Es ist eine gute Nachricht.�

�Dann freut es mich besonders.�

W�hrend sie sprach, hielt sich Mrs Grossmith noch fester an Arthur Barges Hand fest, und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, �berst�rzten sich fast in ihrer ungest�men Hast, vernommen zu werden: �Heute am fr�hen Abend hat Arthur mir die Ehre erwiesen, mich um meine Hand zu bitten … Und ich habe ja gesagt, Mister Moon! Ich werde ihn heiraten, ich werde seine Frau!�

Nach einem kurzen Moment der Sprachlosigkeit brachte der Detektiv ein schmallippiges L�cheln zustande. �Gut gemacht�, sagte er schlie�lich wie zu einem treuen Hund, der auf seine alten Tage noch ein neues Kunstst�ck gelernt hat.

Der Schlafwandler tat sein Bestes, um GRATULIERE! auf seine Tafel zu schreiben, versch�tzte sich jedoch bei der L�nge des Wortes und richtete bei den Buchstaben ein furchtbares Durcheinander an, worauf dort letztlich stand:

GRATTLUR

gefolgt von einem unlesbaren Gekritzel.

Mrs Grossmith wusste die Gesinnung zu sch�tzen. �Ich danke Ihnen!�, strahlte sie.

Barge riss sich von seiner Braut los und trat vor Moon hin. �Es muss Ihnen ziemlich �berraschend vorkommen�, begann er, �schlie�lich kennen wir uns erst einen Monat oder so. Aber irgendwie passte bei uns beiden von Anfang an einfach alles. Wir verstanden uns vom Fleck weg. Und in unserem Alter kann man es sich nicht leisten, noch lange zuzuwarten, wenn Sie wissen, was ich meine. Wir verdienen alle ein wenig Gl�ck. Und ich glaube, wir werden gl�cklich, Emmy und ich.�

Es handelte sich offensichtlich um eine gr�ndlich vorbereitete Ansprache. Moon lauschte so wohlwollend wie m�glich, und als Barge damit fertig war, f�gte er etwas zu hochtrabend hinzu: �Ihr habt meinen Segen.�

�Also, innigen Dank auch, Sir!�, sagte Barge. �Das bedeutet mir sehr viel, Sir, ehrlich!�

Moon wandte sich an die Braut. �Ob das wohl auch hei�t, dass Mister Barge zwar eine Frau bekommt, ich aber meine Haush�lterin verliere?�

Mrs Grossmith machte ein verlegenes Gesicht. �Ich bin noch nicht … Also eigentlich haben wir noch nichts entschieden.�

�Was ich habe, reicht f�r zwei�, stellte Barge w�rdevoll fest. �Die Dienstbotentage haben ein Ende.�

�Nun denn, so w�nsche ich Ihnen viel Freude.� Moon wandte sich ab und ging daran, die Karten und Pl�ne des unterirdischen London zu ordnen. �Und jetzt Speck mit Eiern, wenn Sie so freundlich w�ren, Mrs Grossmith. Vor uns liegt eine lange Nacht. Ich hoffe inst�ndig, dass wir am Morgen endlich Antworten haben!�


�Emmy�, murmelte er, als die Frischverlobten gegangen waren – ohne Zweifel, um in der K�che �ber der Bratpfanne zu knutschen. �Vermutlich eine Abk�rzung f�r Emmeline … Ich muss gestehen, dass ich bis zum heutigen Tage nicht gewusst habe, wie sie mit Vornamen hei�t.�


Ein Schulhof bei Nacht hat etwas Melancholisches und zugleich Bedr�ckendes an sich: melancholisch deshalb, weil nur Stille und Leere herrschen, wo der nat�rlichen Weltordnung zufolge eigentlich Gel�chter, Bewegung und Lernen zu Hause sein sollten; bedr�ckend, weil trotz der �de ein starkes, hartn�ckiges Gef�hl der Gegenwart anderer Menschen besteht – der Anwesenheit unsichtbarer Fremder. Bleibt man um Mitternacht – lange, nachdem das tags�ber dort ans�ssige Volk ins Bett geschickt wurde – allein auf einem verlassenen Spielplatz stehen, kann man sich ganz leicht vorstellen, vom Geist hunderter Schuljungen umringt zu sein; man hat unschwer das wilde Treiben ihrer Spiele vor Augen und vernimmt das Geschrei, wenn der Schl�ger den Ball trifft, und das entt�uschte Aufjaulen, wenn die Glocke alles in die Klassen zur�ckscheucht.

Mister Skimpole war kein besonders phantasievoller Mann – er hatte sich, ganz im Gegenteil, stets einiges eingebildet auf seinen n�chternen Verstand und seine streng sachliche Denkweise –, doch selbst er versp�rte etwas von diesem unheimlichen Gef�hl, als er allein auf dem Spielplatz der Gammage‐Knabenschule stand und wartete.

Verst�ndlicherweise hatte er Schulen noch nie gemocht – bev�lkert oder nicht: Schlechte Erinnerungen lauerten hinter den Tafeln; sie schlichen �ber den Kricketplatz und schlenderten mit tr�gerischer L�ssigkeit �ber den Schulhof, wo die Reste eines vor ewig langer Zeit auf den Boden gezeichneten H�pfspiels immer noch schwach erkennbar waren.

Skimpole erschauerte und blickte auf die Uhr. Sie sollten l�ngst da sein …

Ein pl�tzlicher Windsto�, der eine Wolke �ber den Rand des Mondes schob, und mit einem Mal griffen die Schatten gierig nach ihm. Ein j�her Schwindel �berkam ihn, und er k�mpfte mit tiefen Atemz�gen dagegen an, aber Unruhe und �belkeit blieben. Er hatte nicht das mindeste Bed�rfnis, nach den wunden Stellen an seinem K�rper zu sehen, aber er war sicher, dass einige davon zu bluten begonnen hatten. Die Flecken, durchfuhr es ihn, w�rden nie mehr von den Kleidern weichen …

Im Laufe des Tages hatten sich die Entz�ndungen stark verschlimmert; Skimpole hatte sich nach dem Essen umgezogen und entdeckt, dass sie – schuppig, rissig und ebenso rot wie bl�ulich – seinen ganzen Bauch bedeckten und unerbittlich �ber die Brust auf den Hals zu kletterten. Eine war bereits auf seinem Gesicht erschienen, hoch an der linken Schl�fe, doch Skimpole war einigerma�en sicher, dass es ihm gelungen war, sie unter einer kunstvoll drapierten Haarstr�hne zu verbergen. Er hoffte nur, dass sein Sohn nichts davon bemerkt hatte.

Wo blieben die beiden nur? Sie mussten bald kommen, denn sonst, so f�rchtete er, w�rden sie ihn nur noch ohnm�chtig (oder in schlimmerem Zustand) auf den Asphalt hingestreckt vorfinden.

�Hallo?�, rief der Albino in die Dunkelheit. Er hustete. Ein wenig Schleim kam dabei hoch, aber da er das Tabu vulg�ren Ausspuckens in der �ffentlichkeit praktisch mit der Muttermilch aufgesogen hatte, zwang er sich, wenngleich mit einigem Widerwillen, zu schlucken.

�Hallo?�, wiederholte er, zur�ckhaltender diesmal. �Ich bin hier! Ich warte!�

Immer noch nichts. Er zog den Mantel enger um sich, mahnte sich, so gut es ging, zur Ruhe und fragte sich – nicht zum ersten Mal an diesem Tag – ob es wirklich richtig war, was er vorhatte.

Endlich wurde er vom Klang einer unbekannten Stimme, die seinen Namen rief, aus seinen Gedanken gerissen. Zwei Fremde standen vor ihm – und es wurde ihm zu seiner Verbl�ffung bewusst, dass die beiden sich herangeschlichen hatten, ohne von ihm bemerkt zu werden – ein Kunstst�ck, das er seit langem f�r undurchf�hrbar gehalten hatte.

�Also da verschl�gt’s mir doch glatt die Sprache�, sagte der eine und starrte Skimpole neugierig an. �Dieser Knilch sieht verflixt komisch aus! Ich h�tte gedacht, er w�re gr��er. Und weniger blass, ein bisschen rotbackiger. Du nicht?�

�Aller‐baller‐dings, mein Alter!�, erwiderte der andere. �Ein ulkiger Vogel, das kannst du laut sagen.�

Nach all seinen ausgiebigen Erfahrungen auf dem Gebiet des Schrulligen und Absonderlichen waren diese beiden M�nner bei weitem die ausgefallensten Individuen, die Skimpole je kennengelernt hatte. Der eine war gro� und kr�ftig, der andere klein und eher zart gebaut. Sie unterhielten sich in jener launigen, gepflegten Redeweise der Oberschicht, die auf dem Boden von Geld und als selbstverst�ndlich betrachteten Privilegien so pr�chtig gedieh. Doch was sofort ins Auge stach, war der Umstand, dass die beiden, obwohl durchaus in die Jahre gekommen, in Schuluniformen gekleidet waren. Sie trugen identische blaue Jacken, Schulkrawatten und kurze graue Flanellhosen, die knapp �ber ihren knorrigen, behaarten Knien endeten. Der kleinere der zwei hatte eine gestreifte Kappe auf dem Kopf.

Skimpole war so verdutzt, dass er kein Wort hervorbrachte. �Sind Sie es wirklich?�, kr�chzte er schlie�lich.

Der gr��ere der beiden grinste. �Ich bin Hawker, Sir. Und der da hei�t Boon. Sie k�nnen uns auch ›Pr�fekten‹ nennen.�

Sein Kamerad runzelte missbilligend die Stirn. �He, das ist meine Rede! Die hast du mir weggeschnappt, zum Henker! Das sage doch immer ich! Es ist praktisch schon Tradition!�

�Als ob ich das nicht w�sste!�, entgegnete Hawker. �Ist doch h�chste Zeit, dass ich auch mal drankomme!�

�Aber wir waren doch immer einig, dass ich es sage! Du bist ein gemeiner Lump, du h�ltst dein Wort nicht! Wenn der alte Skimpy nicht hier w�re, w�rde ich dir ordentlich das Fell gerben!�

�Das m�chte ich sehen, du d�mlicher junger Spund! Sogar der kurzgeratene Poggie Thorn und ›Baby‹ Wentworth aus der F�nften Unterstufe k�nnten dir den Hintern versohlen, wenn’s drauf ankommt! Und das wei�t du genau!�

�Also manchmal bist du wirklich ein sagenhafter Idiot, Hawker!�

�Besser als eine geborene Heulsuse, Boon!�

�W�rstchen!�

�Ekel!�

�Dreckspatz!�

Skimpole konnte nur danebenstehen und wie bet�ubt diesem bemerkenswerten Wortwechsel lauschen. Fl�chtig spielte er mit der Idee, es k�nnte sich bei diesen beiden Gestalten um irgendeine Begleiterscheinung seiner Krankheit handeln, um Gespenster, die ihm sein fiebriges Hirn vorgaukelte, bevor sein K�rper vollends den Betrieb einstellte.

Boon riss sich von dem Scharm�tzel los und wandte sich wieder dem Albino zu. �Tut mir furchtbar leid, Sir�, sagte er. �Sie m�ssen uns f�r kolossale Esel halten, wenn wir hier herumstehen und uns zanken wie Drittkl�sssler.�

�Hochanst�ndig von Ihnen, dass Sie uns gerufen haben�, lobte Hawker; offenbar war der Zwist so rasch vergessen, wie er aufgeflammt war. �Boon und ich hatten uns schon zu Tode gelangweilt. Brannten darauf, endlich mal auszurei�en und ein wenig Spa� zu haben!�

�Warum dieser Treffpunkt hier?�, fragte Skimpole.

�Wir hielten ihn f�r ad�quat�, antwortete Boon.

�›Ad�quat‹�, wiederholte Hawker anerkennend. �Gutes Wort. Werde ich mir aufschreiben. Boon kann sich als wahres Schatzk�stlein des Wissens erweisen, Mister Skimpole, wenn er in Stimmung ist. Nein, nein, der ist wirklich nicht auf den Kopf gefallen. Ich selber war ja nie so erpicht aufs Lernen. Von uns beiden bin ich eher der ausgemachte Strohkopf. Boon nimmt mich immer deswegen auf den Arm.�

Skimpole machte den Versuch, dieser absurden Konversation wieder einen Anstrich von Normalit�t zu geben. �Ich wollte Sie wegen des Buches fragen …�, begann er.

�Hat Sie stutzig gemacht, nicht wahr, Sir?�

�Da waren wir ordentlich baff, wie? Hat uns umgehauen, stimmt’s!�

Skimpole hatte M�he, dem Duett zu folgen. �Das Buch ist leer, bis auf die eine Seite, auf der diese Adresse stand.�

�Teuflisch raffiniertes Ding, dieses Buch�, stellte Hawker mit falscher Ernsthaftigkeit fest.

Boon nickte. �Man kann’s nicht aus den Augen lassen, Sir! Wer wei�, auf welche dummen Gedanken es kommt, wenn wir nicht da sind!�

�Ich verstehe nicht�, sagte Skimpole mit schwacher Stimme.

�Alles, was Sie brauchten, war eine Adresse�, erkl�rte Boon. �Wir bekamen Ihr Telegramm, und hei�a! Da sind wir! Heutzutage sind die Anforderungen ja nicht mehr so gro�.�

Hawker nahm einen hellgr�nen Apfel aus der Tasche, rieb ihn am Aufschlag seiner Jacke sauber und biss mit knirschendem Ger�usch hinein. �Klar, fr�her mal und sonstwo h�tte es vielleicht anders ausgesehen. W�re vollgestopft gewesen mit komischen Sinnbildern und geheimnisvollen Zeichen und Schn�rkeln und sonstwas.�

�Oder endlosen Reihen von Zahlen�, setzte Boon hilfreich hinzu.

�Sehen Sie …�, fl�sterte Skimpole. �Sehen Sie immer so aus?�

�Also, ich habe immer so ausgesehen, stimmt’s, Boon?�

�Leider Gottes. Du bist der h�sslichste Mann in der ganzen Schule.�

�Puh! Pah! Pfui!� Hawker boxte Boon spielerisch auf die Schulter, und der Kleine vergalt es ihm mit Gleichem.

�Bitte!�, dr�ngte Skimpole wieder. �Wir haben nicht viel Zeit!� Er hustete wieder.

�B�ser Husten, den Sie da haben, Sir.�

�Trocken, Sir. H�rt sich wahrhaft gr�sslich an, Sir. Laufen Sie rauf zur Hausmutter des Internats und lassen Sie sie das angucken. Vielleicht kriegen Sie zum Trost eine Spielmarke!�

�Bitte!�, kr�chzte Skimpole.

�Ach ja, richtig, Sir!�, meinte Boon.

�Entschuldigung, Sir! Wir albern blo� herum�, f�gte Hawker hinzu.

�Vielleicht denken Sie, wir sind blo� zwei Spitzbuben�, erkl�rte Boon eindringlich, �aber glauben Sie mir, wenn wir einen Auftrag bekommen, dann f�hren wir ihn gewissenhafter aus als jeder andere Junge in der ganzen Schule! Nicht umsonst hat man uns zu Pr�fekten gemacht. Spucken Sie’s schon aus, Mister Skimpole! Wir brennen darauf, es zu erfahren – was k�nnen wir f�r Sie tun?�

Der Albino z�gerte einen Moment mit der Antwort; er �berlegte zum letzten Mal die M�glichkeit, einen anderen Weg einzuschlagen, eine andere Wahl zu treffen, einen ruhigeren, sanfteren Tod. Doch wieder ignorierte er den Aufschrei seines Gewissens und f�hrte seinen Vorsatz aus. �Es gibt da gewisse M�nner, die ich … beseitigt haben m�chte�, sagte er. �Ich will, dass ihr sie f�r mich ermordet.�


Thomas Cribb �ffnete die Augen.

Auf Grund seiner kuriosen Existenz muss das Ged�chtnis bei ihm wohl anders funktioniert haben als bei uns. Er erinnerte sich offensichtlich eher an das, was ihm gleich zusto�en w�rde, als daran, was bereits stattgefunden hatte. Immer vorausgesetzt, dass Sie ihm glauben.

Wie auch immer die Wahrheit aussieht, so hatte er jedenfalls keine Ahnung, wie er dorthin gekommen war, wo er sich nunmehr befand. Seine Umgebung war ihm v�llig unbekannt: ein d�sterer Raum, feucht und stickig, dessen W�nde vor N�sse Blasen warfen und abbr�ckelten.

�Hallo?�, rief er, ohne eigentlich eine Antwort zu erwarten. �Irgendjemand da?�

Nichts geschah. Er kam sich t�richt vor und schwieg.

Halb bet�ubt, wie er war, von Schmerzen, K�lte und der Fahrt in irgendeiner rumpelnden Kutsche, fiel ihm erst jetzt auf, dass er aufrecht sa� – irgendwie an einem Stuhl befestigt. Probeweise versuchte er, ein Bein zu bewegen.

Damit hatte er nat�rlich kein Gl�ck, denn er war fest verschn�rt; seine H�nde waren an die Armlehnen des Stuhls gefesselt, und das Seil schnitt so tief in seine Handgelenke ein, dass er bereits das Gef�hl in den Fingern verlor. Offenbar wurde er gefangengehalten – ein Umstand, der ihn keineswegs �berraschte, denn im Laufe seines langen, langen Daseins hatte er sich unz�hlige Feinde geschaffen. Ein Gef�hl der Gewichtslosigkeit �berkam ihn, ein Gef�hl der Benommenheit und des Schwebens, so als h�tte er sein Leben abgeworfen und blickte aus gro�er H�he darauf hinab.

Er h�rte ein donnerndes Rumpeln, fast schmerzhaft laut, das ganz aus der N�he kam. Ein Zug? Er war nicht sicher.

Pl�tzlich sp�rte er die Anwesenheit einer anderen Person. Ein Streichholz flammte vor seinem Gesicht auf, eine Lampe wurde angez�ndet, und jetzt erblickte er auch das schreckliche Ausma� seiner Zelle. Er fragte sich, ob er nicht der Finsternis den Vorzug gegeben h�tte.

Das Gesicht einer Frau – irgendwie bekannt, aber �rgerlicherweise ohne einen dazugeh�rigen Namen – erschien vor seinen Augen. �Mister Cribb�, sagte sie, �willkommen im Sommerk�nigreich.�

Er schaffte es, seinem schwachen Murmeln einen aufbegehrenden Unterton zu geben: �Was wollt ihr von mir?�

�Wir wollen Ihnen helfen�, sagte die Frau mit leiernder, ausdrucksloser Stimme. �Wir wollen Ihnen Love zeigen.�

Jetzt fiel es Cribb ein! �Sie sind Charlotte Moon!�

Das Gesicht zeigte ein engelhaftes L�cheln. �Sie m�ssen sich irren�, sagte sie in demselben eint�nigen Singsang. �Mein Name ist Love.�

Und da h�rte Cribb seinen eigenen Schrei; es sollte der erste von vielen sein, in dieser unendlich langen Nacht.


Hawker und Boon – gemeinhin die �Pr�fekten� genannt – verbreiteten seit langem Grauen in der ganzen Stadt: unerbittliche, unbarmherzige Todbringer f�r jeden, der so dumm oder unvorsichtig war, ihren Weg zu kreuzen. Noch nie hatte sich jemand ihrem Zorn ausgesetzt und es �berlebt. Selbst Gesetzesbrecher – die schlimmsten, brutalsten und unverbesserlichsten, die London zu bieten hatte – lebten in Angst und Schrecken vor diesen zwei M�nnern. Das leiseste Gemunkel �ber ein m�gliches Auftauchen der beiden lie� die gesamte Verbrecherwelt erbeben.

Ich sollte hinzuf�gen, dass sich ihre traurige Ber�hmtheit keineswegs auf London beschr�nkte. Von Baba Abu, dem ber�chtigtsten Bombayer Meuchelm�rder des vergangenen Jahrhunderts, wurde erz�hlt, er h�tte sich dereinst bei der blo�en Erw�hnung ihrer Namen ausgiebig auf seinen Mittagstisch �bergeben.

Es waren also zwei lebende Legenden, denen Mister Skimpole auf dem Spielplatz der Gammage‐Knabenschule gegen�berstand. Recht betrachtet h�tte ihr Erscheinungsbild komisch wirken m�ssen, und es h�tte dem Albino eigentlich �u�erst schwerfallen sollen, bei ihrem Anblick ernst zu bleiben; doch es war alles andere als Heiterkeit, was von einer Begegnung mit diesen beiden kuriosen Kind‐M�nnern hervorgerufen wurde, sondern das genaue Gegenteil. Irgendetwas Unbeschreibliches an den beiden stimmte einfach nicht. Sie schienen ein wenig au�erhalb der Realit�t zu existieren – schienen zwei, drei Fingerbreit �ber der k�rperhaften Welt zu schweben.

Boon l�chelte Skimpole zu wie der Bauer dem Truthahn, eine Woche vor Weihnachten. �Mord, Sir? Na sowas! Jux und Allotria!�

Hawker gluckste in fr�hlicher Zustimmung. �Fabelhaft!�

Im Laufe ihrer langen und h�chst erfolgreichen Karriere waren die Pr�fekten immer wieder auf M�nner und Frauen getroffen, die es f�r angebracht hielten, �ber ihre Sprechweise zu lachen – sich lustig zu machen �ber ihr unverwechselbares Spielplatzvokabular, ihr Markenzeichen. �berfl�ssig zu erw�hnen, dass wenige dieser Spa�v�gel Gelegenheit bekommen hatten, danach noch einmal zu lachen. Sabbern, ja. Ein schwaches St�hnen vielleicht. Und blinzeln – einmal f�r ja, zweimal f�r nein – ohne Zweifel. Aber lachen? Nie wieder.

Mister Skimpole f�hlte sich weit entfernt davon, auch nur die Mundwinkel zu verziehen. Seine Kleider waren schwei�nass, und die wunden Stellen an seinem K�rper n�ssten und juckten abscheulich. �Bitte�, sagte er, �es ist mir todernst damit! Ich brauche Sie f�r das T�ten zweier M�nner.�

�Waren wohl ungezogen, die beiden Jungs, wie, Sir?�

�Lausebengel?�

�Taugenichtse?�

�Schlawiner?�

�Nichtsnutzige Fr�chtchen?�

�Sagen Sie uns ihre Namen, Sir, bitte, bitte!�

�Sie begreifen, dass es mir hier nicht um Rache geht�, erkl�rte Skimpole zur�ckhaltend, �sondern nur darum, meine T�tigkeit zu sch�tzen.�

�Versteht sich von selbst, Sir!�

�Kein weiteres Wort, Sir!�

�Also gut.� Skimpole hustete krampfhaft, was den beiden besorgt‐mitf�hlende Ger�usche entlockte. �Das Direktorium steht unter Beschuss. Man hat einen Mann auf unsere F�hrte gesetzt. Einen Ex‐Ochrana. Den besten Berufsm�rder, den sie je hatten. Und die einzige brauchbare Information, die wir �ber ihn haben, ist sein Deckname.�

�Sagen Sie schon, Sir!�

�Lassen Sie die Katze aus dem Sack!�

�Raus damit, Sir!�

Skimpole schluckte. �Der Mongoz.�

Hawker pfiff leise durch die Z�hne. �Mannomann!�

�Und es w�re Ihnen recht, wenn wir ihn uns vorn�hmen, nicht wahr, Sir?�, fragte Boon.

�Ihm eine ordentliche Abreibung verpassten, wie?�

Skimpole nickte schwach.

�Sie sollten eigentlich gar nicht aus dem Haus gehen, Sir.�

�Fest eingepackt im Bettchen liegen, mit einer hei�en W�rmeflasche und einem dampfenden Grog mit viel Rum.�

�Einen Augenblick!�, schaltete sich Skimpole ein. �Es gibt noch jemanden.�

�Meine G�te, haben Sie aber einen blutd�rstigen Tag!�

�Das Direktorium hat einen Feind in Whitehall�, �chzte Skimpole.

�Falsche Fuffziger, diese Politiker!�

�Schon das verschlagene Glitzern in ihren Augen!�

�Auf die ist kein Verlass, Sir, man darf ihnen nicht trauen.�

�Sein Name ist Maurice Trotman. Ein Mann aus dem Ministerium. Er will …� Skimpole schniefte. �Er will uns stillegen!�

�Sapperlot!� Hawker klang verst�ndnisvoll. �Und jetzt sind Sie fuchsteufelswild auf das Schlitzohr.�

�Habt euch arg gezankt, ihr beiden, nicht wahr, Sir?�

�Seid euch in die Haare geraten, wie?�

�K�nnen Sie das erledigen?�, fuhr Skimpole keuchend dazwischen. �K�nnen Sie die beiden t�ten?�

�Spricht nichts dagegen�, sagte Boon. �Was denkst du, Hawker?�

�Rein gar nichts, alter Pfeffersack. Freue mich schon mordsm��ig darauf.�

�Sie haben sich die richtigen Jungs ausgesucht, Sir, als Sie sich an uns wandten�, erkl�rte Boon. �Gibt keine t�chtigeren in der sechsten Klasse.�

�Boon ist ein m�chtiger Draufg�nger, wenn mal die Fetzen fliegen, das kann ich Ihnen verraten. Ein richtiger Kampfhahn, wenn er seinen Koller kriegt!�

�Was schulde ich Ihnen?�, fragte Skimpole.

�Uns schulden?� Hawker spielte den Verst�ndnislosen. �Uns schulden? Was meinen Sie damit, Sir?�

�Sobald die Arbeit getan ist, lassen wir Sie wissen, wie es mit dem Honorar aussieht�, sagte Boon.

�Und jetzt sollten Sie rasch nach Hause gehen, Sir. Nach Ihrem B�bchen sehen. Sie holen sich den Tod, wenn Sie noch l�nger hier herumstehen.�

�K�nnen Sie mir nicht ungef�hr sagen�, bettelte Skimpole, �wie hoch die Kosten sein werden?�

Boon strahlte ihn an. �Oh, ich denke, Sie werden finden, dass unser Preis durchaus im Rahmen Ihrer M�glichkeiten liegt, Sir. Durchaus im Rahmen Ihrer M�glichkeiten.�

�Wir melden uns.�

�Dann also adieu�, presste Skimpole hervor.

Boon tippte sich mit zwei Fingern an die Kappe. �Dingelingling!�

Mit diesem letzten verbl�ffenden Abschiedswort drehten sich die beiden lebenden Anachronismen um und verschwanden in der Dunkelheit. Zitternd vor Schmerz, K�lte und Verwirrung zog Skimpole die Jacke enger um sich und machte sich auf den Heimweg; er gab sich alle M�he, nicht genauer dar�ber nachzudenken, was er soeben in Bewegung gesetzt hatte.


Zweifellos hatte Mister Clemence nicht die Absicht, sich verd�chtig zu machen, w�hrend er im Schatten des Monuments wartete. Aber so, wie er unstet auf und ab lief, zwei schwach leuchtende Laternen in H�nden, und dazwischen weit �fter als notwendig seine Taschenuhr hervorzog, h�tte er selbst mit einem Schild um den Hals, auf dem er seine unmittelbar bevorstehende Laufbahn als Gesetzesbrecher kundtat, keine gr��ere Aufmerksamkeit erregen k�nnen.

Und dann, ohne Vorwarnung, spien die Schatten pl�tzlich Edward Moon und den Schlafwandler aus.

�Ich bitte um Verzeihung, wenn wir Sie warten lie�en�, sagte der Detektiv.

�Keine Ursache. Aber ich w�re dankbar, meine Herren, wenn wir uns beeilen k�nnten. Je eher wir hier wieder rauskommen, desto besser, falls es Ihnen nichts ausmacht.�

�Wir sind bereit.�

Clemence geleitete sie vom Monument weg zu der im Dunkeln liegenden Treppe, die zur King‐William‐Street‐Station der Untergrundbahn f�hrte. Ein Metallgitter, das mit einem Vorh�ngeschloss gesichert war, versperrte den Zugang. Clemence holte einen Schl�ssel aus der Tasche, �ffnete das Schloss und zog das Gitter zur�ck. Es �chzte und jaulte dabei, und so standen sie alle eine Minute lang still und schwiegen, um zu sehen, ob das Ger�usch irgendwo Interesse geweckt hatte. Nein, nichts.

Sie befanden sich im Finanzdistrikt der Stadt, der nachts, nachdem die Bankleute, B�rsenmakler und �brigen Mammonsdiener l�ngst nach Hause zu ihrem gedeckten Tisch und einem geruhsamen Abend vor dem Kamin geeilt waren, stets v�llig menschenleer war. Au�erdem fand all dies an einem Sonntag statt, wenn selbst die hingebungsvollsten Geldraffer bei Frau und Kindern blieben – oder (in zumindest zwei Dutzend F�llen, von denen ich pers�nlich Kenntnis habe) bei M�tresse oder Geliebter.

Zum letzten Mal war Moon anl�sslich seines Spaziergangs mit Cribb hier gewesen, welcher in einem unaufh�rlichen Redefluss wunderliche Anekdoten zum besten gegeben hatte und sich in wilden Spekulationen �ber die Geschichte Londons ergangen war – von dem gro�en Stein in der Kirche erz�hlt und die kuriosesten Ansichten �ber die H�he des Monuments, verglichen mit jener der Nelsons�ule, zur Debatte gestellt hatte. Aber jetzt, um Mitternacht, war diese Gegend eine Geisterstadt, fast nicht wiederzuerkennen, w�re da nicht die gewaltige Nadel des Monuments gewesen, die wie ein l�ngst verlandeter Leuchtturm schweigend Wache hielt.

Clemence reichte dem Schlafwandler eine der beiden Laternen. �Folgen Sie mir.�

Die drei M�nner pr�ften ein letztes Mal, ob sie immer noch unbeobachtet waren, und traten durch den Zugang in die Finsternis, die Treppe hinab, vorbei am Fahrkartenschalter auf den verlassenen Bahnsteig.

Einen Augenblick lang bildete sich der Schlafwandler ein, das vertraute Stampfen, Rattern und Pfeifen einer Lokomotive zu h�ren, aber als er genauer hinhorchte, war kein Ger�usch zu vernehmen.

Clemence bedeutete den beiden, ihm zu folgen. �Es ist nicht weit.� Er sprang vom Bahnsteig hinunter auf die Geleise.

�Und Sie sind ganz sicher, dass hier keine Z�ge mehr verkehren?�

�Mitten in der Nacht?�

Moon seufzte. �Wir legen unser Schicksal in Ihre H�nde, Mister Clemence.�

Der ehemalige Bahnbedienstete marschierte los. Sie lie�en die vergleichsweise Sicherheit des Perrons hinter sich und folgten ihm in den Tunnel in einen Teil dieses geheimnisvollen Labyrinths unter der Stadt, das von ihren Einwohnern nur als einf�rbig‐dunkles Gewirbel wahrgenommen wurde, durch das die Reise fr�her oder sp�ter zur�ck ans Licht ging.

Mit einemmal versp�rte Moon das Bed�rfnis, die unheimliche Stille zu unterbrechen. �Mister Clemence? Sind Sie ein abergl�ubischer Mensch?�

�Kann ich eigentlich nicht sagen. Bin eher von der sachlich denkenden Sorte. Vernunftmensch, sozusagen.�

�Dann glauben Sie also auch nicht an Wahrsagerinnen? Hellseherinnen?�

�Hab noch nie dar�ber nachgedacht. Warum fragen Sie?�

�Ich kannte eine.�

�Ach ja?�

�Und wenn sie recht hatte, dann ist heute der Tag, an dem die Stadt untergehen wird.�

�Ah, die hat sich sicher blo� alles aus den Fingern gesogen. Das tun doch die meisten von denen, denk ich.�

�Vielleicht.�

Sie folgten dem Schienenstrang nach Moons Sch�tzung etwa eine halbe Meile, immerzu an Ru� und Schmutz entlang, der die W�nde verkrustete wie schwarzer Belag faulende Z�hne. Der Schlafwandler hatte das untr�gliche Gef�hl, dass sie beobachtet wurden: Er konnte das Huschen und Scharren der kleinen Lebewesen h�ren, die hier zu Hause waren.

Clemence blieb pl�tzlich stehen; die Gleise gabelten sich. �Wir sind etwa auf halbem Wege zwischen den Stationen. Hier arbeiteten die M�nner, als es losging mit dem Verdruss.� Er zeigte nach vorn. �Diese Strecke f�hrt zur n�chsten Station. Aber die hier�, er zeigte auf den Schienenstrang, der nach links in einen engen Stollen f�hrte, �wurde fallengelassen.� Er ging weiter; das Licht der Laterne hatte hart anzuk�mpfen gegen die Finsternis, die hier unten ganz besonders undurchdringlich wirkte.

Wenige Minuten nach dem Verlassen der Hauptlinie verlor sich der Schienenstrang im Untergrund. �Sie hatten es eilig mit dem Aufh�ren�, erkl�rte Clemence und marschierte an der Stelle vorbei, wo die Reste der Gleise in Erdreich und Schiefer �bergingen. �Deswegen.�

Eingelassen in den Untergrund war eine h�lzerne Fallt�r von fahlgr�ner Farbe. W�re man oben im Freien zuf�llig darauf gesto�en, h�tte man sie naturgem�� f�r den Eingang zu einem Keller oder Untergeschoss gehalten, hinter dem sich nichts Bedrohlicheres als Kohle oder Feuerholz oder eine Ansammlung halb vergessenen Ger�mpels verbarg. Aber hier, am Ende eines Stollens tief unter der Erde, wirkte die T�r nicht recht geheuer – wie umgeben von einer unheilvollen Aura.

Clemence schien seltsam zufrieden mit sich. �Das ist es.�

Moon sagte nichts. Es kostete ihn einige Anstrengung, aber schlie�lich gelang es ihm, die Fallt�r zu �ffnen. Darunter herrschte Dunkelheit, doch am Ende des tiefen vertikalen Schachtes zuckte ein F�nkchen Licht. Der Schlafwandler brachte seine Laterne n�her heran, und jetzt war an der Wand des Schachtes eine Leiter aus Metall zu erkennen, die in eine be�ngstigende Tiefe f�hrte.

Clemence h�stelte nerv�s. �Und an diesem Punkt muss ich Sie leider verlassen, meine Herren.�

�Ich danke Ihnen.� Moon �bergab dem Mann seine Handvoll M�nzen. �Sie waren uns eine gro�e Hilfe.�

�Nichts zu danken.� Clemence setzte sich in Bewegung, sichtlich bestrebt, rasch wegzukommen. �Mister Moon?�

�Hmmm?�

�Seien Sie vorsichtig.� Er verschwand in Richtung Haupttunnel.

Moon sah ihm nach. �Wir klettern hinunter zum Licht�, sagte er und schwang sich hinab in den Schacht. H�tte er sich an Cribbs Worte erinnert, h�tte er vielleicht gez�gert. Doch Moons Neugier war gr��er als seine Vorsicht. Er hielt sich an der Leiter fest und begann langsam mit dem Abstieg. �Kommst du?�, rief er dem Freund zu.

Indessen versuchte der Schlafwandler fieberhaft, Moon an seine H�henangst zu erinnern, aber all seine Bem�hungen waren vergebens, weil Moon sie nicht mehr sehen konnte.

�Keine Sorge�, sagte letzterer dennoch, �es ist viel zu dunkel, um zu sehen, wie weit es bis unten ist.�

Er kletterte unbeirrt weiter, und dem Schlafwandler blieb nichts anderes �brig, als seinem Beispiel zu folgen. W�re er in der Lage gewesen, ungehalten in seinen Bart hineinzumurmeln, dann h�tte er es zweifelsohne getan.


Roger Clemence kehrte auf den Bahnsteig der Station zur�ck und traf auf einen wohlgen�hrten Mann mit Apfelb�ckchen, der etwas in der Hand hielt, das wie eine angebissene Fleischpastete aussah, und ihn schon erwartete.

�Abend, Mister Clemence!�

�Abend, Mister McDonald.�

Der dicke Mann nahm einen t�chtigen Bissen von seiner Pastete und kaute ger�uschvoll wie ein Hund, der sich quer durch einen Teller voller Essensreste schmatzte. �Dann ist er also dort?�

�Jawohl, Sir. Ordnungsgem�� verpackt und zugestellt.�

�Endlich. Wir fragten uns schon, ob er �berhaupt noch draufkommen w�rde.�

�Er ist nicht mehr der alte, wissen Sie. Hat seine besten Tage schon hinter sich. Der Mann ist ausgebrannt. Verbraucht. Abgenutzt.�

�Ich wei�.� Donald McDonald l�chelte. �Genau das ist der Grund, weshalb wir ihn wollen.�


Nach einer halben Ewigkeit auf der Leiter kamen Moon und der Schlafwandler unten an und traten hinaus ins Licht. Ein wenig zittrig von der hinter ihm liegenden Nervenprobe wechselte der Riese von der untersten Sprosse wieder �ber auf die feste Mutter Erde.

Sie sahen sich um und nahmen Ger�usche, Ger�che und den Anblick von Love in sich auf. Schlie�lich brach Moon das Schweigen. �Ich muss gestehen, ich bin ein wenig entt�uscht.�

Der Schlafwandler sah nur finster drein.

Sie befanden sich in einer Art Lagerraum, umgeben von leeren Kisten, alten Flaschen und halb verrotteten Leinens�cken. Ein unangenehmer Geruch hing in der Luft, der an verwesendes Fleisch gemahnte. Moon ging zur T�r. �Wollen wir hoffen, dass wir da drau�en auf Interessanteres sto�en.�

Sie betraten einen gro�en Raum, der im Augenblick zwar menschenleer war, ganz offensichtlich jedoch als Speisesaal diente, denn St�hle und einfache, auf Schragen stehende Tische bildeten lange, pr�zise ausgerichtete Reihen. Am anderen Ende des Saals, unter einem Balkon, der offenbar f�r Ansprachen oder Verlautbarungen an die unten Versammelten gedacht war, hing ein riesiges Banner an der Wand. Es trug ein Symbol, das die beiden Eindringlinge schon wiederholt zu Gesicht bekommen hatten: die schwarze Blume mit f�nf Bl�tenbl�ttern.

Moon konnte seinen begeisterten Aufschrei nicht unterdr�cken: �Endlich!�

Der Schlafwandler wirkte weniger erfreut – vielleicht ahnte er bereits, wo sie hineingeraten waren.

�Edward!� Die Stimme hallte durch den Raum.

Moon fuhr herum. Eine wundervoll vertraute Gestalt stand dort vor ihnen.

�Ich bin so froh, dass du es geschafft hast.�

Moon lachte in einer Mischung aus Dankbarkeit und Erleichterung. M�glicherweise stand ihm sogar das Wasser in den Augenwinkeln. �Charlotte! Gott sei Dank! Geht es dir gut?�

Sie ging auf ihn zu und schenkte ihm ein gl�ckseliges L�cheln. �Sehr gut. Eigentlich ging es mir noch nie besser. Ich w�re dir jedoch dankbar, wenn du mich nicht mehr bei meinem alten Namen nennst.�

Der Schlafwandler warf Moon einen besorgten Blick zu.

�Beim alten Namen?�, wiederholte Moon bedachtsam, als k�nnte er es durch eine sorgf�ltige Wahl seiner Worte erm�glichen, die rasch einsetzende Erkenntnis der Wahrheit hinauszuz�gern.

�Diese Frau ist tot�, erkl�rte seine Schwester fr�hlich. �An ihrer Stelle wurde ich neu geboren. Von jetzt an musst du mich Love nennen.�

Moon war entsetzt. �Charlotte!�

�Da ist jemand, den ich dir vorstellen m�chte.�

Moon tat einen sachten Schritt r�ckw�rts, so als w�rde er vorsichtig vor einem wilden Tier zur�ckweichen, f�r das jede pl�tzliche Bewegung ein Ansporn zum t�dlichen Angriff sein k�nnte. �Ach ja? Und wer ist das?�

�Er ist ein sehr, sehr guter Freund. Ein gro�artiger F�hrer. Ein Held. Und meine Erleuchtung.�

Schlie�lich fing Moon an zu begreifen, was im Gange war. �Dann ist er der Mann, der hinter allem steckt!�, rief er zornentbrannt. �Die treibende Kraft hinter den Morden an Cyril Honeyman und Philip Dunbar! Der Drahtzieher hinter den Angriffen auf das Direktorium und der Verschw�rung gegen die Stadt!�

�Du wirst ihn m�gen�, versicherte ihm Charlotte liebensw�rdig. �Ich bin sicher, ihr werdet bestens miteinander auskommen.�

�Was haben sie nur mit dir angestellt?�

Sie blickte hoch. �Er ist jetzt hier, Edward. Er wird dir alles erkl�ren.�

Ein Fremder glitt auf den Balkon. Er hatte drau�en den rechten Augenblick abgewartet, um seinem Auftritt die h�chstm�gliche Dramatik zu verleihen. Er war schlank und schmalgesichtig, ein unauff�lliger kleiner Mann mit Pockennarben und Falten. Doch trotz dieser Unzul�nglichkeiten fehlte ihm nicht eine gewisse, angeborene W�rde. Als er sprach, war seine Stimme weich und tief und schien zu vibrieren, was ihr eine nahezu hypnotische Wirkung verlieh. Es war die Stimme eines Mannes, der es gewohnt war, dass man ihm gehorchte, ohne Fragen zu stellen – dass jede seiner �u�erungen mit Ehrfurcht und Respekt aufgenommen wurde.

�Mein Name�, sagte ich, �ist Reverend Doktor Tan.�


Aber Sie, lieber Leser, kennen mich gewiss besser als Ihren Erz�hler.


ACHTZEHN

Ich f�rchte, ich bin nicht ganz ehrlich zu Ihnen gewesen.

Nat�rlich sagen Sie jetzt, ich h�tte von Anfang an aufrichtig sein m�ssen, Ihnen reinen Wein einschenken und auf Seite Eins ein offenes Gest�ndnis ablegen m�ssen. Aber setzen Sie Ihren Richterspruch noch ein wenig aus; verurteilen Sie mich nicht, weil ich ein paar unwichtige Details oder ein, zwei Namen bei mir behalten und einige Kleinigkeiten zurechtfrisiert habe.

Meine wahre Identit�t habe ich Ihnen deshalb nicht enth�llt, weil ich vermeiden wollte, dass Sie denken, Das Albtraumreich des Edward Moon w�re ein parteiischer, verzerrt dargestellter Bericht. Der Gro�teil dessen, was Sie gelesen haben, entspricht der reinen, ungetr�bten Wahrheit. Wo ich ein wenig ausgeschm�ckt oder gegl�ttet habe, gestand ich das sofort; wo ich mir eine Erfindung geleistet habe, gab ich das unumwunden zu.

Dennoch mag es sein, dass Sie eine leichte Unausgeglichenheit in meiner Darstellung einer bestimmten Gestalt dieses Buches wahrgenommen haben. Ich habe mich nach Kr�ften bem�ht, ihn so objektiv zu beschreiben, wie ich nur konnte, aber – bei Gott – wie ich diesen Mann am Schluss hasste!

Doch als wir beide uns in der gro�en Halle im Untergrund von Love, Love, Love und Love wieder trafen, tat ich nichtsdestoweniger mein �u�erstes, h�flich zu bleiben und der Versuchung zu widerstehen, H�me oder Schadenfreude zu zeigen.

�Mister Moon. Wie sch�n, dass Sie es einrichten konnten.�

�Kennen wir uns?�

�Edward!�, schalt ich ihn, �wie k�nnen Sie es vergessen haben!�

�Reverend Doktor Tan�, antwortete er (in einem, wie ich anmerken muss, unn�tig sarkastischen Tonfall). �D�rfen wir annehmen, dass dies nicht Ihr wahrer Name ist?�

�Den Titel trage ich nur ehrenhalber�, r�umte ich ein, �aber ich muss gestehen, es verletzt mich, dass Sie sich meiner nicht entsinnen.�

Moon wandte sich an seine Schwester. �Wer ist dieser Mann?�

Ich kann mir nicht anma�en, in ihr Innerstes geschaut zu haben, aber im Laufe unserer allzu kurzen Bekanntschaft machte mir Miss Moon stets den Eindruck, ein durch und durch anst�ndiger Mensch zu sein. Sie war so intelligent wie h�bsch und (nach einigen Tagen sanfter �berzeugungsarbeit) ein echter Gewinn f�r unsere Sache geworden.

�Er ist ein Held�, sagte sie noch einmal. �Ein gro�artiger F�hrer und Freund.�

Ich err�tete ob dieses unverdienten Lobs. �Sie erinnern sich wirklich nicht an mich?�

Moon sch�ttelte den Kopf. �Ich habe Sie noch nie in meinem Leben gesehen.� Er sah den Schlafwandler an. �Kommt er dir denn bekannt vor?�

�rgerlicherweise zuckte der Riese nur die Achseln.

Ich f�hlte mich betrogen; ich hatte mich so sehr auf dieses Zusammentreffen gefreut, hatte es herbeigesehnt mit der fieberhaften Aufregung eines Kindes, das Weihnachten kaum erwarten kann. Bei so vielen Gelegenheiten war mir die Idealvorstellung dieser Unterhaltung vorgeschwebt – ich w�rde gro�m�tig in meinem Sieg sein, geistreich, weise und befl�gelnd. Ich hatte vorgehabt zu gl�nzen, ja zu blenden!

Aber da hatte ich noch erwartet, dass Moon mich auf der Stelle wiedererkennen und der Schlafwandler vor Entsetzen zur�ckschrecken w�rde – dass sie mich beide mit einigem Respekt behandeln w�rden, als �berragenden Rivalen, als Gegner, den man f�rchten muss. Stattdessen starrten sie mich nur verst�ndnislos an wie einen Wildfremden, der sie auf der Stra�e um Geld anbettelt!

Also nannte ich ihnen meinen wirklichen Namen.

Ich werde ihn hier nicht wiederholen. Ich hielte dies f�r etwas Banales, Billiges, das einem Mann meiner F�higkeiten und Ambitionen nicht gerecht w�rde. Sie d�rfen mich nach wie vor in Ihren Gedanken (falls Sie �berhaupt einen solchen an mich verschwenden) als Reverend Doktor Tan bezeichnen.

Der Schlafwandler grinste jetzt wissend, Moon hingegen wirkte nicht erhellter als zuvor. Der Riese kritzelte etwas auf eine Tafel, und endlich, endlich flackerte so etwas wie Erkenntnis in Edwards Augen auf.

KANAL

Moon lachte – der nichtsw�rdige kleine Mann wagte es tats�chlich, mich auszulachen! �Ach ja, nat�rlich!�, rief er und schickte sich an, in einer v�llig �bertriebenen Darstellung zum Besten zu geben, wie ich (als viel j�ngerer Mensch) vorgehabt hatte, die Bank von England auszurauben, bei den dazu n�tigen Grabungsarbeiten jedoch irrt�mlich in das Londoner Abwassersystem gelangt war.

�Seit Monaten versuche ich schon, mich an Ihren Namen zu erinnern�, gluckste er belustigt, �aber selbst Mrs Grossmith wollte er nicht einfallen, und sie hatte immer schon ein ausgezeichnetes Ged�chtnis f�r Nichtigkeiten.�

Ich glaube, ich stellte an diesem Punkt die Frage in den Raum, ob es tats�chlich klug von Moon sei, eine so dreiste Haltung mir gegen�ber einzunehmen, wenn er in meinem unterirdischen Revier in der Falle sa�, ohne Waffen und mir auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert.

Er verlangte eine Erkl�rung, und als ich mich wieder uneingeschr�nkt in der Gewalt hatte, kam ich seinem Ersuchen so gut wie m�glich nach. Ich f�hrte aus, dass es selbst unter Kriminellen eine Rangordnung gibt und dass ich als Folge des oben erw�hnten bedauerlichen Fehlschlags zu so etwas wie einer Witzfigur unter meinesgleichen geworden war. Indem ich geschickt jegliche Art von Selbstmitleid vermied und meinen Tonfall perfekt zwischen Pathos und Entschlossenheit ansiedelte, sagte ich ihm dies: �Ich war es leid, der kleinste von allen kleinen Gaunern zu sein. Es wurde mir klar, dass ich an mir arbeiten, mich steigern musste. Man k�nnte sagen, dass dieses Ziel zu meiner Religion wurde.� Letzteres hielt ich f�r ein treffendes ironisches Wortspiel, worauf ich leise in mich hineinlachte. Charlotte l�chelte (das liebe M�dchen), aber die anderen beiden blieben unbeirrbar bei ihrem starren Gesichtsausdruck.

�Wir haben unsere Gesellschaft aus den Fugen geraten lassen, Mister Moon. Und wir hier bei Love verf�gen �ber eine L�sung f�r dieses Problem.�

�Na, dann sagen Sie schon.� Er g�hnte. �Aber haben Sie die Freundlichkeit und halten Sie sich m�glichst kurz, wenn’s geht.� Er sprach zu mir wie zu einem Kind, und obwohl sich mir vor Zorn die Nackenhaare str�ubten, entschied ich mich f�rs erste, seine Unversch�mtheit durchgehen zu lassen.

�Sie sind ein Teil dieser L�sung�, sagte ich mit Bedacht. �Es hat einen Grund, weshalb ich Sie herbestellt habe.�

�Ich kam aus eigenem Entschluss hierher. Sie hatten nichts damit zu tun.�

Ich gestehe es: ich war unf�hig, angesichts seiner Ahnungslosigkeit ein leises Jauchzen zu unterdr�cken (obwohl ich glaube, dass es mir recht gut gelang, es hinter einem leichten H�steln zu verbergen). �Nein, nein�, korrigierte ich ihn sanft, �ich habe Sie hierhergebracht.�

Drei Personen warteten an der Balkont�r auf ihr Stichwort. Jetzt winkte ich sie herein.

Mister Clemence. Mrs Honeyman. Thomas Cribb.

�Ich legte die F�hrten, Edward, und Sie folgten ihnen genau so wie erwartet.�

Etwas wie Furcht huschte �ber sein Gesicht, als die letzten Teile des Puzzles an ihren Platz gedr�ckt wurden. Selbstverst�ndlich kann ich nicht mit Sicherheit sagen, dass es dieser Moment war, in dem Moon die schiere Gr��enordnung der Falle erfasste, in die er so raffiniert gelockt worden war; doch fraglos schien er mir f�rs erste herrlich gebrochen, und als ich ihm dabei zusah, wie er versuchte, mit den Dimensionen seines Scheiterns zurande zu kommen, fand ich es beinahe unm�glich, nicht laut zu lachen.

Ungeachtet dessen, was Sie denken m�gen, bin ich beileibe nicht frei von jeglichem Mitgef�hl. Moon hatte soeben einen betr�chtlichen Schock erlitten, und selbst der Schlafwandler – der Mann mit dem steinernen Gesicht, dem Osterinselantlitz – wirkte auf meine beil�ufigen Enth�llungen hin wie vom Donner ger�hrt.

Ich entlie� Cribb, Charlotte und die anderen und f�hrte meine G�ste in meine bescheidenen Privatr�ume, wo ich ihnen Speis und Trank anbot und versprach, ihnen alles zu erkl�ren, sobald sie bereit dazu w�ren. Der Schlafwandler war augenscheinlich dankbar f�r den Imbiss, Moon hingegen lehnte r�de ab. Er stie� den Teller zur Seite und verk�ndete ungeduldig und gereizt: �Ich habe einige Fragen.�

�Was wir hier aufbauen�, sagte ich, �ist die Zukunft. Eine neue Gemeinschaft, inspiriert vom Traum der Pantisokratie.�

�Und inwiefern macht es dieser Traum erforderlich zu morden?�

�Mein Gewissen ist v�llig rein. Was ich mache, mache ich f�r die Armen und Imstichgelassenen in dieser unserer gro�artigen Stadt – f�r die Bed�rftigen, die hart am Abgrund existieren, wohin sie durch Umst�nde gedr�ngt wurden, an denen sie keine Schuld trifft. F�r die Menschen am Rande der Gesellschaft, wenn Sie so wollen, die Ausgegrenzten, die Fu�noten des Lebens. F�r die Sanftm�tigen, Mister Moon – die Sanftm�tigen, die das Land erben werden, wie es in den Psalmen steht.�

�M�nner wie Speight.�

�Ganz recht.�

Er klang w�tend: �Aber der Speight, den ich letzte Woche sah, war nicht der Mann, den ich fr�her kannte!�

Ich versuchte, es ihm begreiflich zu machen. �Er hat sich ver�ndert. Er fand eine bessere Art zu leben.�

�Was immer Sie mit ihm angestellt haben, dasselbe haben Sie mit meiner Schwester getan!�

�Sie kam aus eigenem Willen zu uns. Als sie erkannte, dass sie ihr bisheriges Dasein in Finsternis verbracht hatte, f�hrte Love sie ins Licht. Unser einziger Wunsch ist es, unser Leben nach den Grunds�tzen der Pantisokratie auszurichten, und wir sind schon nahe daran, unseren Traum wahrzumachen. Wie viele M�nner in der Menschheitsgeschichte konnten das von sich sagen? Wir werden das Paradies auf Erden errichten, Mister Moon. Warum beharren Sie darauf, sich uns entgegenzustellen?�

�Weil Sie gemordet, betrogen und verf�hrt haben! Weil Sie ein Versager sind, dessen krankhafter Geist sich vormacht, die Welt nach seiner eigenen Vorstellung neu erschaffen zu k�nnen!�

Die harschen Worte nagten ein wenig an mir, und Moon nutzte seinen augenblicklichen Vorteil aus. �Sie lie�en Barabbas umbringen!�

�Wir forderten ihn auf, sich uns anzuschlie�en.�

�Sich Ihnen anzuschlie�en? Wo im Paradies ist denn Platz f�r einen M�rder?�

�Sie hielten ihn doch nie f�r unverbesserlich! Und wir auch nicht.�

�Aber er weigerte sich?�

�Anscheinend war es ihm lieber, in Finsternis zu sterben.�

�Und Meyrick Owsley?�

�Meyrick war dort, um ihn zu bewachen. Barabbas wusste eine Menge �ber unser Unternehmen.�

�Ist das der Grund, warum Sie ihn t�ten lie�en?�

�Was uns st�rte, war nicht, dass er Ihnen die Wahrheit sagte; es war die Schnelligkeit, mit der er es tat. Ich muss zugeben, es �berrascht mich einigerma�en�, wechselte ich das Thema, �dass Sie mich nicht nach Cyril Honeyman fragen. Schlie�lich war es sein Tod, der Sie auf diese Spur brachte.�

Moon starrte mich finster an.

�Keine Theorien?�, fragte ich leichthin. �Keine eleganten Hypothesen? Keine brillanten Schlussfolgerungen, die Sie im letzten Moment aus dem Hut zaubern?�

�Sagen Sie schon!�, schrie er mich an.

�Er war der K�der, Edward. Ein gemeines, abwegiges Verbrechen, das Ihre Aufmerksamkeit erregen musste. Ein kleines Drama, von dem wir wussten, Sie w�rden ihm nicht widerstehen k�nnen. Als Mittel, Sie in unsere Richtung zu steuern, konnte es gar nicht fehlschlagen.�

�Wollen Sie damit vielleicht sagen, das alles galt nur mir? Eine abgekartete Sache?�

�Im Wesentlichen stimmt das, ja.�

�Menschen sind gestorben�, donnerte Moon, �nur damit wir diese m��ige Unterhaltung f�hren k�nnen?�

�Nun, ganz so ausschlie�lich auf Ihre Person bezogen d�rfen Sie es nicht sehen�, d�mpfte ich ihn. �Mrs Honeyman und Mrs Dunbar hatten wenig �brig f�r ihre leichtlebigen S�hne. Alle beide wollten dieses Krebsgeschw�r, das sich in ihr Leben fra�, loswerden – kurz und schmerzlos entfernt wie eine h�ssliche Warze. Und ich glaube, sie hatten sogar ihre Freude an dieser Erfahrung.�

�Mrs Honeyman. Mrs Dunbar. Das sind doch wohl kaum Menschen am Rande der Gesellschaft, oder?�

�Ich gestehe, es gab Zeiten finanzieller Engp�sse bei Love. Wir brauchten Geld. Die beiden waren wertvolle Aktivposten.�

�Waren?�

�Sie sind nicht w�rdig, ins Paradies einzutreten�, r�umte ich gelassen ein.

�Und der Fliegenmensch? Warum er?�

�Eine geradezu abenteuerlich phantastische Note, von der ich fand, sie m�sste Ihnen sehr entgegenkommen. Wie konnten wir wissen, dass Sie ihn t�ten w�rden?�

�Gut, und jetzt haben Sie mich also hier. Was wollen Sie? Geht es nur darum, mich zu dem�tigen?�

�Oh, ich will nicht abstreiten, dass mir das Spa� gemacht hat. Aber hier dreht es sich um mehr als nur Rache.�

�Was wollen Sie also?�

�Nun, Edward�, l�chelte ich, �Sie werden sich uns anschlie�en.�


Mrs Grossmith – die k�nftige Mrs Barge – wachte kurz vor Tagesanbruch pl�tzlich auf, ohne einen unmittelbaren Grund daf�r zu erkennen. Im Zimmer war es still, nur drau�en im Garten konnte sie die V�gel h�ren, die ihre gewohnten Lieder trillerten, ihre Morgenarien, ihre federleichten Hymnen und Ges�nge. Schon ihr ganzes Leben lang fragte sich Mrs Grossmith, was ihnen an dieser fast noch nachtschlafenen Zeit nur soviel Freude bereiten konnte; doch seit sie Arthur kannte, wusste sie die Antwort. Ein kleiner Wonneseufzer entschl�pfte ihr beim Gedanken an ihn – irgendetwas zwischen R�cheln und sattem St�hnen – und sie streckte die Hand nach ihm aus, fand jedoch nur das Laken, immer noch warm, aber schmerzlich bar jedes Br�utigams. �Arthur?�

Also falls Sie irgendwelche viktorianischen Bedenken haben, was ein liebendes Paar beim Teilen eines gemeinsamen Bettes betrifft, dann behalten Sie sie besser f�r sich. Mit solch antiquierter Pr�derie m�chte ich nichts zu tun haben, und ich kann Ihnen schon jetzt versichern, dass im neuen Pantisokratenstaat f�r Ihre Spie�b�rgerlichkeit kein Platz sein wird. Die moralischen Zw�nge unserer Eltern und Gro�eltern werden abgeworfen und durch etwas Nat�rlicheres, Sch�neres und Echteres ersetzt. Befreit von den K�figen, die die Gesellschaft mit einer solch selbstqu�lerischen Erfindungsgabe um sich errichtet hat, wird der Mensch bl�hen und gedeihen. In dieser neuen �ra werden wir alle sein wie Emmeline Grossmith und Arthur Barge.

Die Abwesenheit ihres Liebsten beunruhigte die Braut. Sie versp�rte die erste, schwache Vorahnung, dass der vor ihr liegende Tag furchtbar enden w�rde, und auf einmal h�rte das fr�hliche Zwitschern am Vogelbad drau�en auf, anregend zu wirken. Sie setzte sich auf, schob die Kissen hinter sich und rieb sich die trockenen, schuppigen Kr�mel aus den Augen, die sich dort w�hrend des Schlafes zu bilden pflegen. Wie �blich konnte sie nicht widerstehen und steckte einen davon in den Mund, auf dem sie dann versonnen herumkaute; doch anders als sonst vers�umte es das Ritual heute, sie aufzuheitern. Sie rief noch einmal: �Arthur?�

Die T�r ging auf, und ihr Br�utigam erschien auf der Schwelle – saubergeschrubbt, frisch rasiert und vollkommen angekleidet. �Ja, mein T�ubchen, mein Engel?�

�Es ist noch so fr�h! Was tust du denn schon auf?�

�Habe ich dich geweckt?�

�Arthur, ich bin beunruhigt!�

�Kein Grund dazu, mein Liebes. Ich bin in ein, zwei Stunden wieder zur�ck. Es gibt da eine kleine Sache, um die ich mich k�mmern muss. Etwas, das ich schon l�ngst h�tte erledigen sollen. Aber nichts, wor�ber du dir den Kopf zerbrechen musst, Liebste.�

Die allzu glatte, unbek�mmerte Art, wie er das sagte, die gek�nstelte L�ssigkeit seines Tonfalls, brachte sie auf der Stelle zur �berzeugung, dass das Gegenteil zutraf: dass die kleine Sache, wegen der die Liebe ihres Lebens so fr�h das Bett verlassen hatte, sehr wohl etwas war, das ihr Kopfzerbrechen bereiten, ja, mehr noch, das ihr Angst machen sollte.

Barge trat ans Bett, setzte sich auf die Kante und strich seiner Emmy �ber die Wange. �Schlaf weiter. Ich bleibe nicht lange fort. Und ich habe eine �berraschung f�r dich, wenn ich zur�ckkomme.�

�Eine �berraschung?�

Er legte einen Finger an die Lippen. �Wart’s ab.�

Mrs Grossmith lie� sich beschwichtigen, und eine Zeit lang gelang es ihr sogar, diese hartn�ckige Vorahnung einer nahen Katastrophe zu ignorieren. Arthur verlie� das Haus, um seine geheimnisvolle Angelegenheit zu erledigen, und seine Braut kroch zur�ck unter die Decke und lie� sich noch einmal vom Schlaf �bermannen. Ihre Tr�ume waren unruhig und pechschwarz.

Schlimm genug, dass diese reizende Dame unter solchen Albtr�umen zu leiden hatte – noch schlimmer jedoch, dass dieses verschwommene, gestaltlose Grauen beim Erwachen von den Schrecken der realen Welt sogar weit �bertroffen werden sollte.


Arthur Barge rief eine Droschke herbei und trug dem Kutscher auf, ihn zum Piccadilly Circus zu bringen. Den Auftrag hatte er lange vor sich hergeschoben – ein str�fliches Vers�umnis bei einem Mann, der sein Leben lang auf seine P�nktlichkeit und sein berufliches Pflichtbewusstsein stolz gewesen war.

In Piccadilly angekommen, lie� Barge die Droschke anhalten und stieg aus. Der Gegenstand seines Auftrags befand sich nat�rlich nicht dort, aber er wollte es vermeiden, dem Kutscher die genaue Adresse zu nennen. Er bezahlte den Fahrpreis und achtete darauf, das Gesicht abzuwenden, w�hrend er dies tat; er durfte nicht Gefahr laufen, von dem Mann sp�ter unter Umst�nden identifiziert zu werden.

Er trat zur�ck und wartete, bis die Droschke au�er Sicht war, ehe er sich Richtung St.‐James‐Park in Bewegung setzte.

Es war fr�h am Morgen, gerade hell geworden, und die Stra�en waren menschenleer – abgesehen von jenen Ungl�cklichen, die ihre N�chte zusammengekauert in den Nischen und Gossen Londons verbrachten. Barge schritt an ihnen vorbei, ohne ein zweites Mal hinzusehen – durchaus verst�ndlich in Anbetracht der Allgegenwart solcher Anblicke. Aber vielleicht sollte hier angemerkt werden, dass derartige �belst�nde in einem pantisokratischen Staat niemals auftreten w�rden …

Barge kam zum Park, umrundete ihn und bog von der Pall Mall in eine enge Gasse ein. Ein St�ck weiter blieb er vor einem unauff�lligen Haus stehen. Auf dem Schild neben der T�rglocke stand geschrieben:

KLUB DER �BERLEBENDEN
NUR F�R MITGLIEDER

Selbstredend war Barge kein Mitglied im Klub.

Er zog ein langes, d�nnes Instrument aus der Innentasche seiner Jacke – ein zartes Ding mit scharfen Zacken. Mit der Gem�tsruhe eines Mannes, der diese T�tigkeit schon viele Male ausgef�hrt hatte, f�hrte er das Instrument ins Schl�sselloch ein, drehte es erst in eine Richtung, dann in die andere, bis das Schloss mit gediegenem Klicken aufsprang. So leise wie m�glich zog er die T�r auf und trat ins Innere des Hauses.

Er schlich langsam den Korridor entlang. Vor ihm lag der Rauchsalon, aus dem ohrenbet�ubendes Schnarchen und Schnaufen drang. Barge reckte sich vorsichtig hinein, doch alles, was er sah, war ein alter Mann, der in einem Lehnstuhl schlief, die gestrige Times aufgeschlagen auf den Knien und eine halbleere Brandykaraffe zu seinen F��en.

Barge zog sich wieder zur�ck und ging ans Ende des Korridors, wo, wie er wusste, Mister Dedlock sein Quartier aufgeschlagen hatte. Er beobachtete den Klub schon seit Wochen und war im Laufe dieser Zeit zu dem Schluss gekommen, dass die Mitgliedschaft ausnahmslos auf die allersonderbarsten K�uze der Stadt beschr�nkt sein musste. Jeder, den er hatte eintreten oder herauskommen sehen, wirkte auf seine Weise wie eine Hogarth‐Figur, die aus einem Bild des Meisters entwischt war – gerade noch an der Grenze zum Dreidimensionalen und so bizarr, dass man seinen Augen kaum traute. Einmal hatte er sogar einen Blick auf Dedlock werfen k�nnen, wie dieser nackt durch den Rauchsalon stolziert war. Dass Dedlock von allen Anwesenden noch am normalsten ausgesehen hatte, sagte alles �ber die anderen Mitglieder.

Barge probierte die Klinke zu Dedlocks Zimmer; es war nachl�ssigerweise nicht versperrt, und die T�r ging klaglos auf. Eines der h�chsten Tiere des Direktoriums lag flach hingestreckt auf seinem Bett, schwitzte, w�lzte sich herum und murmelte im Schlaf. Laken waren �ber seinen nackten K�rper geworfen, und die dicken Enden seiner Brustnarben leuchteten selbst im Halbdunkel noch wei�. Das Bett stand nahe an einem gro�en Erkerfenster, dessen Gardinen sich ganz leicht in der Morgenbrise bauschten.

W�hrend Barge zum Bett ging, griff er in seine Tasche und zog etwas heraus, das aussah wie das Skalpell eines Chirurgen. Gleichm�tig wie ein Zahnarzt vor der zw�lften Behandlung des Tages beugte er sich �ber sein Opfer.

Im Laufe seiner Karriere hatte Arthur Barge vierunddrei�ig M�nner, dreizehn Frauen und zwei Kinder (Zwillinge) get�tet. In dieser Zeit hatte er gewisse Gewohnheiten entwickelt, abergl�ubisch festgelegte Vorgangsweisen, von denen die wichtigste darin bestand, seinen Opfern immer erst in die Augen zu schauen, bevor er ihren Lebensfaden abschnitt. Es machte die Sache viel realer, fand er, verlieh ihr einen pikanten Beigeschmack.

Mit seiner freien Hand r�ttelte er Dedlock wach. Die Lider des Mannes flatterten und �ffneten sich. Trief�ugig und benommen wollte er sich hochk�mpfen, nur um mit einer leichten Handbewegung wieder zur�ckgesto�en zu werden. Darauf schlug er wild um sich und schickte sich an zu schreien, doch Barge hielt ihm das Messer vor die Augen, und so erstarrte Dedlock. Gottergeben wie eine Kuh vor dem Schl�chter und im Bewusstsein, dass er der Klinge nicht entgehen konnte, r�hrte er sich nicht mehr. Barge legte das Skalpell an die Kehle des Mannes, den er aufs Korn genommen hatte, und freute sich schon darauf, seiner pers�nlichen Opferbilanz ein weiteres hinzuf�gen zu k�nnen – wobei er sich fragte, wie hoch die Statistik bis zu seinem Ruhestand noch klettern w�rde –, als, begleitet von einem gewaltigen Splittern von Glas, etwas durch das Fenster krachte.

Besser gesagt, ein doppeltes Etwas.

Nachdem sie sich aus der Gardine befreit und fl�chtig die Glasscherben von den Kleidern gestreift hatten, traten zwei unglaublich kuriose Gestalten in den Raum.

�Hallo, Sir!�

�Nanu, Arthur!�

Barge lie� vor Schreck das Skalpell fallen. Dedlock rappelte sich hoch, bis er aufrecht im Bett sa�, schnappte nach Luft und sch�pfte die unvermutete Hoffnung, dass er doch noch am Leben bleiben k�nnte.

Barge starrte die beiden Eindringlinge an, zu verbl�fft, um etwas zu sagen. �Wer seid ihr?�, brachte er schlie�lich hervor.

�Ich bin Hawker, Sir. Er hei�t Boon.�

Die Pr�fekten grinsten in sch�ner Einm�tigkeit.

�Morgen, Mister Dedlock. Tut uns f�rchterlich leid, so reinzuplatzen.�

Als Trost und Beistand umarmte Dedlock ein �berz�hliges Kissen. �Hat … hat der Albino Sie geschickt?�

�Klar, Sir. Busenfreund von Ihnen?�

�Pfundskerl, der alte Skimpers!�

�Schwer in Ordnung.�

Etwa zu diesem Zeitpunkt d�mmerte Arthur Barge endlich, was hier im Gange war, und er machte sich umgehend daran, sein Heil in der Flucht zu suchen, als der gr��ere der beiden M�nner ihn an den Schultern packte und mit festem Griff von der T�r weg zur�ck ins Zimmer schob. Barge versuchte sich zur Wehr zu setzen – mit dem einzigen Erfolg, dass der Fremde ihm beil�ufig den rechten Arm brach. Als Barge vor Schmerz aufbr�llte, begann Hawker ein Liedchen zu pfeifen.

�Ich danke Ihnen�, sagte Dedlock mit schwacher Stimme; seine Worte gingen im Wehgeschrei des Attent�ters fast unter.

Boon ber�hrte den Schirm seiner Kappe. �Nichts zu danken, Sir.� Im Handumdrehen schafften er und Hawker Barge aus dem Fenster und verschwanden dann auf demselben Wege.

Nach einem Augenblick der Stille schwang sich Dedlock aus dem Bett und blickte durch die zerbrochenen Reste seines Fensters.

Der Alte mit den buschigen Brauen wackelte tatterig und mit zerzaustem Haar zur T�r herein. �Was ist geschehen, Sir? Sind Sie verletzt?�

Dedlock hatte kaum einen Seitenblick f�r ihn �brig.

�Meine G�te, was wurde denn hier angerichtet?�, st�hnte der Alte.

�Ich wurde fast in meinem eigenen Bett umgebracht!�

�Oh, das tut mir aber leid!�

�Holen Sie den Brandy!�, bellte Dedlock. �Ich habe das scheu�liche Gef�hl, dass heute noch Schlimmeres nachkommt.�

Ein respektvolles Zucken der Brauen. �Sehr wohl, Sir.�


Als Arthur wieder zu sich kam, waren Hawker und Boon l�stern wie zwei Bengel, die B�ses im Schilde f�hrten, �ber ihn gebeugt. Er selbst war mit Rebschn�ren, die ins Fleisch seiner Hand‐ und Fu�gelenke schnitten, an einem Stuhl festgezurrt. Abgesehen von dem hellen Licht, das ihm ins Gesicht schien, war alles rundum dunkel.

�Gut, dass Sie wieder bei sich sind, Sir�, strahlte Boon. �Pr�chtig, ihn wieder wach zu sehen, wie, Hawker?�

�Pr�chtig, Boon.�

�Wer sind Sie?�, qu�kte Barge. �Was wollen Sie von mir?�

�Noch nie von uns geh�rt? Das entt�uscht mich aber. Dachte, wir w�ren lebende Legenden!�

�Alter Wichtigtuer!�

�Wie viel hat man Ihnen bezahlt?�, fragte Barge verzweifelt. �Egal, von mir bekommen Sie das Doppelte!�

�Fangen Sie nicht an, uns auf die Nerven zu gehen, Sir.�

�Was wollt ihr?�

�Tut uns leid, aber wir haben den Auftrag, Ihnen einen kleinen R�ffel zu erteilen.�

�Einen … R�ffel?�

�Einen ordentlichen Nasenst�ber, das meint er.�

�Eine gr�ndliche Abreibung.�

Barge begann zu weinen. �Bitte …�

�Wie lautet Ihr Name, Sir?�

�Mein Name?�

�Ganz recht, Sir.�

�Arthur Barge. Mein Name ist Arthur Barge.�

Boon sah betr�bt drein. Er nickte seinem Gef�hrten zu, worauf Hawker in seiner Jackentasche herumkramte und ein gewaltiges Messer zum Vorschein brachte, das zwei‐ oder dreimal so gro� war wie jenes, mit dem Barge vorgehabt hatte, Dedlock zu ermorden – und das, nebenbei bemerkt, bei weitem zu riesig schien, um in die Tasche des Pr�fekten zu passen.

Barge starrte es angsterf�llt an, w�hrend etwas Warmes, Fl�ssiges an seinem linken Bein hinablief.

�Herrje! Hawker hat ein tolles neues Taschenmesser!�

�Ist ein klasse Messer, Sir, sehen Sie mal – es hat auch einen Flaschen�ffner und einen Korkenzieher und so!�

Barge schluchzte auf.

�Nennen Sie uns Ihren Namen, Sir.�

�Habe ich doch schon gesagt! Ich hei�e Arthur Barge.�

Boon erhob geringf�gig die Stimme: �Seien Sie kein Dummkopf, Sir.�

�Bitte! Bitte, ich …�

�Den Namen, bitte, Sir. Ihren richtigen Namen.�

Barge sah keine andere M�glichkeit, als die Wahrheit zu sagen und sich der ungewissen Gnade dieser Kreaturen auszuliefern. Doch seltsamerweise war es sogar ein gutes Gef�hl, es nach all diesen Jahren offen auszusprechen, es endlich laut zu bekennen. �Ich bin der Mongoz�, kr�chzte er.

Boon strahlte wieder. �Ich danke Ihnen, Sir! Sie verstehen bestimmt, dass wir sichergehen mussten.� Sie lachten beide. Dann beugte sich Hawker �ber Mister Barge und fing an, mit unendlichem Behagen an seiner Kehle zu s�beln.


Hier sollte ich die Hand heben und gestehen, dass ich – zumindest teilweise – f�r die oben erw�hnte Unerfreulichkeit verantwortlich war. Ich musste die M�nner des Direktoriums daran hindern, sich allzu sehr f�r unsere T�tigkeiten zu interessieren, und als Folge des Scheiterns dieses alten Schluckspechts Slattery setzte ich diesen Auftragsm�rder auf sie an – einen fr�heren Ochrana‐Agenten, der perfekt getarnt als Arthur Barge hier lebte. Ich gestattete Donald, sich um die Einzelheiten zu k�mmern, und f�rchte, er ging vielleicht ein wenig �bereifrig an diese Aufgabe heran. Ganz gewiss hatte ich nie die Absicht, es so weit kommen zu lassen und der armen Mrs Grossmith dieses Leid zuzuf�gen. Aber wie sollte ich das ahnen? Ich bin ein vielbesch�ftigter Mann, und die �bertragung einiger Obliegenheiten an andere ist ein notwendiges �bel meiner Stellung.


So sehr ich es auch genossen hatte, Moon darzulegen, mit welcher Leichtigkeit ich ihn manipuliert hatte, wurde ich dieser ganzen Erkl�rungen langsam m�de.

�Sie wollen, dass ich mich Ihnen anschlie�e?�, brauste Moon auf. Vor rechtschaffener Entr�stung hatte sein Gesicht eine interessante malvenfarbige T�nung angenommen.

�Wenn Sie sehen, was ich Ihnen zeigen will, werden Sie verstehen, denke ich.�

Ich schlenderte hinaus, ohne mich umzusehen, denn ich war sicher, dass Moon und sein Partner mir folgen w�rden – weder aus Angst, noch aus einfacher Neugier, sondern angezogen vom nat�rlichsten Wunsch aller Menschen: zu erfahren, wie die ganze Geschichte ausgeht.

Seit langem schon fasziniert mich das unterirdische London – sein verborgenes Souterrain –, ja eigentlich alle dunklen Orte dieser Erde. Und so schufen Donald McDonald und ich, nachdem wir Love, Love, Love und Love den F�ngen seines widerlichen Gr�nders entrissen hatten, eine ganze Welt unter unserem Hauptquartier. Wir lie�en gro�e Gew�lbe und Grotten aus dem Untergrund hauen, die Versteck und Zufluchtsort vor dem Trubel der Welt oben sein sollten.

Ich f�hrte Moon und den Schlafwandler zur�ck zum Balkon �ber der gro�en Halle, die sich mittlerweile mit meinen Leuten gef�llt hatte – M�nner und Frauen, Schulter an Schulter, dicht gedr�ngt von einer Wand zur anderen. Der Saal brodelte vor Leben, vor �berstr�mender Liebe. Vor uns standen die Armen Londons, die H�sslichen und Verkr�ppelten, die Mittellosen, die Zerlumpten und die Hoffnungslosen, die M�hseligen und Beladenen – die Menschen am Rande der Gesellschaft, die Fu�noten der Stadt. Bei meinem Erscheinen ging ein Jubelschrei durch die Menge, den ich, so gut es ging, mit einer bescheidenen Verbeugung und einer abwehrenden Geste meiner Hand quittierte.

Moon starrte hinab auf das Gedr�nge und versuchte zweifellos, seine Schwester oder Thomas Cribb oder Mister Speight darin auszumachen.

�Ein Albtraumreich, wie Cribb gesagt hat�, murmelte er best�rzt. �Und so viele! Ich hatte keine Vorstellung, dass es so viele sein k�nnten.�

Love in seiner Gesamtheit�, erwiderte ich, unf�hig (das gestehe ich), meinen Stolz ganz zu verbergen. �Die Fu�soldaten der Pantisokratie.�

�Soldaten?� Moon klang wieder aufs�ssig. �Wozu sollte ein Paradies Soldaten brauchen? Und wozu die viele Gewalt? Warum die Toten? Weshalb nehmen Sie nicht einfach Ihre Anh�nger und gehen? Bauen Ihr Eden an den Ufern des Susquehanna und lassen den Rest der Menschheit in Ruhe?�

Ich sch�ttelte innerlich den Kopf �ber die Begriffsstutzigkeit des Mannes. �Des Susquehanna?� Ich bem�hte mich, meine Verachtung nicht in meine Stimme einflie�en zu lassen. �Glauben Sie wirklich, wir gehen nach Amerika?�

�Das war doch Coleridges Vorsatz, oder?�

�Amerika ist ungeeignet. Moralisch verkommen.�

�Und wohin dann?�

�Wir bleiben hier, Edward. Hier in der Stadt.�

�Ich dachte, Sie hassen London?�

�Keine Stadt ist unrettbar verloren. Wir werden sie wieder aufbauen. Neu beginnen. Eine neue Stadt haben, in der wir als wahre Pantisokraten leben k�nnen. Ich gebe London eine zweite Chance.�

�Und was geschieht mit denjenigen, die sich als unbrauchbar f�r Ihr Utopia erweisen?�

Ich musste aufrichtig sein. �Man wird sie dem Schwert �berantworten.�

Moon sagte etwas Vorhersehbares �ber meinen Geisteszustand. Ich nannte ihn kurzsichtig und erkl�rte ihm geduldig, dass wir die Stadt von Grund auf reinigen und einen neuen Anfang machen w�rden.

�Was w�rde denn Ihr hei�geliebter Coleridge von alldem halten? Ich bezweifle, dass er jemals ein solches Blutvergie�en zugelassen h�tte!�

Ich sp�rte, wie sich ein hysterischer Lachanfall in mir aufbaute, und nur mit �bermenschlicher Willensanstrengung gelang es mir, mich zu beherrschen. Mit ruhiger Stimme teilte ich Moon mit, dass ich ihn nun meinem Vorgesetzten, dem Pr�sidenten des Verwaltungsrats vorstellen wollte.

�Ich dachte, Sie w�ren der Allm�chtige hier�, fuhr er mich an.

Ich antwortete nicht, verlie� stattdessen den Balkon und f�hrte die beiden aus der Halle und tiefer in das unterirdische Tunnelsystem, hinab in die untersten Ebenen zu einem gro�en versperrten Raum, der sich im unzug�nglichsten Teil von Love befand – zu unserem Allerheiligsten. Die T�r war mit Schl�ssern und Ketten gesichert, und ein kleines Schild war alles, was das Dahinterliegende als dem

Pr�sident des Verwaltungsrates

geh�rendes Reich auswies. Ich sperrte die T�r auf und geleitete meine G�ste �ber die Schwelle. Ganz offensichtlich hatten sie nichts so Grandioses erwartet wie das, was sich ihren Augen nun bot. Selbst ich, der an den Anblick eigentlich l�ngst gew�hnt sein sollte, vers�umte nie, davon beeindruckt und aufgew�hlt zu sein: Eine gewaltige Metallkugel f�llte den Raum, ein gro�es Ei aus Eisen, in das in gleichm��igen Abst�nden gl�serne Luken eingelassen waren, gegen die innen eine gelbliche, sirupartige Fl�ssigkeit schwappte. An einer Seite war eine kleine Dampfmaschine angebracht, deren offene Betriebsteile ein nacktes Skelett bildeten, von wo aus sich Schl�uche und metallene Leitungen zu dem Ei schl�ngelten. Die gesamte furchteinfl��ende moderne Technologie der Elektrizit�t und der Dampfkraft war der Kugel zu Diensten – Ventile und Schieber, Kurbelwellen und Kolben, Pumpen und Schwungr�der, Zylinder und Dichtungsringe und Lagerbl�cke.

Aber es war nicht dieses kugelf�rmige Objekt selbst, das solche Sprachlosigkeit hervorrief, sondern das, was sich darin befand – sein einziger Bewohner.

Ein alter Mann schwamm in der Kugel – in Kleidern, die seit bald einem Jahrhundert au�er Mode waren, das d�nne wei�e Haar gelb von Nikotin und Verwesung, die Haut altersfleckig, an manchen Stellen aufgeplatzt und gezeichnet von leichter Zersetzung. Nichtsdestoweniger war er auf den ersten Blick als der f�hrende Dichter seiner �ra zu erkennen.

Moon begriff sofort, denke ich. Der Schlafwandler brauchte ein wenig l�nger. Unwillk�rlich ging mir die Zeile eines Gedichts durch den Kopf: �K�nnt’ ich in mir erwecken die Symphonie, das Lied?

Moon schnappte nach Luft, und ich bemerkte mit Genugtuung, dass er endlich die ganze Dimension dessen erfasste, was ich zustandegebracht hatte. �Wie ist das m�glich?�, staunte er.

�Galvanismus!�, rief ich triumphierend. �Die Wunder von Elektrizit�t und Dampfkraft!�

Der Schlafwandler kritzelte in w�tender Hast auf seine Tafel:

GRABREUBER!

Ich zuckte die Achseln; ich stand hoch �ber solch kleinlichen moralischen Bedenken. �Ich befreite ihn. Zweifellos wird er mir daf�r dankbar sein.�

�Er wirkt … besch�digt�, bemerkte Moon unsicher.

Der Schlafwandler starrte durch das Glas auf die H�nde des alten Mannes.

NEHTE

�Als ich ihn fand�, erkl�rte ich, �waren Teile seines K�rpers bereits stark verwest. Sie mussten ersetzt werden … Nat�rlich verwendeten wir, wo wir konnten, seine Freunde dazu. Seine linke Hand geh�rte vormals Robert Southey. Etliche Zehen waren eine Spende von Charles Lamb. Einige Organe, die ich wohl besser nicht im einzelnen erw�hne, stammten vom verstorbenen Mister Wordsworth.�

MONSTER!

�Nun ja, bestehend aus St�ckwerk und Flicken�, gab ich zu, �aber doch gewiss kein Monster. Ein Retter! Der Herr der Pantisokratie!�

Moon stand da wie versteinert. �Was ist diese Fl�ssigkeit?�

�Fruchtwasser. Oder zumindest etwas, das dieser Substanz so weit wie m�glich nahekommt. ›Denn Honigtau ist seine Speise und Himmelsmilch sein Trank‹.�

�Er lebt?�

�Er tr�umt�, nickte ich. �Und kommt wieder zu Kr�ften. Schon oft habe ich mich gefragt, was er in seinen Tr�umen sieht. Welche Wunder er in seinem Schlaf zu Gesicht bekommt.� Ich zeigte auf einen auffallend gro�en roten Hebel an einer Seite der Kugel. �Ich habe Mittel und Wege, ihn zu wecken.�

Alle drei blickten wir durch das Glas ins Gesicht dieses bemerkenswerten Menschen, dieses Titans der Dichtung und des philosophischen Gedankenguts – des letzten Mannes, so hie� es, der alles gelesen hatte. Wie friedlich er in der goldenen Fl�ssigkeit schwebte, wie Achtung gebietend trotz der k�rperlichen Unzul�nglichkeiten, die von seinem Aufenthalt im Grabe verursacht worden waren.

Moon starrte unverwandt durch das Glas; Tr�nen bildeten sich in seinen Augenwinkeln. �Ich verstehe�, fl�sterte er. �Vergeben Sie mir. Sie hatten recht.�

Obwohl ich wei�, dass ich dadurch in Ihrer Achtung fallen muss, werde ich es Ihnen gestehen, ohne zu err�ten: Als ich diese Worte aus seinem Munde vernahm, klatschte ich in die H�nde und tat einen Luftsprung und jubelte und quiekte voll kindischer Freude.


Das n�chste Mal wachte Mrs Grossmith zur Fr�hst�ckszeit auf, einige Stunden nachdem ihr Verlobter das Haus verlassen hatte. Schlaftrunken rieb sie sich die Augen, kratzte sich ausgiebig am ganzen K�rper und wollte gerade aus dem Bett steigen, um die erste Tasse Tee des Tages zu bereiten, als sie ein seltsames Ger�usch h�rte, das aus der K�che kam: Kinderlachen und dazwischen M�nnerstimmen, rauh und fremd. Sie bewaffnete sich mit dem erstbesten Gegenstand (da sie weder Sch�rhaken noch Vasen zur Hand hatte, musste der Nachttopf herhalten) und schlich auf Zehenspitzen zur T�r.

Zwei merkw�rdige Gestalten zappelten in geb�ckter Haltung vor dem Ofen herum – erwachsene M�nner, gekleidet wie Schuljungen. Sie traten ein weiches, rundes Ding auf dem Boden wie einen Fu�ball hin und her; es gab dabei ein schmatzendes Ger�usch von sich.

Der st�mmigere der beiden grinste, als er die Haush�lterin erblickte. �Nanu, auch da, Miss?�

�Hallo, Mrs Grossmith�, sagte der andere etwas h�flicher.

�Hoffentlich haben wir Sie nicht geweckt. Wir haben blo� m�chtig Spa� an der Fu�arbeit.�

�Spielen ›am Ball bleiben‹.�

In diesem Moment erkannte Mrs Grossmith das wahre Wesen des �Fu�balls�. Seltsam, dachte sie – so unbeteiligt, als w�re sie losgel�st von dieser Entsetzlichkeit –, seltsam, dass ein menschlicher Kopf viel kleiner aussieht, wenn er vom K�rper getrennt ist, als wenn er auf zwei kr�ftigen Schultern sitzt … Sie versuchte zu schreien, aber kein Ton drang aus ihrer Kehle.

�Schlechte Nachrichten, f�rchte ich, Miss�, sagte Boon wohlerzogen. �Ihr Br�utigam war ein Berufsm�rder, bei seinen Auftraggebern als ›der Mongoz‹ bekannt. Hawker und ich mussten ihm den Kopf zurechtr�cken.�

�Echte Halsabschneider, das sind wir�, wieherte Hawker. �Haben Tr�nen gelacht!�

�Was soll’s�, strahlte Boon. �Ich w�rde mir keine Gedanken mehr machen. So geht’s eben manchmal im Leben.�


Etwa um diese Zeit beging ich meinen ersten Fehler.

Mit Moon war eine Ver�nderung vor sich gegangen. Der Zyniker in ihm hatte sich vor meinen Augen verfl�chtigt, der eifrige Verk�nder von Vernunft und logischem Denken – all das, was ihn zu dem gemacht hatte, der er war – hatte sich vor mir aufgel�st. Statt seiner stand ein Bekehrter vor mir, ein neuer Saulus, der zum Paulus wurde und dessen Damaskus die Cannon Street war.

Solch eine Reaktion auf ein Zusammentreffen mit dem Direktor war kein Einzelfall. Speight, Cribb und Moons eigene Schwester waren alle erst erleuchtet worden, als sie den Tr�umer zu Gesicht bekamen.

�Jetzt wei� ich, was Sie meinen�, fl�sterte Moon. �Nun sehe ich klar.�

Ich f�hlte mich ungef�hr so, wie Jesus sich gef�hlt haben musste, als Thomas endlich aufh�rte, in Seinen gr�sslichen Wunden herumzustochern, und gab mir gr��te M�he, nicht selbstgef�llig zu wirken. �Also begreifen Sie jetzt?�

Moon wirkte seltsam unterw�rfig mir gegen�ber; von seiner fr�heren Respektlosigkeit war keine Spur mehr vorhanden. Vielleicht h�tte ich zu diesem Zeitpunkt erkennen m�ssen, dass der Schein trog, aber in diesem Moment kam mir das alles nur recht und billig vor.

Verbl�fft �ber die Kehrtwendung des Freundes schien der Schlafwandler etwas niederschreiben zu wollen, irgendeinen Einwand, kleinm�tige Bedenken, aber er war schlie�lich so klug, davon Abstand zu nehmen, und behielt seine Meinung f�r sich.

�Ich f�hle mich geschmeichelt�, sagte Moon – und dann noch einmal, nachdr�cklicher, als k�nnte ich seine Aufrichtigkeit anzweifeln: �Wirklich, ich f�hle mich geschmeichelt. Alles, was Sie f�r mich getan haben … nur um mir zu verg�nnen, dies hier mit eigenen Augen zu sehen! Dieser ganze Aufwand, nur um mir die Wahrheit zu weisen! Ich stehe in Ihrer Schuld.�

Ich befeuchtete mir die Lippen. �Ich habe eine Aufgabe f�r Sie.�

Er grinste freudig. �Das hoffe ich doch!�

Bebend vor Erregung erl�uterte ich, was ich von ihm erwartete. Ich hatte diesen Zauberk�nstler dazu bestimmt, die Stimme der Pantisokratie f�r die Au�enwelt zu sein und als wichtigster Werber f�r die neue Ordnung aufzutreten, als Sprecher des Sommerk�nigreichs. Denn wie alle gro�en F�hrer der Menschheit kannte ich meine Grenzen: Wer w�rde auf mich h�ren? Auf einen gescheiterten Dieb, einen ehemaligen Zuchth�usler, einen Versager? Ich kenne die Grausamkeit der Stimme des Volkes nur allzu gut – seine verstockte, tr�ge Beharrlichkeit, mit der es nicht der Botschaft lauscht, sondern ihren �berbringer l�cherlich macht.

Bei Moon war das etwas anderes. Ihm w�rden sie zuh�ren – einem gefeierten Detektiv, dem Magier des Theaters des Unglaublichen und einstigen Fixstern am Himmel der besseren Gesellschaft.

Dieses �Einstige� war es nat�rlich, auf das es ankam. Ich hoffte, dass er immer noch �ber genug Einfluss verf�gte, um geh�rt zu werden, aber eigentlich faszinierte mich das Abgleiten des Mannes in die Bedeutungslosigkeit; er war im Begriff, zu einem Menschen am Rande der Gesellschaft zu werden, und ob er es nun wusste oder nicht: Damit war Edward Moon auch dabei, einer von uns zu werden.

�Lassen Sie mich gehen�, bettelte er. �Bitte! Lassen Sie es mich allen verk�nden! Die Menschen m�ssen vorbereitet werden! Die Stadt muss bereit sein f�r die Pantisokratie!�

Es war eine �berzeugende Vorstellung, und ich f�rchte, dass sie ihm nicht schwerfiel. Wahrscheinlich halten Sie mich f�r einen Narren, �berhaupt darauf hereinzufallen, aber da ich zu jener Zeit dazu neigte, mich von Redlichkeit �berw�ltigen zu lassen, m�ssen Sie mir vergeben.

Also lie� ich ihn gehen.

Ich gab ihm vierzehn Tage, um die Botschaft zu verk�nden, zwei Wochen, um die Stadt bereit zu machen. Aber selbst in meinem hehren Glauben an Moon hatte ich mir eine gewisse List bewahrt, denn in den fernen Winkeln meines Verstands lauerten doch noch die Schatten des Zweifels. �Sie werden allein gehen�, entschied ich, und als Moon sich anschickte zu protestieren, schnitt ich ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. �Der Schlafwandler muss erst noch bekehrt werden. Er wird hier bei uns bleiben, bis er die Richtigkeit unseres Weges erkennt.�

Moon versuchte noch einige Einw�nde, doch schlie�lich gab er nach und erkl�rte sich einverstanden, seinen Freund unter der Erde zur�ckzulassen. M�glicherweise verst�ndigten sich die beiden durch einen Geheimcode oder eine Geste – etwas, das dem H�nen die Furcht nehmen sollte und ihn davon in Kenntnis setzte, dass Moon einen eigenen Plan verfolgte. Falls es zu einem solchen Vorfall kam, dann entging er mir.

Ich bilde mir gern ein, dass ein winziger Teil seiner Person tats�chlich glaubte – dass er ungeachtet seines zynischen Schauspielerns irgendwo noch einen Rest von Anst�ndigkeit besa�, der uns Achtung und Anerkennung zollte. Naiv, ich wei�. Naiv und zu vertrauensselig. Aber so bin ich eben. Mit der eiskalten Falschheit eines Mannes wie Moon konnte ich es nie unbeschwert aufnehmen.

Ich verlie� den Direktor, der immer noch schlief, und befahl, den Detektiv an die Oberfl�che zu begleiten (Donald McDonald und Elsie Bayliss, eine einarmige ehemalige Putzfrau, machten die Honneurs). Wir sch�ttelten uns zum Abschied herzlich die Hand.

�Vierzehn Tage?�, fragte er enthusiastisch, offenkundig erf�llt von der neu gewonnenen �berzeugung.

�Zwei Wochen. Sie haben mein Wort.�

Er dankte mir und ging. Der Schlafwandler sah ihm nach, wobei seine reglosen Augen einen Funken Angst verrieten. �Keine Sorge�, sagte ich und ber�hrte ihn leicht an der Schulter. �Bald werden Sie die Wahrheit erkennen.�

Wir gingen zur�ck zum Pr�sidenten des Verwaltungsrats. Ich hoffte, dass er trotz seines schlafenden Zustands meine Anwesenheit wahrnahm, dass er begriff, wer ich war, und mir daf�r dankte. Manchmal wagte ich sogar zu hoffen, dass er mich liebte. Ich sprach leise in das Glas der Luke: �Vierzehn Tage. Dann wirst du durch das Sommerk�nigreich wandeln.�

Ein kurzes Klopfen an der T�r. �Reverend Doktor Tan!�

Ich drehte mich um, und mein Blick fiel auf ein Traumbild in Chiffon und Spitzen. �Charlotte!�

Sie brachte ein d�nnes L�cheln auf die Lippen. �Bitte nennen Sie mich Love.�

�Selbstverst�ndlich�, sagte ich leicht verlegen.

�Ich bin besorgt.� Wie immer sprach sie in diesem ber�ckenden Singsang – eine jener Stimmen, die, sinnierte ich, einst Seefahrer in den sicheren Tod gef�hrt, Generationen von Matrosen in die felsige Brandung gelockt haben mussten. �Mein Bruder. Haben Sie ihn gehen lassen?�

�Er ist jetzt einer von uns. Love Eintausend ist nach oben zur�ckgekehrt, um die frohe Botschaft zu verk�nden.�

Charlotte wirkte ungeduldig. �Er hat Ihnen etwas vorgemacht! Er hat Sie belogen!�

�Wie?�

�Ich kenne meinen Bruder. Er ist nicht zur�ckgegangen, um die Nachricht zu verbreiten! Er wird die Polizei hier herunterbringen, die Armee! Sie werden uns vernichten! Sie, Reverend, haben ihn gedem�tigt, und er sinnt auf Rache.�

�Ich bin sicher, er meint es ehrlich�, beharrte ich, obwohl ich sp�rte, wie sich die Risse in meiner �berzeugung weiteten. �Er war v�llig ver�ndert!�

�Unsinn�, stellte Charlotte barsch fest. �Er wird Sie verraten. Sie haben nicht den T�ufer hinaufgeschickt, sondern einen neuen Judas!� Eine interessante Begleiterscheinung, bemerkte ich bei mir, dass jene unserer Anh�nger, die dem Direktor Auge in Auge gegen�bergestanden hatten, aufgrund dieses Erlebnisses sprachgewaltiger wurden.

�Sind Sie sicher?�

�Absolut.�

Einen Moment lang wusste ich nicht weiter. �Was sollen wir also tun?�

�Die Sache vorverlegen. Vergessen Sie die vierzehn Tage. Machen Sie es sofort.�

�Wir sind noch nicht so weit!�

�Sie planen das seit Jahren. Nat�rlich sind wir so weit! Und ich habe auch schon einen Trupp ausgeschickt, der die Z�ge anhalten soll.�

�Ohne meine Erlaubnis?�

�Verzeihen Sie, aber ich hielt es f�r das Beste. Die Zeit ist knapp. Die Untergrundbahn wird uns heute nicht mehr st�ren.� Sie warf einen Seitenblick auf meinen Begleiter. �Und noch etwas. Der Schlafwandler. Mein Bruder wird zur�ckkommen, um ihn zu holen. Er k�nnte uns dann n�tzlich sein … als Druckmittel.�


Zwanzig Mann waren n�tig, um den Schlafwandler zu b�ndigen, sobald er erkannte, was wir vorhatten; doch schlie�lich gelang es uns, ihn in die gro�e Halle zu bringen, dort zu Boden zu zwingen und zu fesseln. Doch nat�rlich war er praktisch unverwundbar, und wir wussten, dass Seile und Ketten allein ihn nicht festhalten konnten. Schlie�lich war es Mister Speight, der die L�sung parat hatte.

Wir durchstachen den Schlafwandler vierundzwanzig Mal, indem wir zwei Dutzend Schwerter durch seinen K�rper stie�en und sie tief im Boden verankerten. Stoisch und ohne einen Laut von sich zu geben, ertrug er diese vielen tiefen Wunden, und ich fragte mich wieder einmal, was genau er eigentlich war – welcher Natur ein Wesen sein musste, um diese Tortur zu �berstehen, ohne einen Tropfen Blut zu verlieren. W�hrend ich zusah, f�hlte ich mich an Gulliver erinnert, der von den Liliputanern am Strand an Pf�hle gebunden wird, an Galileos Portr�t des Menschen, entstellt und gefesselt – verkommen zum Schaust�ck eines Schmetterlingssammlers.

Ganz Love versammelte sich um den H�nen, neugierig und einigerma�en �ngstlich. Ich rief sie zur Ordnung – alle neunhundertneunundneunzig, die Infanterie des Sommerk�nigreichs, meine Truppen der Pantisokratie. Ich wusste, dies k�nnten die wichtigsten Worte sein, die ich jemals sprechen w�rde, H�hepunkt der Tr�ume eines Jahrzehnts.

Ich begann mit einer Entschuldigung. �Ich gestehe�, rief ich, �dass ich in die Irre gef�hrt wurde – betrogen von einem Mann, von dem ich annahm, er w�re einer von uns geworden. Und aufgrund meiner Kurzsichtigkeit ist er nun drau�en, um unsere Feinde zu warnen. Dank sei dem Direktor, dass Love Neunhundertneunundneunzig mir die Augen �ffnete, bevor es zu sp�t war.� Ein wohltuender Applaus.

�Doch selbst dieser Verrat hat etwas Gutes an sich. Unsere Pl�ne haben sich ge�ndert. Die Pantisokratie f�ngt mit dem heutigen Tage an. Das Sommerk�nigreich tut sich uns fr�her auf, als wir zu hoffen wagten.� Erneutes Jauchzen und H�ndeklatschen. �Geht hinaus�, fuhr ich mit anschwellender Stimme fort, �bekehrt die Stadt, rottet die Symbole von Schmutz und Verderbtheit aus! Verursacht ein Chaos – jedoch ein reines, heiliges Chaos! Benutzt das Schwert – jedoch sparsam, nicht als Waffe, sondern als Messer des Chirurgen im Kampf gegen Krankheit und �bel, denn wir wandeln inmitten eines neuen Eden! Ich verlasse mich auf euch!� Ich blickte hinab auf beinahe tausend einsame Gesichter – auf die Besitzlosen, den Abfall unserer Gesellschaft und die ehemaligen Feinde, die bekehrt worden waren – und versp�rte eine Aufwallung von Kraft und Zuneigung.

�Ich liebe euch alle�, sagte ich und f�gte �berm�tig hinzu: �Gott sei mit euch!�

Unter wildem Gebr�ll st�rmten sie aus der Halle, durch die Tunnel hinaus auf die Stra�en: Abwehrkr�fte, bereit zum Kampf gegen das Krebsgeschw�r der Stadt.


Ich ging allein zur�ck zum Pr�sidenten und betrachtete ihn schweigend durch das Glas seines Mutterscho�es, bis meine Erregung unertr�glich wurde.

Da tat ich es schlie�lich: Ich zog an dem roten Hebel.

Wie ein Feuerwerk spritzte ein Funkenschauer von der Apparatur und stob durch den Raum. Die Kugel f�llte sich mit Bl�schen und Blasen, und ein starkes Licht erstrahlte aus ihrem Inneren, so blendend hell, dass nicht einzelne Sterne, sondern ganze Galaxien vor meinen Augen tanzten.

Mit einem Ruck hob sich der Kopf des alten Mannes, sein K�rper erbebte, und die Arme schlingerten ziellos hin und her, ehe seine Finger die Innenwand der Kugel ber�hrten und daran kratzten.

Ich konnte kaum glauben, dass ich bei diesem Anblick zugegen sein durfte; selbst ein Augenzeuge der ersten Geburt der Menschheitsgeschichte h�tte sich nicht anders f�hlen k�nnen – bei Evas Keuchen und Kr�mmen in h�chster Verwirrung, w�hrend Kain aus ihrem Scho� kroch.

Das Gesicht des alten Mannes war keine Handbreit von meinem eigenen entfernt, als er die Augen aufschlug; er schien zu l�cheln, als er mich sah.

Der Tr�umer war erwacht.

�berw�ltigt von Freude schraubte ich die Luken der Kugel auf. Wogen gelber Fl�ssigkeit schossen daraus hervor und ergossen sich �ber den Boden. Triumphierend schrie ich auf, als mir der Alte entgegenst�rzte. Ich fing ihn auf, und er lehnte sich nach Luft ringend an mich. Ich schlug ihm fest auf den R�cken, und er hustete ein Weilchen, ehe er tiefe Atemz�ge nahm. Er sagte nichts, gurgelte und zischte nur wie ein l�chriger Blasebalg, w�hrend ihm Schaum vom Mund troff und ich ihn fest an mich gepresst hielt.

Nein, Moon w�rde mich nicht besiegen! Ich hatte mein Versagen in einen Triumph verwandelt. Der Tr�umer war erwacht, der Pr�sident wandelte unter uns, und endlich war Love losgelassen auf Londons Stra�en.


NEUNZEHN

Maurice Trotman war beim Fr�hst�ck, als das Schicksal an seine T�r klopfte. Mister Trotman, werden Sie sich erinnern, war der Mann vom Ministerium, der Beamte, dem gelungen war, woran so viele andere vor ihm gescheitert waren, n�mlich das Direktorium f�r immer zu schlie�en. Er war ein steifer, pedantischer Mann, typisch f�r diesen Menschenschlag – jene leidenschaftslosen Automaten mit den unbewegten Gesichtern, die unerm�dlich die erbarmungslose Staatsmaschinerie am Laufen halten. Sein Ehrgeiz hatte Grenzen, seine Zukunftstr�ume waren bescheiden, und er sah das Leben prosaisch – als eine Leiter, eine Laufbahn, als eine angenehm regelm��ige Aufeinanderfolge von Bef�rderungen und Ernennungen.

Er war gerade im Begriff, ein verlorenes Ei zu essen, als er das energische Pochen an seiner Haust�r vernahm. Obgleich er der Tochter eines Kollegen halbherzig den Hof machte, war er immer noch Junggeselle, hatte kein Personal und lebte und a� allein. Daher war es Maurice selbst, der, noch im rehbraunen Schlafrock, dem Tod die T�r �ffnete.

�Was wollen Sie?�, fragte er barsch. Wie jeder echte Gentleman war er vor acht Uhr morgens nur in bedingt gut gelaunter Verfassung.

Ein extravagantes Paar stand vor der T�r. Erwachsene M�nner, einer st�mmig, der andere schlank, und beide in kurzen Flanellhosen, unter denen sich nackte, knorrige M�nnerknie zeigten.

�Morgen�, sagte Boon.

�Tag auch�, sagte Hawker.

�Tut uns schrecklich leid, Sie so fr�h st�ren zu m�ssen.�

�Geht nicht anders�, bedauerte Hawker.

�Ich f�rchte, wir sind so etwas wie ein Deus ex machina.�

�Schwatz nicht Latein mit mir, Alter! Du wei�t doch, ich verstehe blo� Bahnhof!�

Boon kicherte pflichtschuldigst. �Hawker hat ein tolles neues Taschenmesser�, vertraute er Maurice an. �Mit Korkenzieher und Flaschen�ffner und so einem Dings, mit dem man dem Pferd Steinchen aus den Hufen holen kann. M�chten Sie es sehen?�

Im Laufe ihrer beispiellos langen und blutgetr�nkten Karriere hatte nur selten etwas die Pr�fekten �berrascht. Besonders verbl�ffend also, dass es einem besseren B�rohengst gelingen sollte, sie so einfach zu �berlisten.

Maurice Trotman war die Beamtenleiter nicht so weit hochgeklettert, ohne auf diesem Wege eine ordentliche Portion List und T�cke mitzunehmen. Er hatte die Pr�fekten auf den ersten Blick erkannt, und w�hrend die beiden vor ihm standen, ihren sorgf�ltig einstudierten Austausch von neckischem Gepl�nkel abspulten und fr�hlich daherschnatterten, entwarf er l�ngst einen Fluchtplan. Der R�ckzug ins Haus kam nat�rlich nicht in Frage; er wusste, dort w�rde er in der Falle sitzen, die beiden w�rden ihn aufsp�ren und umgehend erledigen. Doch drau�en im Freien mochte er noch eine Chance haben.

W�hrend Hawker und Boon ihr Geschw�tz fortsetzten (irgendetwas �ber Seilspringen), streckte Trotman vorsichtig den linken Arm hinter die T�r und zum Schirmst�nder, aus dem er geschickt das Familienerbst�ck zog: einen schlanken schwarzen Schirm, drei Generationen alt – weitergegeben von Vater zu Sohn �ber sechzig stolze Jahre Dienst am Staate hinweg.

Er fixierte die Pr�fekten. Hawker hatte sein Messer gezogen und war im Begriff, ihm lautlos immer dichter auf den Leib zu r�cken, als Trotman mit verbl�ffender Gewandtheit den Schirm hinter der T�r hervorriss und damit dem Mordbuben das Messer aus der Hand schlug. Er machte sich den Augenblick der �berraschung zunutze und schoss zwischen den Pr�fekten hindurch auf die Stra�e. Er konnte sein Gl�ck kaum glauben, als er Richtung Zentrum raste, dorthin, wo er sich f�lschlicherweise in Sicherheit w�hnte.

Hawker br�llte vor Ohnmacht und Entt�uschung auf, Boon hingegen kochte zwar vor Wut, gab jedoch keinen Laut von sich.

�Gottverdammter Lumpensack!�, schrie Hawker. �Er ist get�rmt! Der nichtsnutzige Spitzbube haut ab! Was sollen wir jetzt tun?�

Boon setzte eine grimmig entschlossene Miene auf. �Wir folgen ihm! Und wenn wir ihn haben, pr�geln wir das Stinktier mit seinem verflixten Schirm zu Tode!�

Die Pr�fekten rannten los und setzten schweigend ihrer Beute nach, unbeirrbar wie Bluthunde auf einer F�hrte, unerbittlich wie das Schicksal.


Ich nehme an, ich sollte Ihnen jetzt besser berichten, wie es mit Moon weiterging. Wie mir scheint, haben Sie alle meine Warnungen in den Wind geschlagen und sind mittlerweile dem Manne zugetan; so halte ich es f�r m�glich, dass Sie sich um ihn sorgen.

Zweifellos f�hlte er sich h�chst selbstzufrieden, als er das Hauptquartier von Love verlie� und �ber die Station King William Street nach oben in den jungen Tag zur�ckschlenderte. Oh, er dachte gewiss, er h�tte mich mit dieser Schmierenkom�die, dieser vorgespiegelten Damaszener Bekehrung hinters Licht gef�hrt. Doch wie wir gesehen haben, rechnete er nicht mit dem Scharfsinn seiner Schwester.

Oben angekommen winkte er die erste Droschke herbei, die ihm unter die Augen kam, und hie� den Kutscher, ihn auf k�rzestem Wege nach Scotland Yard zu bringen. Er versprach dem Mann sogar einen Sovereign, wenn er die Strecke in einer Viertelstunde schaffte. Tats�chlich dauerte die Fahrt dann fast doppelt so lang, w�hrend Moon ohnm�chtig mit den Fingern trommelte. Nach der Ankunft am Yard rannte er geradewegs zum B�ro seines alten Freundes, riss die T�r auf, ohne zu klopfen, und rief: �Merryweather.�

�berrascht sah der Inspektor von seinem Schreibtisch hoch. �Edward! Was ist denn los?�

In verzweifelter Hast, seinen Bericht hervorzusprudeln, jedoch ohne zu wissen, wo er beginnen sollte, klang Moon wie ein menschliches Telegramm, und die Satzfragmente, die er hervorstie�, ergaben keinen Sinn: �Verschw�rung … im Untergrund … ganz Love versammelt … der Tr�umer … Schlafwandler …�

�Sachte, Edward, sachte. Erz�hl mir langsam, was geschehen ist.�

Moon holte tief Atem. �Ein Mann, der sich Reverend Doktor Tan nennt, hat in Stollen unter der Stadt eine ganze Armee aufgestellt. Ein Spinner. Er hat irgendeinen wahnwitzigen Plan ausgeheckt, London zu zerst�ren, die Stadt in Schutt und Asche zu legen und dann neu aufzubauen.�

Vermutlich sollte ich mich ein wenig gekr�nkt f�hlen, als Spinner bezeichnet zu werden, aber dazu m�sste es mir an der mir eigenen menschlichen Gr��e fehlen. Propheten gelten schlie�lich nie im eigenen Lande.

Als Moon geendet hatte, l�ste sich ein umfangreicher Schatten aus einer Ecke des Raumes. �Es hat also angefangen�, stellte er n�chtern fest.

Merryweather erhob sich. Moon sollte sp�ter einmal sagen, dass dies eine der wenigen Gelegenheiten war, bei denen er den Inspektor nicht lachend oder wenigstens l�chelnd oder einen leicht unpassenden Witz rei�end erlebt hatte. Selbst angesichts brutaler Verbrechen und schrecklicher Morde, heimt�ckischer Attentate, blutiger Unruhen und gr�sslicher T�tungsorgien Wahnsinniger hatte Detektivinspektor Merryweather nie seinen Sinn f�r Humor verloren. Dass er heute nicht einmal den Anflug eines L�chelns auf seine Lippen brachte, war ein Ma�stab f�r den Ernst der Lage.

Er stellte den Fremden vor. �Dies ist Mister Dedlock.�

Der Mann mit der furchtbaren Narbe im Gesicht machte die Andeutung einer Verbeugung. �Ich arbeite mit Skimpole zusammen.�

Moon starrte ihn an, hob die Nase und schien Witterung aufzunehmen wie ein Fuchs, der sp�rt, dass die Jagd n�herkommt. �Sie sind vom Direktorium�, stie� er hervor. �Was wollen Sie hier?�

ExDirektorium�, murmelte Merryweather.

�Die Dienststelle wurde geschlossen�, best�tigte Dedlock. �Man hat bereits versucht, mich umzubringen. Und Skimpole ist nirgends zu finden. Ich musste mich um Beistand an die Polizei wenden.� Er r�mpfte die Nase.

Love war schlauer als Sie�, sagte Moon (und ich gestehe, ich versp�rte einigen Stolz hinsichtlich der beil�ufigen Selbstverst�ndlichkeit, mit der er das feststellte). �Diese Leute sind zum Losschlagen bereit. In zwei Wochen werden sie aus dem Untergrund hervorst�rmen, um alles zu zerst�ren, was sich ihnen in den Weg stellt. Die Stadt ist in schrecklicher Gefahr.�

�Klingt unglaublich�, sch�ttelte Merryweather den Kopf. Er wurde von einem kurzen Klopfen an der T�r am Weitersprechen gehindert. Ein junger Polizist, au�er Atem und mit rotem Kopf, trat ein und sp�hte nerv�s von einem zum anderen. �Verzeihung, wenn ich st�re, Sir.�

�Was gibt’s?�

�Wir haben Berichte von … Tumulten im B�rsenviertel. Von Stra�enk�mpfen. Br�nden und Krawallen. Es h�rt sich an wie …� Der Junge schluckte. �Wie eine Invasion.�

Ungerechterweise fiel Dedlock �ber Moon her. �Man hat Sie reingelegt! Zwei Wochen! Sie blutiger Narr! Es f�ngt bereits heute an!�

Merryweather br�llte los. �Schicken Sie alle M�nner, die wir haben, dorthin! Alle!

Moon war entsetzt. �Sie verkennen die Gr��enordnung! Diese Leute sind bewaffnet bis an die Z�hne! Merryweather, Sie lassen Kn�ppel und Pfeifen gegen eine Armee antreten!�

Der Inspektor fluchte. �Wir h�tten darauf vorbereitet sein sollen.� Er wandte sich an Dedlock. �Wie viele M�nner k�nnen Sie aufbringen?�

�Zwanzig. Drei�ig vielleicht, auf die wir wirklich z�hlen k�nnen.�

�Zwanzig, drei�ig!�, rief Moon. �Mein Gott, man wird sie hinschlachten!�

Dedlock sah aus, als h�tte er Angst. �Es tut mir leid …�, fl�sterte er. �Ich habe keine Macht mehr.�

Moon wandte sich zur T�r. �Tun Sie, was Sie k�nnen. Ich gehe dorthin zur�ck.�

Merryweather stellte sich ihm in den Weg. �Edward, Sie k�nnen das alles nicht alleine aufhalten!�

�Aber der Schlafwandler ist bei ihnen. Und meine Schwester auch. Ich bin es den beiden schuldig, alles zu versuchen.� Er dr�ckte die Hand des Inspektors und dr�ngte sich an ihm vorbei. �Viel Gl�ck.�

Er verlie� den Yard im Laufschritt und bewegte sich wieder auf das Herz der Stadt zu.

Keine Droschke wollte ihn auch nur in die N�he des Schauplatzes bringen. So war er gezwungen, einen zweir�drigen Wagen zu mieten und selbst dorthin zu kutschieren, wobei er wie ein Wahnsinniger durch die Stra�en jagte, ohne sich auch nur im Geringsten um die Sch�den zu k�mmern, die er dabei anrichtete. Doch als er sich den Tumulten n�herte, behinderten in Panik geratene und fliehende Menschenmengen seinen Weg, und bald ging es nicht mehr weiter. So lie� er das Gef�hrt zur�ck und rannte zu Fu� der Katastrophe entgegen.


Als ich aus der King‐William‐Street‐Station trat, den Pr�sidenten an meiner Seite, erblickte ich etwas, das nur wenigen je verg�nnt ist: die Verwirklichung meines sehnlichsten Traumes, die Erf�llung meiner gr��ten Hoffnung.

Br�nde waren gelegt worden, und der Himmel wurde von scharlachroten Feuergarben erhellt, die selbst im w�ssrigen Licht des Morgens noch leuchteten – eine anarchistische Guy‐Fawkes‐Szenerie, nachdem er die Pulvermine hochgejagt hatte. Die Fu�soldaten von Love, die Getreuen der Kirche des Sommerk�nigreichs, str�mten durch die Stra�en und lie�en Gerechtigkeit widerfahren, wo immer sie konnten, erg�tzten sich an ihrer Freiheit und an den epochalen Ver�nderungen, die sie �ber die Stadt bringen w�rden.

Der Morgen war kalt, unser Hauch dampfte in der Luft wie Rauchschwaden, und zu meinem Erstaunen sah ich, dass die Atemluft meines Gef�hrten lebhaft gr�n gef�rbt schien – etwas, das ich zu diesem Zeitpunkt unklugerweise als eine durch das Licht hervorgerufene Sinnest�uschung oder als leichtes Halluzinieren abtat, verursacht durch �berarbeitung und die Erregung des Augenblicks. Der alte Mann an meiner Seite blickte mit tr�ben Augen um sich, verwirrt von all dem L�rm, all der Raserei. �Ned?�, fragte er hoffnungsvoll.

�Ja�, log ich, �ich bin hier.�

�Was geht da vor?�

�Kommen Sie mit mir. Wir brauchen einen besseren �berblick.�

Ich nahm ihn an der Hand und f�hrte ihn zum Monument, wo wir �ber die Wendeltreppe nach oben gelangten. Leichtf��ig wie eine Gazelle flog ich �ber die Stufen, war jedoch h�ufig gezwungen innezuhalten, um dem Alten eine Pause zu g�nnen. Den letzten Abschnitt des Aufstiegs musste ich ihn streckenweise tragen, doch schlie�lich traten wir hinaus ins Freie, um einen Montagmorgen zu erleben, wie es noch keinen gegeben hatte – einzigartig in all den Jahrhunderten des langen Lebens der Stadt.

�O siehe und erkenne, mein Freund�, rief ich (gewiss werden Sie mir unter diesen Umst�nden ein wenig Schw�lstigkeit nachsehen), �das Heraufd�mmern des Sommerk�nigreichs!�

Und von unserem Wren’schen Adlerhorst aus sahen wir alles. Rauch stieg in gewaltigen Fahnen hoch, Kampfesl�rm umtoste uns, und die Luft war erf�llt von den Schreien der Sterbenden. Der Sterbenden? Ich f�rchte, ja. Wenn gegens�tzliche Weltanschauungen auf dem Schlachtfeld aufeinanderprallen, ist Blutvergie�en unvermeidlich. Zweifellos halten Sie eine solche Einstellung f�r roh, aber es gibt eben Menschen, denen jegliche innere Kraft f�r Bu�fertigkeit und damit Erl�sung fehlt. Wenn die Stadt auf den rechten Weg gef�hrt werden sollte, so blieb mir keine andere Wahl, als sie dem Schwert zu �berlassen.

Der Arbeitstag hatte kaum begonnen, als er schon abrupt und blutig beendet wurde. Die Bankiers, die Makler und Kaufleute, H�ndler, Buchhalter und Geldverleiher – alle, alle wurden br�llend und kreischend aus ihren Kontoren gezerrt. Einige wurden verschont, die meisten jedoch hingerichtet. Ich w�rde Ihnen herzlich gern versichern, dass ihr Tod rasch und schmerzlos und ihr Ende von einem gewissen Ma� an W�rde begleitet war, doch um ehrlich zu sein, bezweifle ich, dass es sich so verhalten hat. Zu unseren F��en war eine Orgie der Grausamkeit im Gange, eine Raserei aus blutiger Vergeltung f�r viele Menschenalter der Ungerechtigkeit, als die entfesselten Aktion�re von Love – meine Habenichtse, meine Armenviertel‐Bacchanten – endlich ihre Stra�en zur�ckeroberten.

Was die Bankiers und dergleichen angeht: Einige dieser Pechv�gel wurden zu Tode gepr�gelt, andere mit �xten, Piken und Schaufeln erschlagen. Wieder andere wurden im Fluss ertr�nkt, und ich selbst sah einen ersticken, als ihm Mitglieder meiner Herde S�ckchen um pralles S�ckchen voller Silberm�nzen in den Mund stopften.

Selbstredend erwarte ich Einwendungen Ihrerseits. Aber weshalb sollte man mit jenen Menschen Mitleid zeigen, wo diese doch keine Spur davon f�r ihre unz�hligen Opfer �brig gehabt hatten? Sie hatten die Stadt lange genug f�r ihre Interessen missbraucht; ihre Zeit war vorbei. F�r uns hingegen war eine neue �ra angebrochen, und im Einklang dazu schien London seine Topographie umzugestalten.

Die gro�en Tempel der Habgier und des Geizes wurden angesteckt; die Banken bis auf die Grundmauern niedergebrannt, ebenso wie die vornehmen Restaurants und Bars, die teuren Herrenfriseure und Nobelausstatter – alle wurden sie durchtr�nkt vom reinigenden Feuer. Die Goldreserven der Bank von England wurden hervorgeschleppt, und meine Leute schleuderten den Inhalt der Tresore achtlos in die schwarzen Wasser der Themse oder kippten ihn hinab in die feuchten Tiefen der Kan�le. Eine f�hrende Pers�nlichkeit der Stadt wurde mit einem glei�enden Barren zu Tode gepr�gelt. Die Luft war erf�llt vom Gestank brennender Geldscheine.

Die Stimme des alten Mannes war heiser und schwach, und er gab gurgelnde Ger�usche von sich, als w�rde er unter Wasser sprechen. Dennoch gelang es ihm, ein paar Zeilen aus einem Gedicht zu murmeln – nicht aus einem seiner eigenen, und doch nicht ohne Bezug zu den Vorg�ngen. �Der K�nig im Gew�lbe sa� und z�hlte die Dukaten, die K�nigin war im Salon und schmauste Brot und Braten.�

Ich dr�ckte seine Hand, er dr�ckte die meine (�Ned�, murmelte er dabei), und unter uns nahm der Schrecken seinen Lauf.


Moon k�mpfte sich durch die Menge, wehrte Angriffe der Aufst�ndischen ab und stieg, wo es sein musste, �ber die blutigen Leichen Gefallener hinweg. Kein einziges Mal hielt er an, um zu helfen, sondern eilte weiter, immerzu auf der Suche nach einer einzigen Person in dem Hexenkessel. �Charlotte!�, schrie er. �Charlotte!�

Und schlie�lich fand er sie. Sittsam und ernst stand sie daneben, als dem Inhaber einer gro�en B�rsenmaklerfirma die Arme ausgerissen wurden. Moon �berlie� den Mann seinem Schicksal und packte seine Schwester. �Charlotte! Was tust du blo�?�

Sie bedachte ihn mit ihrem feenhaftesten L�cheln. �Hallo, Edward!� Nach kurzem Innehalten fuhr sie fort: �Du h�ttest uns nicht bel�gen sollen, wei�t du?�

�Was ist nur mit dir geschehen?�

�Das verstehst du nicht.�

�Da hast du ganz recht, ich verstehe es wirklich nicht.�

Hinter ihnen gab der B�rsenmakler ein letztes schwaches R�cheln von sich, bevor er in einer tiefroten, immer gr��er werdenden Blutlache sein Leben aushauchte. Charlotte blickte ganz verz�ckt auf das Bild. �Dies ist der Beginn von etwas Wunderbarem. Einer neuen �ra. Einer zweiten Chance.�

Moon zeigte auf den Toten. �F�r ihn gibt es keine zweite Chance.�

�Aber f�r dich�, versicherte ihm Charlotte. �Du kannst noch errettet werden!�

Angeekelt stie� Moon sie zur Seite. �Wo ist der Schlafwandler?�

�Unten. Wir haben ihn dort festgebunden.�

�Du wei�t, dass ich ihn befreien werde�, sagte Moon ver�chtlich.

Sie hob die Schultern. �Das kannst du gern versuchen. Es ist nicht mehr von Bedeutung.�

�Wo ist Tan?�

Charlotte zeigte nach oben auf die Spitze des Monuments, wo der Pr�sident und ich standen, wohl gut zu erkennen als Silhouetten, die sich gegen den Himmel abhoben – die Herrscher �ber die Pantisokratie.

Moon lie� seine Schwester stehen und lief auf uns zu – erpicht, wie es schien, auf eine weitere Konfrontation.


Minuten sp�ter st�rzte er aus dem Treppenhaus ins Freie, keuchend und schnaufend und au�er Atem. Mit zornfunkelnden Augen starrte er mir entgegen.

�Edward!� Ich hob gr��end die Hand. �Sie kommen gerade rechtzeitig.� Der Pr�sident und ich blickten �ber die Br�stung. �Die Kavallerie scheint einzutreffen.�

Zu unseren F��en hatten die Geldraffer Unterst�tzung bekommen: Einige Dutzend Schutzm�nner str�mten ins B�rsenviertel, angef�hrt vom furchteinfl��enden Detektivinspektor Merryweather und begleitet von einer Handvoll falscher Chinesen aus dem Direktorium.

Nun, wenn ich sage �str�mten�, dann ist dieser Ausdruck nicht ganz passend. Meine M�nner – die Truppen von Love, Love, Love und Love –, also sie str�mten tats�chlich auf die Stra�en. Sie waren wie eine gro�e Flut, die sich nach langem Warten �ber die Stadt ergoss, wie die Wassermassen eines geborstenen Damms, die nach Jahren elenden und unnat�rlichen Eingeschlossenseins alles unter sich begruben. Die Polizeikr�fte hingegen, die M�nner des Direktoriums, �str�mten� nicht, sondern tr�pfelten eher ins Kampfgeschehen, sickerten �ber das Kopfsteinpflaster wie Fl�ssigkeit aus einem undichten Rohr.

Und wieder die anklagende Stimme von Moon, so selbstgerecht wie eh und je. �Diese M�nner haben doch keine Chance!�

�Meiner Sch�tzung nach sind sie eins zu zehn in der Minderheit�, sagte ich nachsichtig. �Sie haben recht. Sie werden alle hingemetzelt werden.�

Unter uns verschwand soeben ein blau uniformierter Schutzmann unter einer kreischenden Woge von Love. Seine Schreie drangen bis zu uns herauf, in eine H�he von zweihundertundzwei Fu�. Moons Reaktion auf den Zwischenfall war nat�rlich erm�dend pathetisch. �Sein Blut klebt an Ihren H�nden!�

�Ganz im Gegenteil. Sie waren es, der mich verraten hat!�

�Ich kann nicht dastehen und zusehen, wie Sie solche Greuel �ber die Stadt bringen�, rief er.

�Das ist ein nat�rlicher Vorgang� widersprach ich. �Steht nicht geschrieben, dass die Schafe von den B�cken getrennt werden m�ssen? Die M�hseligen und Beladenen, die Verschm�hten und Vergessenen – wir waren zu lange unterdr�ckt. Und dies ist unsere Rache.�

�Warum muss es auf diese Weise geschehen?�

�In Wirbeln wild der Todesbrand�, murmelte hinter uns der alte Mann, �tanzt durch das n�chtlich’ Gl�h’n. Und Wasser flammt wie Hexen�l in Blau und Wei� und Gr�n.�

�Erkennen Sie es?�, fragte ich Moon – ein wenig in der Art eines stolzen Vaters. �Es stammt aus seinem eigenen Werk.�

Aber Moon wollte sich mit mir anlegen. �Glauben Sie denn, dass ihm das da unten gef�llt? Glauben Sie, es schmeichelt ihm, was Sie getan haben?�

�Fragen Sie ihn doch�, sagte ich nur.

Moon zog den Pr�sidenten von der Br�stung weg, zerrte ihn grob vor mich hin und dr�ckte seine Nase auf meine. Ich zuckte vor dem �blen, metallischen Geruch aus dem Mund des Alten zur�ck.

�Dieses Ding ist nicht lebendig�, stellte Moon fest. �Es ist ein Leichnam, in Bewegung gesetzt von Ihrer perversen Physik!�

�Gegenw�rtig ist er noch kaum mehr als ein Kind! Er ist verwirrt!�

Moon zwang den alten Mann, hinabzublicken auf das Blutbad, und zischte ihm geh�ssig ins Ohr: �Verraten Sie mir, billigen Sie, was da unten vorgeht? Betrachten Sie dies als angemessene Huldigung?�

Der Tr�umer starrte best�rzt und mit glasigem Blick hinunter auf die Stra�e. �Da liegen M�nner, stolz und stark�, zitierte er, �im Tode j�mmerlich. Und schleimig’ Dinge, tausendfach, leben fort – wie ich.�

Moon lie� nicht locker. �Und all dies findet nur Ihnen zu Ehren statt.�

Zum ersten Mal schien der Alte uns tats�chlich wahrzunehmen und sich dar�ber klar zu werden, wo er sich befand. Es war, als w�re er endlich aufgewacht. �F�r mich?�, murmelte er. �F�r mich?�

Mit Tr�nen in den Augen warf ich mich ihm zu F��en. �Ja!�, schluchzte ich. �All dies f�r Sie! F�r die Pantisokratie!�

��berlegen Sie sorgf�ltig�, warf Moon ein. �Alles, was sich uns dort unten offenbart – diese ganze Qual, dieses Leid, das alles wird in Ihrem Namen zugef�gt!�

Der Pr�sident sch�ttelte den Kopf. �Nein, nein!�, murmelte er. �Nein, nein, nein! Doch nicht so!�

�Bitte, Sir!�, dr�ngte Moon. �Sie haben es in der Hand! Gebieten Sie der Raserei Einhalt!�

Der Alte schien vor unseren Augen an Statur zuzulegen, er wurde mit einem Mal gr��er und breiter, so als w�re er auf ein unsichtbares Streckbett gebunden.

�Herr Pr�sident!�, rief ich.

Er sah mich an wie einen Fremden. �Ich bin nicht Ihr Pr�sident!� Er war aufgehetzt von Moons Worten, und sein �rger schien ihn neu zu beleben. �Nein!�, schrie er (er schrie tats�chlich – keine Spur mehr von dem greisenhaften Gemurmel, das er bisher zustandegebracht hatte). �Das ist nicht meine Schuld!�

�Doch, das ist es�, fl�sterte Moon, wie Claudius, der Gift in die Ohren eines einflussreichen Mannes tr�ufelte. �Die Schuld daran wird Ihnen zugeschrieben werden!�

Und da geschah etwas wirklich Au�ergew�hnliches. (Im Hinblick darauf, dass dieser Tag bislang keineswegs routinem��ig verlaufen war, werden Sie verstehen, dass ich dieses Wort nicht leichtfertig verwende.)

Der Pr�sident br�llte wutentbrannt auf, und mit wachsendem Zorn begann mit seinem K�rper eine Ver�nderung vor sich zu gehen, eine neuerliche Verwandlung: Gr�nliche Streifen erschienen auf Gesicht und H�nden, so als w�ren pl�tzlich alle seine Adern sichtbar geworden und als w�rde nicht das gesunde Tiefrot des Lebens darin pulsieren, sondern etwas Scheu�liches, Krankes, Sterbendes. Ein phosphoreszierendes Leuchten ging von seiner Gestalt aus.

Edward Moon starrte mich entsetzt an. �Was haben Sie ihm angetan?�

Ich gebe zu, ich war selbst �berrascht von dieser Entwicklung. Die fruchtwasserartige Fl�ssigkeit, die den alten Mann am Leben erhalten hatte, musste einige Eigenschaften aufweisen, die ich nicht vorhergesehen hatte. Heute bin ich nicht mehr in der Lage, mir ihre genaue Zusammensetzung ins Ged�chtnis zu rufen – und vielleicht ist das auch besser so, denn ich w�rde mir nicht w�nschen, dass irgendjemand dieses scheu�liche Experiment wiederholen k�nnte.

Damals, als ich den alten Mann aus dem Grab holte, war seine linke Hand stark besch�digt gewesen, und ich glaubte, keine andere Wahl zu haben, als sie zu amputieren und an ihrer Stelle eine Hand anzun�hen, die einst einem seiner engsten Freunde und Kollegen geh�rt hatte – Robert Southey.

Doch nunmehr merkte ich, dass meine N�hte sich l�sten, und dass die Hand begonnen hatte, wie ein Kinderf�ustling vom Handgelenk des Alten zu baumeln. Einer nach dem anderen sprangen die F�den auf, und ich sah an der Stelle, wo sich eigentlich Blut und Knorpel befinden sollten, nichts als eine schleimige Substanz austreten.

Etwa zu diesem Zeitpunkt fing ich an zu begreifen, dass die Dinge nicht mehr nach Plan abliefen.

Da das Toben des alten Mannes gleicherma�en von Schmerz wie von Zorn gen�hrt schien, wuchs meine Sorge, dass sich an seiner Person noch weitere F�den gel�st hatten. Offenbar hatte er genug vom Anblick des Massakers dort unten; er trat von der Br�stung weg und torkelte mit wild kreisenden Armen auf Moon zu. Der Detektiv war so t�richt, sich ihm in den Weg stellen zu wollen, was etwa so wirkungsvoll war wie der Versuch, eine fahrende Lokomotive mit der Hand aufzuhalten.

�Warten Sie!�, sagte er. �Bitte!�

Mit einem einzigen Hieb seiner gesunden rechten Hand stie� der Pr�sident Moon zur Seite und legte damit weitaus mehr Kraft an den Tag, als ich f�r m�glich gehalten h�tte. Doch wie ein angeschlagener Boxer, der entschlossen ist, bis zum Ende durchzuhalten, rappelte Moon sich hoch, nur um neuerlich zu Boden geschickt zu werden, wobei ein gr�nliches Leuchten �ber die Hand des Alten huschte. Diesmal st�rzte der Detektiv zu Boden und blieb reglos liegen.

Die Fl�ssigkeit hatte dem Tr�umer offensichtlich mehr beschert als nur die Erhaltung des nackten Lebens, und da betrachtete ich es als wahres Gl�ck, dass es ein vergleichsweise sanftm�tiger Poet war, den ich erfolgreich wiedererweckt hatte. Mit Schaudern denke ich immer noch daran, welche Folgen eine solche unheimliche Macht gehabt h�tte, w�re meine Wahl auf, sagen wir, Lord Byron oder den verr�ckten Blake oder den Schwindler Chatterton gefallen.

Moon lag auf dem Boden, ohnm�chtig oder tot, und der alte Mann wankte davon. Er verschwand im Inneren des Monuments auf dem Weg nach unten, erf�llt von furchteinfl��ender Kraft und Entschlossenheit. Ich sah keine andere M�glichkeit, als ihm zu folgen. Moon, den ich nun f�r erledigt hielt, lie� ich zur�ck – zusammen mit all meinen geplatzten Tr�umen.

Geisterhaftes Licht strahlte vom Pr�sidenten ab, als er da unter mir das spiralenf�rmige Herz des Monuments hinabstieg, und er warf seltsame gr�ne Schatten auf die W�nde.

Zumindest glaube ich, dass ich das sah; ich f�rchte, mein Geisteszustand war zu diesem Zeitpunkt alles andere als einwandfrei.


Und was dann geschah, war eine Aneinanderreihung schrecklicher Zuf�lle.


Sie brauchen sich um Moon keine Sorgen zu machen (falls Sie es denn taten). Er war nur bewusstlos. Doch da er mich an diesem einen Tage erst verraten und sodann den Pr�sidenten in den Wahnsinn getrieben hatte, war eine Kopfnuss wohl das Geringste, was er verdient hatte. Ich pers�nlich h�tte ihn gar nicht ungern mit aufgeschlitztem Bauch gesehen.

Doch f�r den Moment lassen wir ihn dort oben liegen, der Welt entr�ckt. Er hat bereits genug angestellt.


Etwa zu dem Zeitpunkt, als der Pr�sident die ersten Anzeichen von Zersetzung erkennen lie�, betritt Mister Maurice Trotman von Neuem unsere B�hne. Er war seit mehr als einer Stunde durch die Stra�en gehetzt, den Schirm �ngstlich umklammert; sein Herz raste und zog sich krampfhaft zusammen, und sein Vorrat an Mut war aufgebraucht – ausgestr�mt w�hrend der langen Flucht wie Luft aus einem undichten Ballon.

Bei dem Versuch, den Pr�fekten zu entkommen, hatte er sich direkt Richtung Stadtzentrum bewegt – auf das Gesch�ftsviertel zu, wo er Sicherheit zu finden hoffte. Doch zu seinem Pech war er just an jenem Tag unterwegs, an dem wir von Love schlie�lich unsere Karten aufdeckten. Unser Pech hingegen war es, dass er die Pr�fekten im Schlepptau hatte.

Trotman wurde erst aufgehalten, nachdem er die halbe Cannon Street entlanggelaufen war; als er sich durch die Masse aufgeregter Kaufleute und halb �bergeschnappter Bankiers k�mpfte, fragte er sich, ob er nicht versehentlich in einen Albtraum gestolpert war. Edward Moon und Sie w�rden ihm wohl recht geben. Rund um ihn l�rmten, k�mpften und pr�gelten sich Menschen, und – guter Gott! – war das ein Toter mitten auf der Stra�e? Wie Cyril Honeyman vor seinem Ende spielte Trotman mit dem Gedanken, dass die Geschehnisse dieses Morgens unter Umst�nden nichts Schlimmeres waren als ein ganz besonders lebhafter Traum. Er fragte sich auch, ob die hysterischen Warnungen des Direktoriums nicht vielleicht doch ein K�rnchen Berechtigung beinhaltet haben mochten; ja zum ersten Mal in einem Leben, dessen Dahinpl�tschern bis dahin von keinerlei Farbe oder Reiz behindert worden war, zog er sogar die M�glichkeit in Betracht, dass dies die ersten Anzeichen eines einsetzenden Wahnsinns sein k�nnten.

Winselnd und mit auseinanderklaffendem Schlafrock hockte er sich auf den B�rgersteig und rollte sich zusammen wie ein F�tus im Mutterleib. Er hegte die Hoffnung, dass er vom P�bel �bersehen und in Ruhe gelassen werden mochte, wenn er nur lange genug unbeweglich so verharrte. Dieses Gl�ck hatte er selbstverst�ndlich nicht.

Jemand klopfte ihm auf die Schulter. Er weigerte sich aufzublicken, hoffte, dem Unvermeidlichen zu entgehen, und so schloss er die Augen und presste die Arme fester um sich.

�Kommen Sie schon, Sir! Spielen Sie mit! Los, machen Sie mit bei diesem Spa�!�

Trotman �ffnete die Augen. Hawker und Boon standen �ber ihn gebeugt; trotz der langen Verfolgung zeigten sie nicht den leisesten Anflug von Erm�dung.

�Holla, Maurice!�, sagte Boon.

�Sch�nen Dank f�r das Rennen, altes Haus. War ganz erfrischend.�

Boon packte den Schirm, und Maurice Trotman begann zu schluchzen.

�Ach, herrje, seien Sie ein Mann!�, ermunterte ihn der kleinere der beiden. �Sehen Sie der Sache ins Auge wie ein tapferer Junge!� Mit diesen Worten hob er den Schirm hoch �ber seinen Kopf – das Damoklesschwert des britischen Pendlers.

�Warum nur?�, wimmerte Trotman. �Sagen Sie mir nur, warum!�

�Es ist ein Gefallen f�r jemanden.�

�F�r einen alten Kumpel.�

�Pfundskerl.�

�Vielleicht kennen Sie ihn sogar!�

�Ein lustiger kleiner Racker.�

�Sieht ganz blass und komisch aus.�

�Skimpole?�, presste Trotman hervor, als ihm, Sekunden vor seinem Untergang, ein Licht aufging.

�Ganz recht!�, nickte Hawker.

W�re er l�nger am Leben geblieben, h�tte Maurice Trotman gewiss aufbegehrt gegen die Ungerechtigkeit, nur deswegen gejagt und umgebracht zu werden, weil er seiner Beamtenpflicht nachgekommen war. So jedoch blieb ihm keine Zeit mehr zum Nachdenken. Boon stie� den Schirm mit aller Kraft in Trotmans Brust, die Spitze bohrte sich in seinen K�rper – und mit einem leisen �Plop� in sein Herz. Wenigstens war es rasch vorbei.

Gackernd vor Entz�cken trieb Boon den Schirm so weit in den Leib seines Opfers, dass die Spitze am R�cken wieder zum Vorschein kam, ehe er das Ding zwang, sich zu �ffnen. Und so bot Trotman einen sonderbaren, w�rdelosen Anblick: Er war fast nackt, und dazu steckte ein halb entfalteter Schirm in seiner Brust wie ein exotisches Cocktailspie�chen in einer Olive. Die Pr�fekten traten einen Schritt zur�ck und bewunderten ihre Arbeit.

Hawker klatschte h�flich in die H�nde. �Bravo!�

Boon suchte in den Taschen seiner Jacke und zog zwei Lutschbonbons heraus. Er gab dem Freund eines, und dann standen sie eine Weile nur da, saugten besinnlich und lie�en die Blicke mit dem lauwarmen Interesse von M�nnern, die auf einen versp�teten Bus warteten, �ber das Gemetzel gleiten, das rund um sie im Gange war.

Mit einem schmatzenden Ger�usch zog Hawker den Bonbon aus dem Mund. �Sieht nach einer ordentlichen Balgerei aus.�

Boon zerbiss den seinen und schluckte. �Wollen wir ein bisschen Radau machen? Bisschen Unfug treiben?�

Ein dicker Mann keuchte an ihnen vorbei, eine Axt in der Hand, einen Spr�hregen aus den Arterien von zwei Dutzend bekannten Bankiers auf dem Anzug. Sie werden sich seiner als Donald McDonald entsinnen, meinen �ltesten und treuesten Stellvertreter.

�Donnerwetter�, sagte Boon anerkennend. �Entschuldigen Sie mal, Sir!�

McDonald bremste ab.

�K�nnen Sie uns verraten, was, zum Kuckuck, hier vorgeht?�

�Wir holen uns die Stadt zur�ck!�, schnaubte mein Freund. �Rei�en sie den Geldhaien aus den H�nden! Die �ra der Pantisokratie ist angebrochen!�

Boon g�hnte. �Ach, Politik.�

�Pantisokratie?�, fragte Hawker, m��ig interessiert. �Und was soll das sein?�

�Freiheit, Brot und Dichtkunst f�r alle!�, antwortete MacDonald. �Tod dem Kommerz! Ein neues Eden im Herzen Londons!�

Hawker verzog einen Mundwinkel. �Das funktioniert nie.�

McDonald schickte sich an, �ber eine Entkr�ftung dieses Standpunkts nachzudenken, doch es war zu sp�t. Er langweilte die beiden schon.

�Du bist dran�, sagte Boon.

Der gro�e, st�mmige Mann sah McDonald an, packte ihn rasch an der Kehle, und mit einem fl�chtigen Ruck – und einer Kraftaufwendung, wie sie unsereins beim �ffnen einer Flasche an den Tag legen w�rde – brach er dem Ungl�ckseligen das Genick.

�Noch einen?�, fragte Hawker.

�Warum nicht? So k�nnten wir ein, zwei Stunden totschlagen.�

Sie setzten sich in Bewegung, Richtung Monument, mitten ins Herz des Get�mmels, und mordeten wahllos links und rechts – Polizisten, Bankiers, Leute von Love, M�nner vom Direktorium: zwei zuf�llig hinzugekommene Au�enseiter, die fr�hlich das Spiel sprengten und bei jedem Schritt Angst und Unheil verbreiteten.

Wie ich bereits sagte: eine Aneinanderreihung schrecklicher Zuf�lle.


Bitte glauben Sie nicht, dass ich den Schlafwandler vergessen h�tte. Sie erinnern sich: Wir lie�en ihn unter der Erde zur�ck, tief in den Gew�lben von Love, von vierundzwanzig Schwertern an den Boden genagelt. Nat�rlich wird Ihnen nicht entgangen sein, dass ihn derartiges keineswegs f�r l�ngere Zeit aufhalten konnte. Zu dem Zeitpunkt, als der Pr�sident mich verlie�, hatte sich der H�ne bereits von einem halben Dutzend der Dinger befreit, indem er sie sich eines nach dem anderen aus dem Leib zog – wie ein Stachelschwein, das sich der eigenen Stacheln entledigt. Er arbeitete hingebungsvoll an seiner Aufgabe, denn er wusste, dass die Stadt in Gefahr war und dass er die Pflicht hatte, sie zu besch�tzen.


Ich hingegen jagte w�hrenddessen hinter dem Pr�sidenten her. Aufgebl�ht, erz�rnt und machtvoll schritt der Alte mitten durch die Schlacht, wobei er die K�mpfenden ohne R�cksicht auf ihre Zugeh�rigkeit zur Seite stie�. Doch er erwies sich als leicht zu verfolgen, denn er lie� auf seinem Pfad eine F�hrte aus K�rperteilen (Finger, ein Ohr, Fleischklumpen und Hautfetzen) zur�ck, sowie eine ekelhafte gr�nliche Spur wie von einer aufrecht gehenden Riesenschnecke.

Jene Mitglieder von Love, die ihm begegneten, erschraken, als sie anstelle eines geistigen F�hrers ein br�llendes Monster erblickten, und je l�nger sein W�ten andauerte, desto deutlicher sp�rte ich, wie sich die Ablehnung unter meinen J�ngern ausbreitete, wie sie sich abwandten und das feste Geb�ude ihres gemeinsamen Glaubens vor meinen Augen zerbr�ckelte.

Doch jetzt war mein oberster und wichtigster Gedanke, ihn rasch in seinen Tank in der Unterwelt zur�ckzubringen, denn ich hoffte, dass er dort doch noch gerettet werden k�nnte, wiederbelebt, wiederhergestellt. Der Tag war zwar nicht so verlaufen wie geplant, aber f�r die Zukunft gab es immer noch einen Silberstreifen am Horizont. Und so folgte ich ihm mit dem Vorsatz, ihn zur�ck in den Untergrund zu treiben.

�Sir, ich bin Ned!�, schrie ich ihm nach. �Sir, ich bin hier!�

Er hielt inne und lie� ein gewaltiges Aufst�hnen vernehmen. �Ned?�

�Ganz recht!�

�Bist du es wirklich?�

�Kommen Sie mit mir, Sir, ich kann Sie in Sicherheit bringen.�

Zu meiner gro�en Erleichterung entschloss er sich, meinen Worten Folge zu leisten.


Etwa zehn Minuten nach unserem Abgang erlangte Moon das Bewusstsein wieder. Er bem�hte sich, den Schmerz zu ignorieren, verlie� das Monument und rannte, so schnell er konnte, zur�ck auf die Stra�e.

Nur mehr vereinzelt wurde gek�mpft, denn die Bankleute waren entweder tot oder in ein anderes Stadtviertel geflohen; mittlerweile standen einander nur noch zwei Parteien gegen�ber: Die Truppen von Love, der Polizei und des Direktoriums k�mpften vereint gegen die Pr�fekten.

Hawker und Boon waren wie ein Wirbelwind aus Taschenmessern, Tintenfingern und t�dlichen Hieben �ber das Geschehen gefegt und hatten schon mehrere hundert Mann hingemetzelt, die alle umgefallen waren wie Kegel. Als den versammelten Truppen endlich klar wurde, dass die Pr�fekten vorhatten, wahllos alles umzubringen, was sie in die H�nde bekamen, wurden einige seltsame B�ndnisse geschmiedet. So sah man etwa Mister Speight an der Seite eines falschen Chinesen dreinschlagen, und Dedlock warf sich neben Mina, der b�rtigen Hure, in die Schlacht.

Detektivinspektor Merryweather hatte sich aus dem Kampfgeschehen zur�ckgezogen und versuchte, seine M�nner f�r ein gemeinsames Vorgehen zu ordnen, als er Moon am Fu�e des Monuments auftauchen sah. �Edward!�, schrie er �ber das Get�se hinweg. �Hier her�ber!�

Moon rannte zu ihm. �Was geht hier vor?�, keuchte er. �Und diese beiden Witzfiguren – was hat es mit denen auf sich?�

�Keiner wei� es genau. Es gibt nur … Ger�chte.�

Eine Stimme rief: �Ich wei� es!�

Sie drehten sich um und sahen eine geb�ckte, kraftlose Gestalt auf sich zukommen, deren Haut sich trocken �ber die Gesichtsknochen spannte, deren Augen schmerzerf�llt in den H�hlen lagen und deren Haut von einer Vielzahl schlimmer Wunden und roter Flecken �bers�t war. Mister Skimpole trennte nicht mehr viel vom Tod: Der letzte Rest von Leben in seinem K�rper war sichtbar im Begriff zu versickern.

�Es sind die Pr�fekten�, kr�chzte er. �Und es ist alles meine Schuld.� Ohne die beiden M�nner weiter zu beachten, stolperte der Albino mitten ins Zentrum des Gew�hls, ins Auge des Sturms, zu Hawker und zu Boon.

�Wo ist meine Schwester?�, stie� Moon hervor. �Wo ist der Schlafwandler?�

�Sie steckt mitten drin�, sagte Merryweather gedankenverloren. �Aber den Riesen habe ich nicht gesehen. Sie sollten sich keine Sorgen um ihn machen, er ist doch praktisch unzerst�rbar, oder?�

�Haben Sie den Pr�sidenten gesehen?�

�Wen?�

�Ach, nichts.� Moon setzte sich in Richtung der letzten K�mpfe in Bewegung, dort, wohin auch die gr�nliche Spur des Dichters f�hrte.


Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich nur ein paar Minuten vor ihm und versuchte gerade, den alten Mann zur�ck in den Untergrund zu f�hren. Es war eine schwere und unangenehme Aufgabe, denn unentwegt fielen ohne Vorwarnung Teile seines K�rpers zu Boden.

Wir erreichten den Eingang zur Station King William Street, und ich schob ihn hinein, vorbei an den Fahrkartenschaltern, �ber den Bahnsteig und �ber den Schienenstrang zum Hauptquartier von Love. Ich gab mir M�he, nicht daran zu denken, wie sehr alles schiefgegangen war, wie alle meine Pl�ne und Tr�ume sich in Luft aufgel�st hatten, sondern tat einfach mein M�glichstes, den Pr�sidenten zu retten, mir den Eckpfeiler meiner Vision zu erhalten.

Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich es nicht, aber w�hrend ich mich mit dem Alten herumplagte, war der Schlafwandler mit einem Ausdruck �u�erster Konzentration auf dem Gesicht dabei, sich die letzten Schwerter aus dem K�rper zu ziehen.


Wie die meisten Schuljungen langweilten sich die Pr�fekten leicht. Gerade eine halbe Stunde kostete es die beiden, die vereinten Kr�fte von Direktorium, st�dtischer Polizei und Love, Love, Love und Love zu vernichten. Rund um sie waren die Stra�en mit Leichen gepflastert, und in den Rinnsteinen sammelte sich das Blut der Gefallenen. Hawker und Boon waren soeben damit besch�ftigt, mit dem Hufreiniger des Taschenmessers das Auge eines Mannes freizulegen, als sie Mister Skimpole erblickten, der auf sie zutappte.

�Skimpers!�, rief Boon. �Was zum Kuckuck machen Sie denn hier? Hawker, sieh mal! Es ist Mister Skimpole!�

Mit gr��ter Sorgfalt stieg der Albino �ber ein Dutzend Toter hinweg und trat vor die beiden hin. �Was habt ihr getan?�, zischte er.

�Alles, was Sie uns aufgetragen haben. Stimmt’s, Boon?�

Der andere nickte eifrig. �Der Mongoz ist erledigt, Maurice Trotman ist abgekratzt, und mit diesem Haufen hier haben wir als Draufgabe kurzen Prozess gemacht. Haben praktisch Ihre Hausaufgaben f�r Sie gemacht, w�rde ich sagen.�

�Bitte gehen Sie jetzt�, keuchte Skimpole. �Es reicht.�

�Also, wie finde ich denn das?�

�Verflixt undankbar, so w�rde ich es nennen!�

�Was …� Skimpole unterbrach sich mit schmerzverzerrtem Gesicht, um nach einer Weile fortzufahren: �Was schulde ich Ihnen?�

�Uns schulden, Sir? M�chtig anst�ndig von Ihnen, in solch einem Augenblick an Bezahlung zu denken.�

�Sie schulden uns keinen Pfennig, Sir.�

�Jetzt nicht mehr.�

�Wie?�, keuchte Skimpole.

�In Wirklichkeit haben wir uns schon genommen, was Sie uns schulden.�

�Keine Sorge, Sir, es entspricht durchaus Ihren Verh�ltnissen!�

�Sie haben ein gutes Gesch�ft gemacht, k�nnte man sagen.�

Boon zerzauste Skimpole freundschaftlich das Haar. �Aber jetzt w�rde ich an Ihrer Stelle nach Hause gehen, Sir. Er sieht gar nicht gut aus, stimmt’s, Hawker?�

�Richtig elend.�

�Und wenn Sie sterben wollen, Sir, dann tun Sie das besser daheim. Wenn Sie hier umkippen, sieht es so aus, als wollten Sie’s den anderen nachmachen. Nein, nein, der richtige Ort daf�r ist unten in Wimbledon. Todesf�lle sind selten dort. Nicht allt�glich. Dort k�nnten Sie damit noch ein wenig Aufmerksamkeit erwecken.�

Eine Stimme ert�nte: �Halt!�

Vergn�gt reckten die Pr�fekten die H�lse, um besser zu sehen. �Nanu, nanu, wer ist denn das?�

�Ist das nicht der fette Knilch aus dem Klub?�

�K�nnte sein.�

Dedlock trat vor, einen Revolver in der Hand. �Lassen Sie ihn gehen!�

�Du verstehst nicht�, murmelte der Albino.

Hawker r�ckte langsam auf Dedlock zu.

�Keine Bewegung! Ich wei�, was Sie getan haben!�

Boon grinste. �Glaub’ ich nicht!�

�Es ist in Ordnung�, fl�sterte Skimpole. �Sie arbeiten f�r mich.�

�F�r dich?�

Mit einem unterdr�ckten G�hnen schlenderte Hawker zu dem Mann mit der Narbe im Gesicht und schlug ihm die Waffe aus der Hand. �Mein Name ist Hawker. Ich glaube, wir wurden uns noch nicht so vorgestellt, wie es sich geh�rt.� Und er fasste nach Dedlocks Hand und sch�ttelte sie kr�ftig.

Augenblicklich versp�rte Dedlock ein grauenhaftes Brennen, das an den Fingerspitzen seinen Ausgang nahm und durch den ganzen K�rper raste – eine intensive, pulsierende, gl�hende Hitze. Er verlor sofort das Bewusstsein.

Hawker hob die Schultern und lie� ihn zu Boden fallen. �Ein kleines Geschenk�, erkl�rte er. �Wird nicht extra berechnet.�

�Wo ist denn der komische gr�ne Kerl geblieben?�, fragte Boon.

�Hat sich runter in die U‑Bahn‐Sch�chte verkr�melt�, antwortete Hawker.

�Wollen wir uns die Sache mal angucken?�

�Warum nicht.�

�Aber ich bin zu m�de, um zu laufen.�

�Hast recht.�

Sie sahen Skimpole an.

�Ba‐ba, Sir.�

�Tingelingling!�

Die Pr�fekten fassten einander an den H�nden und sahen eine Sekunde lang seltsam unschuldig aus – wie echte Kinder. Boon legte die Stirn in Falten, offenbar in h�chster Konzentration.


Ich nehme an, dass Sie Ihre Skepsis an diesem Punkt nicht mehr l�nger vor sich herschieben, sondern sie bereits an den h�chsten Nagel der Blau�ugigkeit geh�ngt haben. Dennoch bedauere ich, dass der n�chste Vorfall eine neuerliche Ausweitung dieser Belastbarkeit erfordert.


Die beiden M�nner mit den kurzen Hosen flimmerten wie eine Spiegelung auf gekr�useltem Wasser. Dieser Effekt dauerte nicht l�nger als wenige Sekunden, bevor die beiden verschwanden. O ja, verschwanden. Einfacher kann ich es nicht ausdr�cken. In einer Sekunde waren sie da, in der n�chsten hatten sie sich in Luft aufgel�st. Die einzigen Hinweise darauf, dass sie je an dieser Stelle gestanden hatten – das einzige �berbleibsel der beiden – waren ein stechender Geruch nach Feuerwerk und der fade Nachgeschmack von Brausepulver.

Sie lie�en vielleicht drei Dutzend Leute am Leben; die Toten waren bei Weitem in der �berzahl.


Dies nun war der letzte schreckliche Zufall des Tages – als sich alle F�den verkn�pften, um das totale Scheitern meiner Pl�ne sicherzustellen. Nur gut, dass ich ein starker und gutm�tiger Mensch bin und nicht zur Verbitterung neige; jemand mit gr��erem Hang zum Selbstmitleid als ich h�tte sich wohl nicht unberechtigterweise als zweiten Hiob betrachtet.

Ich trieb den Pr�sidenten voran, durch den Tunnel zur�ck zu seiner Kugel. Seine Zersetzung schritt rasch fort, jetzt fehlte ihm bereits das halbe Gesicht, und sein ganzer K�rper sonderte Rinnsale dieser gr�sslichen gr�nen Fl�ssigkeit ab. Ich gab mir alle M�he, damit nicht in Ber�hrung zu kommen, konnte aber dennoch nicht vermeiden, dass Spuren davon auf mich gelangten. Auf meiner Haut zischte und knisterte es, und es roch nach verbrannter Wurst.

Schlie�lich erreichten wir Love, und ich versuchte, den alten Mann ins Innere unserer R�umlichkeiten zu dr�ngen. Doch pl�tzlich vernahm ich einen entfernten Ruf: �Tan!� Es war nat�rlich Moon, der auf Rache oder sonst etwas sann. Ich schaffte den Pr�sidenten durch die gr�ne T�r und in die gro�e Halle.

Was danach kam, war wirr und schwer zu verfolgen. Selbst heute noch habe ich gr��te M�he, die Geschehnisse ihrem tats�chlichen Ablauf gem�� in eine korrekte Ordnung zu bringen.

Der Pr�sident erkannte die gro�e Halle auf den ersten Blick, und ich muss sagen, dass sein Verhalten daraufhin keineswegs von Dankbarkeit f�r die tr�stliche Heimkehr zeugte. Vermutlich brachte er sie mit seiner langen Gefangenschaft in Verbindung, mit dem Tank und der Fl�ssigkeit darin. Folglich war er pl�tzlich fieberhaft bestrebt, umzukehren und wieder nach oben zu gelangen.

Er kr�chzte etwas, von dem ich meine, es sollte �nein!� hei�en, aber sein ganzes Inneres war so zerfressen von dem klebrigen gr�nen Schleim, der ihm immer noch aus jeder Pore drang, dass die Worte, die sich aus seiner zerst�rten Kehle qu�lten, eher wie Tierlaute klangen denn wie menschliche Sprache.

Heldenm�tig versuchte ich, ihm gut zuzureden. �Herr Pr�sident, ich bitte Sie! Ich kann Sie wieder instandsetzen! Glauben Sie mir, es ist zu Ihrem Besten!�

�Nach oben!�, �chzte er, jetzt besser zu verstehen. �NACH OBEN!�

�Bleiben Sie, ich flehe Sie an!�

Bei diesen Worten schien er sich etwas zu beruhigen, und ich trat an ihn heran, um ihn an der Hand zu nehmen und in seinen Tank zur�ckzuschaffen. Und das war vermutlich der gr��te Fehler, den ich machen konnte, denn mit einem Hieb dessen, was von seiner rechten Hand �brig war (genaugenommen eher ein Stumpf), traf er mich mitten ins Gesicht und schlug mich zu Boden. Die Hinterlassenschaft dieses Hiebs trage ich heute noch mit mir herum: einen dunkelroten Fleck auf meiner linken Wange, in Umrissen und Gr��e einem Apfel �hnelnd, der zumeist f�r ein Feuermal gehalten wird.

So lag ich also da, weder f�hig noch willens, mich zu r�hren, w�hrend der Pr�sident – triefend von giftiger gr�ner Fl�ssigkeit – Richtung T�r und Au�enwelt zur�ckwankte. Wie viel blinde, sinnlose Zerst�rung w�rde er anrichten, bis man ihm Einhalt gebot? In Anbetracht der Tatsache, dass selbst eine leichte Ber�hrung mit ihm unter Umst�nden t�dlich sein konnte, w�rde, so vermutete ich, die Opferbilanz hoch sein.

Womit ich nicht gerechnet hatte, war ein weiterer Mann, ebenso t�dlich wie der Alte.

Sp�ter kam ich zu dem Schluss, dass ich wohl genau in jenem Moment die Haupthalle erreicht haben musste, als sich der Schlafwandler das letzte Schwert aus dem Bauch zog. Und als ich zu Boden geschlagen wurde, war er aufgestanden, hatte sich den Staub von den Kleidern gesch�ttelt und zu uns her�bergeblickt.

Der Pr�sident starrte den Schlafwandler an. Er zeigte auf ihn und schrie etwas, das in diesem Moment wie �Mein Gott!�, klang, obwohl ich mittlerweile darauf aufmerksam gemacht wurde, dass es etwas ganz anderes h�tte bedeuten k�nnen als ich glaubte.

Gr�ne S�ure verspritzend torkelte der Pr�sident auf den Riesen zu und warf sich auf ihn. Geschw�cht von seinem Martyrium war der Schlafwandler im ersten Augenblick �berrascht, doch dann schlug er zur�ck – und zwar mit aller H�rte.

Da h�rte ich hinter mir das Ger�usch von stolpernden Schritten; Edward Moon tauchte neben mir auf, zweifellos mit der Absicht, mich zum Duell zu fordern oder der Gerechtigkeit auszuliefern. Zum Gl�ck wurden wir beide von einem furchterregenden Anblick abgelenkt.

Erstaunlicherweise schien die gr�ne Fl�ssigkeit dem Schlafwandler ebenso schlimm zuzusetzen wie mir, und er verzog den Mund vor Schmerz. Moon und ich konnten nichts anderes tun als zuzusehen. Es war, als w�rden zwei L�wen um die Herrschaft �ber das Rudel k�mpfen – nein, viel mehr als das, viel gewaltiger: zwei urzeitliche Reptilien – Megalosaurier, die auf einem pr�historischen Kampfplatz aufeinanderprallten –, zwei eifers�chtige G�tter, die um das Schicksal von Welten rangen.

Doch dann wurden wir abgelenkt – selbst von dieser haarstr�ubenden Szene: durch eine anfangs nur schwache Unruhe in der Luft, Irrlichter und darauf einen wirbelnden, schimmernden Ausbruch von Farbe. Und dann traten – kaum mehr als einen Schritt von jener Stelle entfernt, an der Moon und ich erstarrt waren – die Pr�fekten in Erscheinung. In den H�nden trugen sie vier albern wirkende Dynamitstangen von der Sorte, wie man sie in Witzzeichnungen sieht – dicke rote Walzen, deren riesige Lunten Funken verspr�hten.

Oh, ich wei�, Sie werden sagen, dass solche Dinger unm�glich funktionieren k�nnten, denn so sehen Sprengstoffe nun wirklich nicht aus! Dies sind blo� vereinfachte Darstellungen zum Zwecke kindlicher Belustigung.

Selbstverst�ndlich haben Sie ein Recht auf Ihre eigene Meinung, aber ich war dort und kann f�r ihre Wirksamkeit b�rgen, als Hawker oder Boon – einer von beiden, ich verwechsle sie andauernd – das Dynamit mitten in den gro�en Raum schleuderte.

W�hrend die roten Stangen auf dem Boden lagen und spuckten und spritzten, rannten die Pr�fekten unter laut gackerndem Gel�chter aus der Halle.

Moon stolperte vorw�rts, offenbar in der Hoffnung, seinem Freund helfen zu k�nnen, doch dazu war es schon zu sp�t. Die erste Dynamitstange ging in der gegen�berliegenden Ecke hoch und brachte mit ohrenbet�ubendem Krachen die halbe Decke zum Einsturz. Ich konnte die ganze Struktur des Baus knirschen und �chzen h�ren, als sie langsam daranging, in sich zusammenzufallen. Dicke Staubwolken nahmen uns fast die Sicht, doch soweit ich es erkennen konnte, ignorierten der Riese und der Tr�umer das Geschehen rund um sich und fuhren unbeirrt fort zu k�mpfen.

Ich sch�me mich nicht zu gestehen, dass ich mich zusammenriss und rannte – durch die Tunnel und hinaus auf die Stra�e. Ich habe viele Fehler, aber wenigstens wei� ich, wann es Zeit ist aufzugeben.

Mein letzter Blick zur�ck galt dem Schlafwandler und dem Pr�sidenten – zwei ineinandergekrallten Monstrosit�ten, �ber denen eine smaragdgr�ne Wolke hing, w�hrend Moon hilflos danebenstand und zusah, weil er nicht wusste, was er sonst tun k�nnte.

Letztlich rannte er ebenso davon wie ich, doch ich glaube, er blieb lange genug, um die zweite Explosion zu sehen. Sp�ter sollte er behaupten, dass sich, noch bevor die gro�e Halle vollends in sich zusammenst�rzte, die gr�ne S�ure aus dem K�rper des Pr�sidenten ins Gestein des Untergrunds gefressen hatte, und dass die Kontrahenten daraufhin immer tiefer ins Erdreich sanken wie in allesverschlingenden Treibsand. Er rief nach dem Schlafwandler, doch der Riese k�mpfte schweigend weiter, und Moon hatte keine andere Wahl als die Flucht zu ergreifen. Ich frage mich manchmal, was er wohl gerufen haben mochte, bevor alles einst�rzte – welche letzten Worte aus seinem Munde an den H�nen gerichtet waren, und ob dieser geantwortet und schlie�lich doch noch gesprochen hatte.

Ich wei� nur, dass Moon der letzten Explosion knapp entkam. Hinter sich lie� er das Hauptquartier von Love, alles, wof�r ich gearbeitet hatte, f�r immer unter Schutt begraben. Ich bin froh, dass ich nicht dabei sein musste, um das mitanzusehen.


Zum zweiten Mal an diesem Tage st�rzte ich keuchend hinaus auf die Stra�e. Das Gemetzel war vorbei; Polizei, Sanit�ter und andere berufsm��ige Wichtigtuer stritten dar�ber, was mit all den Leichen und der �brigen Schweinerei geschehen sollte. Selbst die Presse tat sich bereits um.

Als ich den ganzen Wirrwarr sah, glomm ein F�nkchen Hoffnung in mir auf, mich doch noch in Sicherheit bringen zu k�nnen, denn vielleicht konnte ich das Durcheinander nutzen, um mich davonzustehlen. Aber dieses Gl�ck war mir nicht verg�nnt. Ich sp�rte, wie sich der Lauf eines Revolvers an meinen Hinterkopf presste.

�Der Schlafwandler ist tot.�

�Edward?�, fragte ich kraftlos.

Er packte mich und wirbelte mich herum; die Waffe richtete sich nun auf meine Stirn. �Der Schlafwandler ist tot�, wiederholte er mit ausdrucksloser, tonloser Stimme.

Ich fragte mich, wie um alles in der Welt ich mich entschuldigen k�nnte, ohne unaufrichtig zu klingen.

�Tut mir leid�, sagte ich schlie�lich und hob die Schultern. �Ich hielt ihn f�r unzerst�rbar.�


Ich bezweifle, dass Sie unter diesen Umst�nden etwas Besseres zustandegebracht h�tten.


Moon dr�ckte die Waffe fester gegen meine Stirn und schien kurz davor, den Abzug zu bet�tigen, als er von einer wohlbekannten Stimme aufgehalten wurde.

�Sie m�ssen Edward Moon sein.�

�Was wollen Sie?�

�Mein Name ist Thomas Cribb.� Mir wurde klar, dass der h�ssliche Mensch hinter mir stand und den Detektiv ansah. �Ich w�rde Ihnen ja gern die Hand reichen, aber Sie haben gerade keine frei.�

�Wie?�

�Sie sind im Begriff, einen gro�en Fehler zu machen�, sagte Cribb.

�Ich dachte, Sie h�tten sich Love angeschlossen.�

�Ich? Nun, m�glicherweise tue ich das noch. Aber das geschieht erst morgen.�

�Sagen Sie mir einen guten Grund, warum ich ihn nicht erschie�en soll!�

�Nur diesen.� Ich konnte h�ren, dass Cribb es mit einem L�cheln sagte. �Sie tun es nicht. Ich habe die Zukunft gesehen, und Reverend Doktor Tan schmachtet in einer Gef�ngniszelle.�

Aus dem Augenwinkel sah ich Polizisten und den Inspektor n�herkommen, doch dann hielten sie inne und warteten offenbar ab, wie sich die Situation entwickeln w�rde. Vermutlich habe ich kein Recht, �rgerlich zu sein, aber ich finde, es w�re ihre Pflicht gewesen, mich zu retten, und nicht dazustehen und auf meine Ermordung zu lauern.

�Stirbt er?�, fragte Moon mit – das muss ich anmerken – entbehrlich blutd�rstigem Unterton. �Wird er hingerichtet?�

�Man wird ihn nicht h�ngen�, sagte Cribb.

�Also keine Gerechtigkeit?�

�Eines kann ich Ihnen versprechen: Er wird sattsam bestraft. Er leidet. Bitte, legen Sie die Waffe weg.�

Eine Sekunde lang sah es ganz so aus, als w�rde Moon sein Vorhaben doch noch zu Ende f�hren.

�Bitte!�, wiederholte Cribb. Moon schien nachzugeben und schickte sich an, den Revolver in seine Jackentasche zu stecken. Doch im letzten Augenblick hob er die Waffe wieder und richtete sie auf mein Gesicht.

�Nein!�, schrie Cribb.

Moon erschrak, zuckte zusammen und bet�tigte den Abzug. Die Kugel ging jedoch vorbei, verfehlte mich (obwohl ich vermeine, gesp�rt zu haben, wie sie meine Wange streifte) und traf stattdessen den h�sslichen Menschen hinter mir. Sie konnte nicht viel Schaden angerichtet haben, dennoch lie� er sich zu Boden fallen, wimmerte in der Hoffnung auf Mitgef�hl und umklammerte seine linke Hand.

Endlich kam die Polizei (keinen Moment zu fr�h). Ich wurde grob hochgerissen, und man legte mir Handschellen an – ohne R�cksichtnahme darauf, dass sie scheuerten. Ich wurde weggef�hrt, und Moon sagte kein Wort.

Doch nachdem ich einige Schritte zur�ckgelegt hatte, h�rte ich ihn etwas rufen. Cribbs Namen vielleicht? Es konnte sein, aber ich habe stets eine seltsame Gewissheit versp�rt, dass sein Ruf sich auf jemand anderen bezog. �Der Schlafwandler ist tot!�, rief er, und dann, leiser: �Der Schlafwandler ist tot.�


ZWANZIG

Es geschieht jeden Morgen im Untergrund der Stadt. Sehr wahrscheinlich haben Sie es selbst bereits bemerkt.

In der Hauptverkehrszeit, wenn sich all diese in den Vorortez�gen eingekeilten Pendler in der Station Monument aus den Z�gen k�mpfen – jeder einzelne von ihnen in Nadelstreifen und Melone, bereit, sich in die gnadenlose Tretm�hle seines neuen Arbeitstags zu begeben –, werden sie Zeuge einer ganz besonderen Erscheinung.

Schei�e. Der �berw�ltigende Gestank danach raubt einem den Atem. Aus verl�sslicher Quelle h�re ich, dass sich manch eine Nase vor Ekel kraust, sich manch eine Nummer der Times zu einem behelfsm��igen F�cher faltet, und manch ein Taschentuch taktvoll gegen ein Gesicht presst. Die Passagiere sind jedoch so gew�hnt an die �chzenden, sch�bigen Z�ge der Stadt, dass sie diese Unzumutbarkeit kommentarlos hinnehmen und mit zusammengebissenen Z�hnen gleichm�tig ihren Weg fortsetzen. Ich habe keine Ahnung, wie es zu diesem Geruchsph�nomen kommt, doch ich nehme an, es h�ngt mit der unseligen N�he der Bahntunnel zum Kanalnetz zusammen.

Ich halte diesen Umstand f�r h�chst bedeutungsvoll, denn er scheint mir zu zeigen, dass uns London in solchen Augenblicken sein wahres Selbst offenbart – seine kloakenhafte Natur, den Totensch�del unter seiner Haut. Ich glaube, das soll eine Warnung sein, ein Vorwurf, eine R�ge.

Denn wie anders k�nnte das alles sein, w�re uns Erfolg beschieden gewesen! Klatschmohn und G�nsebl�mchen w�rden wachsen, wo Banken und B�roh�user stehen; das verkommene London in seinem jetzigen Zustand w�re zu Staub und Asche zerfallen, und an seiner Stelle w�rde ein Staatswesen namens Pantisokratie bl�hen und gedeihen. Ein Traum, sagen Sie? Ein kindisches Hirngespinst? Vielleicht.


Zweieinhalb Stunden nachdem Hawkers sengender H�ndedruck ihm eine Ohnmacht beschert hatte, schlug Mister Dedlock die Augen auf und stemmte sich benommen hoch. Gl�cklicherweise war er aus seiner Bet�ubung ohne offensichtliche Nachwirkungen erwacht, wenn man von einem pochenden Kopfschmerz absah – nicht schlimmer als an zahllosen Morgen nach einem allzu tiefen abendlichen Blick ins Glas.

Rund um ihn waren alle Br�nde gel�scht worden, die Toten hatte man weggeschafft und die Wunden der Gehf�higen verbunden – alles war ges�ubert, geputzt und aufger�umt. In einem Tag w�rde das jetzige Schlachtfeld wieder in seinem gewohnten Zustand sein, und die B�rger w�rden sich bem�hen, so zu tun, als w�re dort eigentlich gar nichts passiert. Es war, als h�tten die �berlebenden der Schlacht von Hastings nachher einfach die Tr�mmer weggekehrt, die Gefallenen fortger�umt und gehofft, alles w�rde morgen wieder seinen normalen Gang gehen. Was f�r ein engstirniges Verhalten! London war nur um Haaresbreite seiner v�lligen Zerst�rung entgangen, und seine Bewohner hatten sich aufgef�hrt wie Kinder im Dunkeln: Sie hatten sich die Augen zugehalten und gehofft, es w�rde gleich wieder hell. Die Kirche des Sommerk�nigreichs hatte ihnen Erl�sung angeboten, aber sie begn�gten sich damit, weiterzuleben wie bisher – in Unwissenheit, Laster und S�nde.

Selbstverst�ndlich ging Dedlock keiner dieser Gedanken durch den Kopf, als er sich beif�llig umsah. Nein, er versp�rte blo� Erleichterung, dass der Zwischenfall vorbei war, und dass er ihn unbeschadet �berlebt hatte. Ein wenig verlegen r�usperte er sich, schritt hin�ber zur erstbesten Gruppe von Schutzm�nnern und fing an, barsche Befehle auszuteilen.

Aber Dedlock hatte sich ver�ndert. Erst Stunden sp�ter, als er nach Hause gekommen war und sich f�rs Zubettgehen zurechtmachte, fiel sein Blick in einen Spiegel. Und da erkannte er zum ersten Mal, was die Pr�fekten tats�chlich mit ihm angestellt hatten – erkannte er die ganze T�cke ihres versprochenen Geschenks.

Die Narben auf seiner Brust waren nicht mehr vorhanden, ebensowenig wie die in seinem Gesicht – diese milchwei�en Furchen, die sich zuvor so eindrucksvoll kreuz und quer �ber seinen ganzen K�rper gezogen hatten: Sie alle waren verschwunden, so m�helos weggewischt wie die Kreideschrift des Schlafwandlers von seiner Tafel. Dedlock betrachtete seine unversehrte und nunmehr glatte Brust und war angewidert von dem, was er da sah – so allt�glich, so billig, so unertr�glich nichtssagend.

Pl�tzlich raubte ihm der Anblick den Atem. Er riss sich den Rest seiner Kleider vom Leib, lie� sich aufs Bett fallen und tat etwas, das er seit fast zwanzig Jahren nicht mehr getan hatte.

Am Morgen, als er sich im Klub der �berlebenden einfand, um sein Abschiedsgesuch einzureichen, waren seine Augen immer noch rot und geschwollen vom Weinen.


Ja, die Pr�fekten wussten genau, was sie taten. Doch verglichen mit dem Albino kam Dedlock glimpflich davon.


Ich bin mir nicht sicher, inwieweit ich es fertigbringe, Ihnen zu berichten, was Mister Skimpole widerfuhr. Wo soll ich beginnen? An welchem Punkt dieses langsamen und erniedrigenden Todes? Bei der endlosen, qualvollen Fahrt zur�ck nach Wimbledon? Bei dem Moment, als er aus der Mietsdroschke geworfen wurde, nachdem er eine leimartige rote Masse auf die Sitze erbrochen hatte? Als er darauf hinunterblickte und sich fragte, ob irgendetwas in diesem �belriechenden Schleim nicht die letzten Reste seiner Magenw�nde waren?

Nein, das alles erspare ich Ihnen. Ich denke, wir fangen dort an, wo der Mann zu Hause ankam, sich zum letzten Mal mit Schl�ssel und Schloss abm�hte, w�hrend das Dr�hnen des Schmerzes in seinem Kopf selbst den L�rm �berdeckte, den seine lauten Nachbarn machten. Um sich zu st�tzen, lehnte er sich einen Augenblick lang an die T�r, dann betrat er halb wankend, halb stolpernd das Haus und kr�chzte den Namen seines Sohnes.

Nat�rlich bekam er keine Antwort, und Skimpole schwankte weiter, entschlossen, bei seinem einzigen Kind zu sein, wenn der Tod sein Recht einforderte. Blutend aus einem Dutzend verschiedener K�rperstellen und nach Erbrochenem stinkend, torkelte er in die K�che und wimmerte nach seinem Sohn.

In diesem Moment sah er ihn. Oder, besser gesagt, das, was von ihm �brig war.

Selbst ich (der wohl kaum als zimperlich zu bezeichnen ist) kann es kaum ertragen, das Bild zu beschreiben, das sich Skimpole bot. Zweifellos haben Sie schon eine recht gute Vorstellung davon – Sie werden zu diesem Zeitpunkt bereits erraten haben, welche Art von �Geb�hr� den Pr�fekten vorschwebte.

Der kleine Skimpole lag ausgestreckt auf dem R�cken, bleich und kalt, einen erbarmungsw�rdigen Ausdruck von t�dlichem Entsetzen auf dem Gesicht. Haut und Kleider waren dunkelrot, und jeder Knochen in seinem K�rper war gebrochen. Man hatte ihn mit seinen eigenen Kr�cken zu Tode gepr�gelt.

Stumpf und teilnahmslos fragte sich Skimpole, ob sich die beiden dabei wohl abgewechselt hatten.

Zu schwach, um Wut und Schmerz hinauszuschreien, zu ersch�pft, um zu weinen, fiel der Albino auf die Knie und auf sein zerschmettertes Kind. Mit letzter noch verbliebener Kraft griff er nach der blutignassen Hand seines toten Sohnes, dr�ckte sie fest und wartete geduldig auf das Ende.


Was die M�rder angeht – kein Schutzmann wird sie je ergreifen, kein Gericht sich mit ihren zahllosen Verbrechen besch�ftigen.

Nach ihrem Verschwinden wurde eine halbherzige Jagd nach ihnen veranstaltet, bei der nichts herauskam, und so wurde die ganze Sache rasch fallengelassen. Offen gesagt, ich bezweifle, dass irgendjemand sie wirklich finden wollte.

Soviel ich wei�, sind die Pr�fekten danach noch zweimal in Erscheinung getreten, obwohl ich sicher bin, dass sie in weiteren Berichten, die ich bislang noch nicht kenne, vorkommen – in den finsteren Winkeln anderer Geschichten, einigen sehr alten, solchen, die noch gar nicht erz�hlt sind, und anderen, die m�glicherweise noch sonderbarer sind als diese hier.

Vor zw�lf Jahren haben Zeugen einer Greueltat, die unter dem Schutz und Schirm der neuen russischen Regierung begangen wurde, behauptet, zwei M�nner in der Kleidung englischer Schuljungen gesehen zu haben, die in dem Massaker die Hauptrolle spielten. Nat�rlich glaubte ihnen kein Mensch, aber diejenigen von uns, die sich an jenem Tage unter dem Monument befunden hatten, erkannten auf den ersten Blick die Handschrift von Mister Hawker und Mister Boon.

Zum zweiten Mal tauchten sie erst k�rzlich auf – bei einem entsetzlichen Blutbad in Neuseeland. Ich las einen Zeitungsbericht �ber die Sache, illustriert von einer verwackelten Fotografie, die unmittelbar nach den Geschehnissen aufgenommen wurde. Vermutlich war es pure Einbildung, aber ich h�tte schw�ren k�nnen, Hawker am Rande des Bildes zu sehen – verschwommen und schwer zu erkennen; aber mir schien, als w�rde er hoch erfreut �ber sein Werk grinsen, �ber den Tod und die Zerst�rung, die er angerichtet hatte. Bedauerlicherweise bin ich au�erstande, dies zu belegen, weil mir die Zeitung nach kaum einer Stunde wieder entzogen wurde. Man ist hier �beraus streng, was Lesematerial betrifft.

Es versteht sich von selbst, dass ungeachtet all der Jahre, die seit der Schlacht an der Station King William Street vergangen waren, dieser Hawker auf der Fotografie um keinen Tag gealtert schien – so als w�re er in der Zeit erstarrt wie eine Fliege im Bernstein.

Sollte Ihnen je das uns�gliche Missgeschick widerfahren, diesen Kreaturen �ber den Weg zu laufen, so muss ich Ihnen wohl kaum ausdr�cklich ans Herz legen, sich vor ihrem L�gengeschw�tz die Ohren zuzuhalten und wie verr�ckt um Ihr Leben zu rennen.


Mir ist ein pittoresker Tod wie jener Mister Skimpoles nicht verg�nnt. Ich unterliege einer weitaus l�ngeren und in gewissem Sinne grausameren Vollstreckung des Todesurteils. Eine Zeit lang war davon die Rede, mich wegen Landesverrats zu h�ngen (ich glaube, Inspektor Merryweather erhob seine Stimme besonders laut in dieser Richtung), aber es gelang mir unter gr��ten Anstrengungen, diejenigen, die mich gefangen genommen hatten, zu �berlisten. Nach einigem etwas entw�rdigendem Schauspielern meinerseits wurde ich hierher gebracht, in ein Asyl, in dem der vermeintliche geistige Zustand der Insassen auch mich der blutigen Hemmungslosigkeit des Staates entzieht.

An einem Ort wie diesem ist Zeit bekanntlich schwer zu beurteilen, und so sind Tag und Nacht einzig an der ver�nderten Ausgabe von Essen und Trinken zu unterscheiden. Gleich nach meinem Eintreffen hier wurde ich allein weggesperrt – f�r wie lange? Tage? Wochen? Selbst heute wei� ich es nicht.

Es zeugt von meiner enormen Widerstandskraft, dass ich selbst einer solchen Einzelhaft gewachsen war, ohne unter der Belastung geistig zusammenzubrechen. Tats�chlich ging ich sogar gest�rkt – wenngleich zugegebenerma�en ziemlich einsam – daraus hervor. Ich bin von geselligem Wesen, und es fiel mir auf, dass mir die W�rme des menschlichen Umgangs und der Kameradschaft fehlte – der Klang einer Stimme, die nicht von mir stammte. So wurde mir in der Folge unter strengen Auflagen gestattet, Besuch zu empfangen.


Ich gestehe, es �berraschte mich einigerma�en, dass er �berhaupt kam.


�Thomas Cribb�, sagte er und streckte seine linke Hand (ohne Verband und mit f�nf Fingern) �ber den Tisch. Einer der W�rter beobachtete uns mit verschr�nkten fleischigen Armen und geh�ssiger Miene von der anderen Seite des Raums aus.

�Wir haben uns schon kennengelernt�, sagte ich.

Etwas wie ein L�cheln huschte �ber sein Gesicht. �Das kommt mir auch so vor.�

Ich hatte nie zuvor Gelegenheit gehabt, den Mann aus der N�he zu betrachten, und kann nicht deutlich genug unterstreichen, wie erstaunlich auffallend seine H�sslichkeit war, wie unleugbar absto�end.

�Was wollen Sie?�, fragte ich.

�Ich m�chte Ihnen ein Versprechen geben.�

Ich bemerkte, dass er eine Zeitung mitgebracht hatte, und konnte einen Blick auf die Schlagzeile werfen – ein Bericht, wie mir schien, �ber j�ngst stattgefundene Vorf�lle unter dem Monument. Ich sah meinen eigenen Namen und darunter ein geradezu beleidigendes Portr�t meiner Person.

Cribb beugte sich �ber den Tisch zu mir. Die Bewegung war dem W�rter nicht entgangen, und er griff instinktiv nach dem Kn�ppel, der an seinem G�rtel hing.

Der h�ssliche Mensch durchbohrte mich mit seinem Blick. �Ich lege keinen Wert auf eine Bedrohung meiner Stadt�, sagte er.

Ihre Stadt?�

�Ich verspreche Ihnen, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um Ihnen Einhalt zu gebieten. Ich helfe diesem …� Er warf einen kurzen Blick auf die Zeitung, wie um eine nebens�chliche Einzelheit zu pr�fen, �… diesem Edward Moon. Ich werde ihm zeigen, wie er Ihnen einen Strich durch die Rechnung machen kann.�

Ich g�hnte. �Tut mir leid. Ich kann Ihnen nicht folgen.�

�Ich werde ihn f�hren. Und ihn benutzen, um sicherzustellen, dass Sie keinen Erfolg haben.�

Ich grinste dem W�rter zu. �Vielleicht sollte dieser Mann auch hier bei uns zu Hause sein�, witzelte ich und stellte zufrieden fest, dass der Mann als Antwort darauf feixte.

Ich habe mir ein gutes Verh�ltnis zu den W�rtern aufgebaut, und ich glaube, sie finden Gefallen an mir; au�erdem bin ich sicher, etliche von ihnen wissen, dass ich in Wahrheit nicht hierher geh�re (doch sollten sie das laut aussprechen, w�rden sie vermutlich ihren Posten verlieren).

Mein Besucher erhob sich. �Nebenbei gesagt�, warf er mir noch hin, �Sie finden nicht Eingang in die Geschichte.�

Ich lie� mich nicht dazu herab, auf diese letzte kindische Stichelei zu antworten, und Thomas Cribb ging schweigend davon.

R�ckblickend betrachtet h�tte ich wohl mehr sagen sollen, h�tte ihn zum Weiterreden ermuntern sollen, um mehr �ber seine Behauptungen herauszufinden. Doch wie die Dinge lagen, sah ich ihn nie wieder.

Ehrlich gesagt empfinde ich dies nicht als gro�en Verlust. Der Mann hatte stets etwas verdammt Selbstgef�lliges an sich.


Eine Woche verging, ehe ich meinen zweiten Besucher empfing (ich sage ›eine Woche‹, es k�nnten nat�rlich ebensogut zwei Wochen oder ein Monat gewesen sein). Sie werden es merkw�rdig finden, und mich hat es damals genauso �berrascht, doch selbst nach allem, was er mir angetan hat, war ich tats�chlich irgendwie erfreut, ihn zu sehen.

�Edward!�, sagte ich.

F�r einen Mann, der so viel mitgemacht hatte, sah er gut aus; ein bisschen �lter vielleicht und grauer. Etwas von seinem gro�spurigen Auftreten und seiner Eitelkeit hatte er abgelegt, und seine arrogante Selbstsicherheit war hinreichend durchl�chert. Alles in allem hielt ich es f�r eine Verbesserung.

Wir sa�en uns eine Weile schweigend gegen�ber.

�Weshalb sind Sie gekommen?�, fragte ich schlie�lich.

�Ich muss Sie etwas fragen.�

�Was immer Sie wollen�, sagte ich, vielleicht eine Spur �bereifrig.

�Ich muss wissen, warum.�


Zu meiner – und ich nehme an, zu unserer – �berraschung wurden seine Besuche fester Bestandteil meines Lebens.

Wir zogen beide einen beachtlichen Vorteil aus diesen Begegnungen, denke ich. Ich gab mir gr��te M�he, ihm einen Einblick in all das zu verschaffen, was ich hatte erreichen wollen (obwohl es mir selbstredend nie gelungen ist, ihn zu bekehren), und er brachte mir Neuigkeiten von der Au�enwelt, �ber alles, was geschah, nachdem ich in Ketten abgef�hrt worden war. Gemeinsam waren wir in der Lage, eine vollst�ndige �bersicht der Ereignisse zusammenzustellen, eine l�ckenlose Schilderung all dessen, was in den Monaten vorgefallen war, die zur Schlacht an der King‐William‐Street‐Station gef�hrt hatten.

Der Leichnam des Schlafwandlers wurde noch nicht gefunden. Eine innere Gewissheit, wohl seinem Kummer entsprungen, sagte Edward, dass der Riese immer noch am Leben ist, dass er irgendwo im Untergrund schl�ft und wie Arthur auf die Stunde der Not dieser Stadt wartet. Es mag Sie interessieren, dass Moon, als ich ihn zum letzten Mal sah, auf eine verr�ckte Idee gekommen war, was die Person seines Freundes betraf. Er zeigte mir eine Postkarte, auf der die beiden riesigen Steinstatuen abgebildet waren, die das Londoner Rathaus bewachen – Gog und Magog, wie Cribb ganz richtig bemerkt hatte –, und schwor Stein und Bein, dass er in ihren Gesichtsz�gen etwas von jenen des Schlafwandlers erkannte. Ich pers�nlich konnte keinerlei �hnlichkeiten entdecken.

Moon gab den Tod seines Gef�hrten �ffentlich bekannt, und es fand sogar ein Begr�bnis statt, wobei es nur sp�rlich besucht war und man mich nicht dazu eingeladen hatte. Der Inspektor war dort, zusammen mit Charlotte, Mrs Grossmith, ein paar G�nnern und den �blichen M��igg�ngern. Man verwendete einen leeren Sarg (angefertigt nach Gr��enangaben, die denen des H�nen entsprachen), und Moon lie� ihn beisetzen – ironischerweise auf dem Friedhof von Highgate, nur wenige Schritte von einem anderen, ber�hmteren, jedoch ebenso leeren Grab entfernt.

Edward brachte mir aber auch begl�ckendere Nachrichten. Die Kirche des Sommerk�nigreichs lebt weiter; das Licht der Pantisokratie ist noch nicht erloschen: Vor einiger Zeit �berquerte eine kleine Gruppe von Gl�ubigen – sechs M�nner, sechs Frauen – den Atlantik mit dem Vorhaben, an den Ufern des Susquehanna eine Gemeinde zu gr�nden, so wie es der alte Mann geplant hatte. Sie haben meinen Segen und meine Gebete – oder h�tten beides, wenn sie darum ersucht h�tten. Vielleicht konnten Sie in der Tagespresse lesen, dass diese Pilger nichts mehr von mir und meinen Methoden wissen wollen – nat�rlich durchaus zu begreifen, unter diesen Umst�nden. Doch ich w�rde l�gen, wenn ich sagte, dass eine solche Treulosigkeit nicht schmerzt.

Edward teilt meine Gef�hle nicht. Er h�lt das Unternehmen f�r eine Torheit, die nur verh�ngnisvoll enden kann. Und er hat gute pers�nliche Gr�nde f�r sein Missfallen – denn Sie m�ssen wissen, es war seine eigene Schwester, meine liebe Charlotte, einstmals Love, die die ganze Sache geplant und geregelt hat.

Edward glaubte immer, dass die Bekehrung seiner Schwester nur eine vor�bergehende Entgleisung gewesen w�re – ein Irrweg, auf den sie nur die au�ergew�hnlich �berzeugende Anwerbungsmethode von Love, Love, Love und Love gebracht h�tte. Doch wie sich schlie�lich zeigen sollte, ist ihre Wandlung etwas Dauerhaftes und nicht Umkehrbares. Sie ist und bleibt meine unersch�tterlichste J�ngerin. Doch ist es nicht kurios, dass h�ufig aus den z�hesten Skeptikern und b�sesten Sp�ttern die gr��ten Eiferer werden?

Aber Moon hat noch weitere Gr�nde, um �ber die Abtr�nnigkeit seiner Schwester betr�bt zu sein. Sie hat die arme Mrs Grossmith mitgenommen! Ihres Br�utigams beraubt und auf h�ssliche Art und Weise mit seinem sch�ndlichen Doppelspiel konfrontiert, beschloss Moons Haush�lterin, sich auf Gedeih und Verderb mit den neuen Pantisokraten zusammenzutun. Ich frage mich, von welchem Nutzen sie ihnen sein kann: Sie ist weit �ber das geb�rf�hige Alter hinaus und weder als Dichterin noch als Farmersfrau zu gebrauchen. Vielleicht kann sie die K�che organisieren oder sich mit leichten Reinigungsaufgaben besch�ftigen.

Es ist mir ein Quell der Sorge, dass ich seit ihrer Abreise nichts mehr von den Pantisokraten geh�rt oder gelesen habe. Vergeblich habe ich die Zeitungen durchsucht und die W�rter und �rzte gebeten, auf jedes entsprechende Ger�cht zu achten, das ihnen in der Welt drau�en zu Ohren kommt, aber bisher hat es den Anschein, als w�ren meine J�nger verschwunden. Schade. Ich h�tte sehr gern erfahren, wie schlie�lich alles ausgegangen ist.

Als ich Edward Moon zum letzten Mal sah, hatte er sich just an jenem Morgen von ihnen allen verabschiedet und war, gleich nachdem er ihnen vom Kai aus nachgewunken hatte, stehenden Fu�es zu mir gekommen. Ich fragte ihn, ob Charlotte mich erw�hnt hatte, und er verneinte umgehend und nachdr�cklich. Doch etwas an seinem Verhalten, verbunden mit der verd�chtig raschen Antwort, �berzeugte mich, dass er log. Er verriet mir nur, dass es beim Abschied wiederum Tr�nen und gegenseitige Beschuldigungen gegeben hatte. Es war, wenn ich es recht verstanden habe, ein Abschied f�r immer.

Moon er�ffnete mir, dass er vorhatte, auf Reisen zu gehen. Zwischen uns hatte sich in all den Monaten unserer regelm��igen Gespr�che ein gewisser Respekt entwickelt, der uns nunmehr in die Lage versetzte, einander wie zivilisierte Menschen Adieu zu sagen und fast freundschaftlich die H�nde zu sch�tteln. Ich sagte ihm, dass ich plante, eine vollst�ndige Schilderung all dessen, was geschehen war, schriftlich niederzulegen, worauf er antwortete, ich sollte genau das tun, wonach mir der Sinn stand.

Das Letzte, was ich von ihm h�rte, war, dass er sich nach Afrika begeben hatte, wo er ausgedehnte Reisen unternahm und irgendwann so etwas wie einen Bund mit einem bestimmten Stamm von Eingeborenen einging. Soweit mir bekannt ist, m�sste er immer noch dort leben. Was mich wieder an zwei Zeilen des Dichters denken l�sst:

Und nichts mehr h�rte man von ihm, jedoch
Er lebte unter Wilden, bis er schlie�lich starb.


Ich habe jetzt sehr viel Zeit zur Verf�gung. Meine Gastgeber zeigen sich weiterhin entgegenkommend, und so gestattete man mir einen Platz zum Schreiben mit ausreichend Licht, sowie eine begrenzte Menge Kanzleipapier und einen einzigen Bleistift. Leider keine Feder – ich habe schon des �fteren um Tintenfass und Schreibfeder gebeten, doch es gibt hier irgendeine l�cherliche Vorschrift betreffend spitze und scharfe Gegenst�nde. Man h�lt mich nicht ab von meiner Arbeit, obwohl man mir jeden Abend alles zur sicheren Aufbewahrung abnimmt. Ich habe den Eindruck, dass meine erz�hlerischen F�higkeiten zusammen mit dem Fortschreiten der Geschichte gewachsen sind, und bin daher etwas in Sorge, weil die ersten Abschnitte im Vergleich zu sp�teren Kapiteln vermutlich dilettantisch und plump wirken. Ich habe mich wiederholt erkundigt, ob man mir nicht erlauben k�nnte, das vollst�ndige Manuskript zur �berarbeitung oder f�r m�gliche Klarstellungen in die Hand zu bekommen. Doch bislang wurde mir diese Bitte stets abgeschlagen.


Zweifellos k�nnen Sie aus der n�chternen Art und Weise dieses Berichts schlie�en, dass ich kein Mann bin, der zu �berbordender Phantasie neigt. Dennoch beunruhigt mich seit kurzem ein immer wiederkehrender Traum.

Dieser gleicht jedoch nicht den �blichen Tr�umen – kein Wirrwarr von aus gro�er Tiefe hervorgew�hlten Erinnerungsfragmenten und halb vergessenen Gesichtern, kein nichtssagendes Kaleidoskop von unm�glichen Nebeneinanderstellungen oder Widersinnigkeiten. Und auch die Einzelheiten des Traums verblassen am Morgen nicht, um allm�hlich ganz zu verschwinden, sondern alles bleibt mir noch lange nach dem Aufwachen im Ged�chtnis und nimmt mit der Zeit eine solche Dauerhaftigkeit und Dichte an, dass ich mich frage, ob das, was ich gesehen habe, nicht nur die Phantasie des Schlafes ist, sondern ein St�ck Wirklichkeit. Die Wahrheit.

Jedes Mal geschieht dasselbe. Es beginnt tief in einem Wald. Alles Licht, das durch das Bl�tterdach der B�ume dringt, ist von tiefem Gr�n, �ber den K�pfen kreischen fremdartige V�gel, und unsichtbare Gesch�pfe huschen durch den dichten Bewuchs am Boden. Ich sehe zw�lf Menschen – sechs M�nner, sechs Frauen – sich durch den Wald vorank�mpfen. Sie m�ssen sich h�ufig den Weg durchs Unterholz freihacken, doch sind sie wunderbarerweise stets bestrebt, paarweise zu gehen – in Zweierreihen wie Schulkinder bei einem Ausflug in den Tiergarten. Einige von ihnen erkenne ich: Mister Speight, Mrs Grossmith, Mina, die b�rtige Hure. Die liebreizende Charlotte ist auch dabei – mit strahlender Miene, selbst wenn sie schwei��berstr�mt mit Baumwurzeln oder widerspenstigen �sten k�mpft. Ihre nat�rliche Sch�nheit wird von dieser Umgebung nur noch gesteigert und umrahmt.

An der Spitze der Gesellschaft geht ein Mann, den ich anfangs nicht erkenne. Er ist v�llig kahl, und sein Sch�del gl�nzt vom Schwei�, w�hrend er die anderen durch den Wald f�hrt. Vor ein R�tsel gestellt verfolge ich sein Vorankommen eine Weile, bis es mir wie Schuppen von den Augen f�llt, und obwohl ich den Traum schon Dutzende Male gehabt habe, bin ich jedes Mal verbl�fft �ber die Erkenntnis: Es ist der Schlafwandler, jedoch ohne Per�cke und Backenbart – ohne falschen Schein und Verstellung, den Requisiten seines Lebens mit Moon. Seine Haut ist nicht sonnenverbrannt, und wie immer sagt er kein Wort.

Endlich st��t die Gesellschaft am Rande des Waldes auf einen kleinen, wenige Fu� hohen Felsvorsprung. Sie blicken hinab und sehen unter sich den Susquehanna, dessen breites blaues Band sich durch die Landschaft windet und zu beiden Seiten von einem �ppigen, prachtvoll gr�nen Streifen ges�umt wird – unbev�lkert, fruchtbar und der Pantisokratie harrend.

Der Schlafwandler starrt hinab auf dieses St�ckchen Eden und l�chelt. Dann �ffnet er – zu meiner immerw�hrenden �berraschung und Freude – den Mund und spricht. Seine Stimme klingt nicht im Entferntesten so wie erwartet.

�Nun denn�, sagt er, �wo wollen wir beginnen?�


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Von Jonathan Barnes liegen bei Piper vor:
Das Albtraumreich des Edward Moon
Das K�nigshaus der Monster

Ungek�rzte Taschenbuchausgabe
Juli 2009
� Jonathan Barnes 2007
Titel der englischen Originalausgabe:
�The Somnambulist�, Gollancz, Orion Publishing Group,
London 2007
� 2008 Piper Verlag GmbH, M�nchen
Umschlagkonzeption: B�ro Hamburg
Umschlaggestaltung: HildenDesign, M�nchen – www.hildendesign.de
Umschlagabbildung: Christophe Madura, Paris
Satz: Satz f�r Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch im Allg�u
Papier: Munken Print von Arctic Paper Munkedals AB, Schweden
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany ISBN 978‑3‑492‐26693‑2